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Thomas Gelmi

Durchstarten

Was Sie von Flugbegleitern über Führung, Teamwork und Kundenkontakt lernen können

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Für Lisa & Dario

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beide Geschlechter.

Vorwort

Was geht Ihnen beim Wort »Durchstarten« als Erstes durch den Kopf?

Umgangssprachlich wird der Begriff assoziiert mit loslegen, sich kräftig ins Zeug legen, in Schwung kommen, Erfolg haben. Das ist auch durchaus gemeint, wenn ich in diesem Buch über das Durchstarten in Führung, Teamwork und Kundenkontakt spreche. Gleichzeitig hat der Begriff in der Fliegerei jedoch eine ganz andere Bedeutung: Hier wird als Durchstarten (englisch Go-Around) ein Flugmanöver bezeichnet, bei dem ein Landeanflug nicht mit der Landung abgeschlossen, sondern vorher abgebrochen wird. Die Leistungshebel werden nach vorne geschoben, die Landeklappen werden wieder eingefahren und ein Steigflug wird eingeleitet, um einen zweiten, sicheren Landeanflug zu machen.

Häufigste Gründe für ein Durchstartmanöver sind Unsicherheiten im zuverlässigen Erkennen der Landebahn oder Pistenbefeuerung an der sogenannten Entscheidungshöhe, zum Beispiel infolge schlechten Wetters, starker Scherwinde kurz vor dem Aufsetzen, oder ein voraus gelandetes Flugzeug, das nicht rechtzeitig von der Landebahn wegkommt, um sicher landen zu können.

Auch in diesem Sinne möchte ich Sie mit diesem Buch dazu einladen, ermutigen und hoffentlich inspirieren, neue Perspektiven einzunehmen, bestimmte Dinge künftig etwas anders zu sehen oder zu tun und damit in Ihrer Welt einen positiven Unterschied zu machen. So dass Sie missglückte Landeanflüge in Zukunft nach Möglichkeit vermeiden und stattdessen sicher landen. Denn: »You can’t make a good landing out of a bad approach.« Sei es in der Führung, in der Zusammenarbeit oder im Kundenkontakt.

Dieses Buch erhebt nicht den Anspruch, wissenschaftlich fundiert zu sein. Dafür gibt es genügend andere Autoren. Es beruht auch nicht auf umfassenden Studien, akademischen Untersuchungen oder Erhebungen. Auch davon gibt es bereits genug und auf einige davon nehme ich auch Bezug. Das vorliegende Buch beruht vor allem auf meinen persönlichen Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Menschen und im Umgang mit mir selbst. Nicht dass ich glaube, der Weisheit letzten Schluss gefunden zu haben – alles andere als das. Ich bin, wie wir alle, auf einer Reise. Auf einer Reise, die letztendlich zu mir selbst führt. Denn das Schöne am älter werden, ist ja bekanntlich, dass man sich selbst immer ähnlicher wird.

Ebenso wenig erfinde ich in diesem Buch das Rad neu oder werde Sie mit bahnbrechenden Innovationen begeistern. Das Meiste, was Sie hier lesen, könnte man wohl sogar gesunden Menschenverstand nennen. Und das führt mich letztendlich zum Hauptgrund dafür, weshalb ich dieses Buch schreibe: In all den Jahren, in denen ich bisher in den verschiedensten Rollen und Funktionen mit Menschen zu tun hatte, habe ich genau das immer und immer wieder vermisst: Menschlichkeit und gesunden Menschenverstand. Nicht, dass die Absicht nicht da wäre – doch stehen wir uns selbst mit unserem Ego viel zu oft im Weg und damit im Nebel der Unbewusstheit, was es nicht einfacher macht.

Viele Probleme, denen wir heute in Unternehmen begegnen, sind meines Erachtens zurückzuführen auf einen Mangel an echtem, authentischem und menschlichem Kontakt. Auf einen Mangel an Empathie, Integration, Verständnis und Lösungsorientierung. Stattdessen erleben wir gefühlskaltes, trennendes und egozentrisches Verhalten, unkontrollierte Wutausbrüche, Sarkasmus und Ironie. Und nicht zuletzt, was häufig die Wurzel allen Übels ist: den Kampf darum, wer Recht hat. So gibt es oft Gewinner, aber eben auch viele Verlierer. Unsere Welt – und damit meine ich insbesondere die Geschäftswelt – befindet sich meines Erachtens in vielerlei Hinsicht in einem Ungleichgewicht.

Der Weg zu mehr Gleichgewicht führt zunächst einmal zu uns selbst. Wenn wir unser Verhältnis zu uns selbst in Ordnung bringen, erledigt sich vieles andere von allein. Dafür braucht es die Bereitschaft, es zumindest für möglich zu halten, dass nicht die anderen schuld sind. Dass wir nicht warten können, bis sich die Umstände ändern, bis andere sich endlich anders verhalten, vielleicht sogar von selbst ihre Fehler einsehen. Und es braucht den Mut, bei sich selbst genauer hinzusehen, sich auf den Weg zu machen und sich selbst wirklich kennenzulernen. Mit allem, was dazu gehört. »In der Natur gibt es nichts, was nicht von innen nach außen wächst«, sagt ein indianisches Sprichwort. Und so geht auch die Reise zu mehr Erfolg in beruflichen und persönlichen Beziehungen zuerst nach innen und beginnt bei uns selbst.

Zu den Teilnehmern meiner Seminare sage ich oft: »Sie sind Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Nehmen Sie deshalb bitte die Teile, die Sie weiterbringen und die für Sie hilfreich sind, und lassen Sie alles andere einfach da.« Genauso wünsche ich mir, dass Sie an dieses Buch herangehen. Nehmen Sie daraus das mit, was für Sie nützlich, hilfreich und sinnvoll ist.

Dazu eine kurze Geschichte: Ein Professor wanderte weit in die Berge, um einen berühmten Zen-Mönch zu besuchen. Als der Professor ihn gefunden hatte, stellte er sich höflich vor, nannte alle seine akademischen Titel und bat um Belehrung. »Möchten Sie Tee?«, fragte der Mönch. »Ja, gern«, sagte der Professor. Der alte Mönch schenkte Tee ein. Die Tasse war voll, aber der Mönch schenkte weiter ein, bis der Tee überfloss und über den Tisch auf den Boden tropfte. »Genug!«, rief der Professor. »Sehen Sie nicht, dass die Tasse schon voll ist? Es geht nichts mehr hinein.« Der Mönch antwortete: »Genau wie diese Tasse sind auch Sie voll von Ihrem Wissen und Ihren Vorurteilen. Um Neues zu lernen, müssen Sie erst Ihre Tasse leeren.«

Deshalb lade ich Sie ein, auch Ihre Tasse zu leeren und mit einer offenen Haltung gemeinsam mit mir auf die Reise zu gehen. Gerne begleite ich Sie dabei ein Stück des Weges, als Ihr persönlicher Flugbegleiter. Steigen Sie ein und nehmen Sie Platz. Schnallen Sie sich für den Start bitte an und stellen Sie sicher, dass Ihre Rückenlehne aufrecht und der Tisch vor Ihnen hochgeklappt sind. Ich freue mich, dass Sie an Bord sind und wünsche Ihnen eine spannende und erkenntnisreiche Reise.

In diesem Sinne: Guten Flug und »Happy Landing«!

Check-in

Bevor ich meine Berufung gefunden habe, probierte ich erst ein paar andere Dinge aus und habe deshalb heute ziemlich bunte Meilensteine in meiner Biografie stehen. Einer dieser Meilensteine bildet zusammen mit meinen Erfahrungen der letzten 15 Jahre den roten Faden für dieses Buch: Meine Zeit bei Swissair, der ehemaligen Schweizer Luftfahrtgesellschaft. Während insgesamt sieben Jahren arbeitete ich für Swissair. Von 1994 bis ins Jahr 2001, als die gesamte Flotte nach dem Grounding am Boden stand und aus den Überresten der Swissair und der damaligen Crossair die Swiss International Airlines gegründet wurde, die heute zum Lufthansa-Konzern gehört.

Bei Swissair war ich als Maître de Cabine unterwegs, bei anderen Airlines auch Purser, oder auch Inflight Manager genannt. Als M/C – so lautete die Kurzform – war ich zusammen mit meinen Crews verantwortlich für die Passagiersicherheit, sowie für eine herausragende Servicequalität in allen Klassen an Bord. Dabei war ich auf dem ganzen internationalen Streckennetz unterwegs, von L.A. bis Tokyo und von Oslo bis Kapstadt. Ich führte buntgemischte Besatzungen mit hoher Diversität, sowohl kulturell, als auch in Bezug auf Alter und beruflichem Hintergrund. Wir waren wirklich ein bunter Haufen und obwohl wir zuletzt rund 3500 Flight Attendants waren, fühlten wir uns wie in einer großen Familie.

Eine noch höhere Diversität erlebte ich mit unseren Passagieren, die sprichwörtlich aus der ganzen Welt kamen. In dieser Zeit lernte ich viele spannende Persönlichkeiten kennen und habe so sehr viel über die Menschen gelernt. Aus diesen Erfahrungen schöpfe ich auch heute noch, besonders für meine berufliche Tätigkeit.

Ich gehe davon aus, dass Sie schon einmal in einem Flugzeug gesessen haben und die Situation kennen: Sie sitzen auf rund 10000 Metern Flughöhe mit – je nach Flugzeugtyp – einigen wenigen bis über 800 anderen Menschen. Auf engstem Raum. In einer eigentlich sehr unnatürlichen Situation, welche die meisten Menschen in der einen oder anderen Form als Stress erleben: In Anbetracht der teils engen Platzverhältnisse, der Tatsache, dass man außerhalb des Flugzeugs keine Überlebenschance hätte sowie allfällig auftretenden Turbulenzen, kann manchmal schon den Charakter einer bedrohlichen Ausnahmesituation entstehen. Viele Menschen haben an Bord eines Flugzeugs zudem das Gefühl, »ausgeliefert« zu sein. Das heißt, es ist eine gewisse Anspannung da, die sich von Mensch zu Mensch ganz unterschiedlich äußert: Der eine redet viel, der andere trinkt viel und wieder andere werden ganz still oder sehr fordernd.

Diese mit Menschen vollgepackte, fliegende Röhre ist eigentlich wie eine kleine Firma, mit allem was dazu gehört: Es gibt direkten Kundenkontakt, es gibt Teams, die in unterschiedlichen Funktionen und über verschiedene Abteilungen zusammenarbeiten und es wird auf unterschiedlichen Ebenen geführt. Die Kabinenbesatzung hat in diesem System eine Doppelrolle: einerseits das Gewährleisten der Passagiersicherheit an Bord und andererseits die Passagierbetreuung im Sinne einer Serviceleistung. Und obwohl in der Wahrnehmung der meisten Passagiere die Servicerolle im Vordergrund steht, so hat die Sicherstellung der Passagiersicherheit die höhere Priorität. Mehr noch: Sie ist der eigentliche Grund, weshalb es überhaupt Flight Attendants an Bord gibt. Die Luftfahrtbehörden schreiben eine Minimum-Crew vor, die abhängig ist von der Anzahl der Türen und Notausgänge sowie der Anzahl der Passagiere. So muss beispielsweise gewährleistet sein, dass ein voll besetztes Flugzeug jederzeit innerhalb von 90 Sekunden mit nur der Hälfte der verfügbaren Notausgänge vollständig evakuiert werden kann.

Und so stellt dieser häufig unterschätzte Beruf große Herausforderungen an die Selbst- und Beziehungskompetenz der Crewmitglieder. Besonders der Begriff »Unruly Passenger« war leider in den letzten Jahren meiner Tätigkeit bei Swissair immer häufiger gefallen: Ein Passagier galt als unruly, wenn er die Anweisungen der Kabinenbesatzung wiederholt missachtete, das Personal beleidigte oder sich weigerte, die Vorschriften zu befolgen. Knapp die Hälfte aller Fälle ging auf das Konto von Alkohol- und Tabakkonsum – trotz Rauchverbot an Bord. Da kam es auch schon mal zu Pöbeleien und Angriffen auf die Kabinenbesatzung. Die internationale Passagiervereinigung (IAPA) sprach schon 2001, als ich Swissair verließ, von jährlich 50000 weltweiten Vorfällen. Alleine in diesem Jahr hatten sich an Bord von Swissair-Flugzeugen 572 Zwischenfälle mit Unruly Passengers ereignet, was einer Verdoppelung gegenüber 1996 entsprach – dem Jahr, in dem man begonnen hatte, ungebührliches Verhalten von Fluggästen statistisch zu erfassen.

In diesem besonderen Umfeld galt es, Probleme vorauszuerkennen – sowohl technischer als auch zwischenmenschlicher Art. Schwierigkeiten zu antizipieren und rechtzeitig zu deeskalieren. Es galt im übertragenen Sinne, möglichst viel pro-aktiven Brandschutz zu betreiben, um möglichst wenig reaktiv Feuer löschen zu müssen. Wenn Probleme tatsächlich auftraten, galt es, diese zu lösen – und zwar schnell. Ohne in der Lage zu sein, Hilfe von außen zu holen. Und unter Erhalt der Beziehung, denn jede Form der Eskalation hätte schnell außer Kontrolle geraten können.

Mehr Menschlichkeit

Heute beschäftige ich mich mit den Herausforderungen, die Führungskräfte und Mitarbeiter in anderen Unternehmen zu bewältigen haben. Für viele dieser Unternehmen ist die Situation in den letzten Jahren immer volatiler, unsicherer, komplexer und unberechenbarer geworden. Dazu kommt, dass ein großer Teil der Arbeitszeit von Führungskräften und Mitarbeitern in Unternehmen für die Bewältigung von Konflikten und deren Folgen in Anspruch genommen wird. Unkooperatives Verhalten und eskalierte Konflikte belasten Unternehmen jährlich mit Unsummen und potenzielle Gewinne der Wirtschaft werden durch solche Reibungsverluste vernichtet.

Mehr Menschlichkeit in der Führung und Zusammenarbeit ist das, was aus meiner Sicht – und mittlerweile auch der einer zunehmenden Anzahl anderer Menschen – nötig ist. Dabei geht es nicht um einen Wohlfühlkurs oder darum, einfach auf anderen Wegen noch mehr aus den Mitarbeitern – den »Humanen Ressourcen« – herauszupressen. Vielmehr geht es um eine menschliche Grundhaltung, die geprägt ist von Wertschätzung und Respekt im gegenseitigen Umgang. Menschlichkeit, die sich in den kleinen und großen Dingen der täglichen Zusammenarbeit äußert. Eine Grundhaltung der Menschlichkeit, die ihren Ursprung in jeder einzelnen Führungskraft und jedem Mitarbeitenden hat und deshalb eine hohe Selbstkompetenz als Basis voraussetzt.

Eine so geprägte Kultur ist die Voraussetzung für eine emotionale Bindung von Mitarbeitenden an das Unternehmen – was wiederum im direkten Zusammenhang steht mit der emotionalen Bindung der wichtigsten Menschen, mit denen die Mitarbeitenden in Kontakt kommen: die Kunden. Denn in Zeiten immer höherer Vergleichbarkeit von Produkten und Leistungen machen die Mitarbeitenden letztlich den Unterschied im Kundenerlebnis und werden somit zu einem entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Denn nur zufriedene und engagierte Mitarbeitende, die sich mit dem Unternehmen und seinen Leistungen identifizieren, können ihren Fokus nach außen richten, zum Kunden, und ihn dort echte, authentische Kundenorientierung erleben lassen. Die Qualität der Führung trägt dazu ganz wesentlich bei.

Was wäre, wenn Mitarbeiter und Führungskräfte in der Lage wären, durch mehr Selbst- und Beziehungskompetenz sowie sorgfältigeres Kommunizieren und Kooperieren die Anzahl der Konflikte maßgeblich zu reduzieren? Was wäre, wenn Mitarbeitende in Unternehmen mit akuten Konflikten deeskalierend umgehen könnten? Und welche Auswirkungen hätte das auf die Produktivität und Profitabilität der jeweiligen Unternehmen?

Nun, ich habe gute Neuigkeiten für Sie – besonders wenn Sie glauben, dass es hier um »Soft Skills« geht. Denn es geht hier nicht um »nice to have«, sondern letztendlich um eine Erhöhung des wirtschaftlichen Erfolgs und damit durchaus um harte Fakten.

Wir sind alle Dienstleister

Ich bin der Überzeugung, dass eine Dienstleistungs- und Serviceorientierung als Grundhaltung viele Vorteile bringt, viele Türen öffnet und gerade in Bezug auf Führung und Zusammenarbeit ein zentraler Erfolgsfaktor ist. Dabei muss Dienstleistung nichts Unterwürfiges haben, wie es für manche Menschen vielleicht den Anschein hat. »We are Ladies and Gentlemen, serving Ladies and Gentlemen« ist das zentrale Motto für alle Angestellten der renommierten Ritz-Carlton-Hotelkette und beschreibt damit eine Dienstleistung auf Augenhöhe, um die es mir hier geht.

Wenn Sie für Ihren Vorgesetzten eine Arbeit erledigen, sind Sie Dienstleister für Ihren Vorgesetzten. Wenn Sie für Ihre Kollegen bestmögliche Arbeit machen, sind Sie Dienstleister für Ihre Kollegen. Man kennt heute sogar den Begriff des »Servant Leadership«, also der dienenden Führung, denn auch aus Sicht des Vorgesetzten können Sie eine Dienstleistungshaltung einnehmen – nicht nur Ihrem eigenen Vorgesetzten gegenüber oder dem Kunden, wo die Dienstleistungsorientierung ja offensichtlich ist, sondern auch gegenüber Ihren Mitarbeitern, mit der Absicht, bestmögliche Bedingungen zu schaffen, damit das Team als Ganzes und jeder einzelne Mitarbeiter optimale Leistung erbringen können. So gesehen, erscheint Führung in einem ganz anderen Licht.

Daniel Golemans1 Untersuchungen zeigen, dass die Geschäftsergebnisse in Unternehmen um ein Prozent steigen, wenn der Dienstleistungsfaktor – der Faktor, der misst, wie freundlich und hilfsbereit sich die Mitarbeiter eines Unternehmens verhalten – um zwei Prozent steigt. Und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein Unternehmen des Dienstleistungssektors handelt oder nicht.

Ein anderes Modell, das die Zusammenhänge zwischen engagierten Mitarbeitern und Profitabilität aufzeigt, ist die Harvard Value Profit Chain2. Davon ausgehend, dass wir letztlich alle Dienstleister sind, auch wenn wir nicht in einem Dienstleistungsunternehmen beschäftigt sind, ist dieser Zusammenhang für alle Unternehmen in mehr oder weniger direkter Weise relevant – auch für diejenigen Mitarbeiter ohne direkten Kundenkontakt.

Die Reise beginnt bei uns selbst

Jetzt könnte man sagen: »Gut, dann machen wir doch einfach noch ein Kommunikationsseminar, noch mal ein Führungsseminar und trainieren diese Tools und Techniken.« Das kann man natürlich so machen und das wird auch so gemacht. Meine Erfahrung zeigt, man kratzt damit nur an der Oberfläche. Denn wenn jemand in der eigenen Entwicklung nicht an dem Punkt ist, wo er die »Tools und Techniken« auch aus der dafür nötigen Grundhaltung heraus anwendet, wird er letztlich nicht effektiv sein. Im schlimmsten Fall, der leider viel zu häufig eintritt, probiert jemand etwas für ein paar Tage aus und fällt dann wieder in gewohnte Denk- und Verhaltensmuster zurück, weil es »nicht funktioniert«.

Wir müssen stattdessen echte Beziehungskompetenz entwickeln, also die Fähigkeit, zu anderen in einen echten, authentischen Kontakt zu gehen, Beziehungen aufzubauen und auch unter schwierigen Bedingungen zu erhalten. Dazu reicht es nicht, wenn wir Tools und Techniken erlernen, sondern die Reise muss bei uns selbst beginnen. Wir müssen zuerst authentisch nach innen gehen, um auf dieser Basis authentisch nach außen gehen und zu anderen einen echten Kontakt herstellen zu können.

Wenn wir unsere Beziehungskompetenz – oder auch interpersonale Kompetenz – entwickeln wollen, dann braucht es dafür ein solides Fundament. Dieses Fundament heißt »Selbstkompetenz« oder auch personale Kompetenz. Und wir müssen den Einzelnen in seiner Selbstkompetenz stärken, im Umgang und im Kontakt mit sich selbst. Das diesem Buch zugrundeliegende Gesamtkonzept heißt deshalb InterPersonal Competence – also InterPersonale Kompetenz. Die besondere Schreibweise soll verdeutlichen, dass die personale Kompetenz einen wesentlichen Bestandteil interpersonaler Kompetenz darstellt.

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Abbildung 1: InterPersonal Competence

Pre-Flight (Teil 1)

Ich wusste zum Glück noch nicht, was mich an diesem Tag erwarten würde, als ich wie immer frühzeitig im Operations Center am Flughafen Zürich eintraf. Im »OPS« treffen sich jeweils die »Fliegenden«, das heißt die Cockpit- und Kabinenbesatzungen, um ihre Flüge vorzubereiten, die nötigen Fluginformationen entgegenzunehmen und sich zum Flight Briefing zusammenzufinden. Es war ein schöner Herbstmorgen und auf meinem Plan stand für diesen Tag ein kurzer Flug nach Frankfurt und zurück nach Zürich. Für den Flug war wegen der Buchmesse und dem damit verbundenen Passagieraufkommen ein Airbus A330 vorgesehen, also eine Langstreckenmaschine, was für diese kurze Strecke eher die Ausnahme war.

Ich holte mir im Servicecenter alle für mich wichtigen Fluginformationen. Dazu gehörten insbesondere die Besatzungsliste mit Namen und Dienstgraden, sowie die Transitory Operations Information – kurz »TOI« – mit den Passagierzahlen, besonderen Passagierprofilen (VIPs, Vielflieger, unbegleitete Kinder, Rollstühle, medizinische Sonderfälle, Spezialessen usw.) und sonstigen Informationen zum Flug. Der Flug war entgegen meinen Erwartungen nur etwa zu drei Vierteln besetzt.

Zum Briefing traf sich eine gut durchmischte Besatzung mit dienstälteren und dienstjüngeren Flight Attendants. Ich führte das Crew-Briefing durch, verteilte die Funktionen und Arbeitsstationen für die einzelnen Crewmitglieder, kommunizierte meine Schwerpunkte und Erwartungen für den Flug und ließ die Crew wissen, was sie im Gegenzug von mir erwarten konnte. Die Stimmung war gut und wir trafen uns wie gewohnt wenig später mit der Cockpitbesatzung beim Crew-Ausgang, von wo wir von einem Crew-Bus abgeholt und zum Flugzeug gebracht wurden.

Die große, zweistrahlige Maschine glänzte in der Morgensonne, als wir die Treppe hochstiegen und einmal an Bord nahm alles seinen gewohnten Lauf. Die Kabine war für das Boarding vorbereitet. Ich kümmerte mich um die Bordelektronik, prüfte die diversen Systeme und stimmte mich gleichzeitig laufend mit dem Cockpit- und dem Bodenpersonal ab. Zum gegebenen Zeitpunkt gab ich das O.K. für das Boarding und kurz darauf kamen die ersten Passagiere die Gangway entlang zum Flugzeug. Das Boarding verlief ohne besondere Auffälligkeiten. Eine Kollegin hatte die einsteigenden Passagiere gezählt und ein kurzer Abgleich mit der Passagierliste und dem Bodenpersonal ergab eine Übereinstimmung der Zahlen. Wir waren also »good to go«.

Nach einer kurzen Abstimmung im Cockpit schloss ich die Flugzeugtür und der Kapitän gab über die Lautsprecheranlage die Anweisung »Cabin Crew: door selectors to armed«. Auf diese Anweisung hin stellten diejenigen F/As, die für eine Tür verantwortlich waren, einen gelben Hebel an der Tür um, mit dem die Notrutschen »scharf« geschaltet wurden. Wenn ab diesem Moment bis zum Start ein Türgriff betätigt wurde, so wurde die Tür blitzschnell pneumatisch aufgewuchtet und gleichzeitig innerhalb weniger Sekunden die Notrutsche aufgeblasen, damit das Flugzeug evakuiert werden konnte. Unmittelbar nach dem Umschalten wurde nach dem Vier-Augen-Prinzip bei der jeweils gegenüberliegenden Tür geprüft, ob korrekt umgeschaltet wurde.

Das Schließen der Tür war aber auch der Moment, in dem aus dem Großunternehmen Swissair gefühlt unsere eigene kleine Firma wurde, in der ich zusammen mit den beiden Piloten und der Kabinenbesatzung für die Sicherheit unserer Passagiere und die Servicequalität an Bord verantwortlich war. Vor allem Erstere sollte auf diesem Flug noch ganz besonders gefordert werden.

Wir rollten bereits in Richtung Startbahn, während meine Kolleginnen und Kollegen in den verschiedenen Sektionen die Kabine prüften und die Bordküchen, die sogenannten Galleys, für den Start sicherten. Nacheinander bekam ich via Intercom das O.K. von den Verantwortlichen und gab dieses anschließend an die Piloten weiter: »Cabin and Galleys secured.« Wir waren somit also startbereit. Ich setzte mich an meiner Station auf meinen Jumpseat, schnallte mich an und begann meine »One minute of silent review». Dabei handelte es sich um ein bewusstes In-sich-gehen, das jedes Besatzungsmitglied unmittelbar vor dem Start für sich in Stille durchführte. Ziel war dabei, sich konzentriert nochmals die eigene Station mit ihren Aufgaben und den Positionen des Notfall-equipments zu vergegenwärtigen, sowie im Geist die in Frage kommenden Szenarien und korrekten Reaktionen nochmals durchzugehen, um im Notfall blitzschnell korrekt reagieren zu können.

»Take-off in one minute« erklang die Stimme des Kapitäns nochmals und kündigte damit den unmittelbar bevorstehenden Start an. Die Maschine drehte für das »Line-up« auf die Startbahn ein und richtete sich auf die Mittellinie aus. Das »Fasten-Seatbelts«-Zeichen wurde einmal aus und wieder eingeschaltet. Für die Crew das Signal für den Start.

Die Triebwerke wurden hochgefahren und die schwere Maschine setzte sich in Bewegung. Für uns in der Kabine galt in diesem Moment höchste Konzentration. Expect the unexpected – erwarte das Unerwartete – war eine Grundhaltung, auf die wir bereits in der Grundausbildung eingestimmt wurden. Sie galt ganz besonders für Start und Landung, während denen wir hellwach, konzentriert und mit allen Sinnen wachsam auf die Unregelmäßigkeit achteten. Wir starteten an diesem Morgen auf Piste 16 in Richtung Süden, drehten kurz nach dem Start in eine weite Linkskurve und flogen schon bald über den Flughafen weg in Richtung Frankfurt.

Da passierte es. Noch während wir im Steigflug waren und ich angeschnallt auf meinem Sitz saß, klingelte das Bordtelefon. Ich nahm den Hörer und meldete mich mit »Thomas, Station 12«. »Claudia, Station 14«, meldete sich meine Kollegin am anderen Ende. »Thomas – du musst sofort nach hinten kommen! Hier dreht einer durch!!« Ich fragte nach, was sie damit genau meinte, doch sie sagte nur: »Komm einfach. Schnell!«

Ich spürte, wie mein Körper mich innerhalb von Sekunden auf Hochleistung katapultierte: Mein Puls schnellte hoch und ich spürte, wie das Adrenalin durch meinen Körper schoss. Ich schnallte mich ab, stand auf und rief meiner Kollegin auf der gegenüberliegenden Seite noch kurz zu: »Ich muss nach hinten – es gibt ein Problem!« Weil die Vorhänge zwischen den einzelnen Sektionen für den Start offen waren, sah ich schnell, was meine Kollegin meinte. Ein Passagier war im hinteren Teil der Kabine aufgestanden und hatte angefangen, wahllos auf die Rückenlehnen der anderen Passagiere einzudreschen und sie auf das Übelste zu beschimpfen und zu bedrohen. Er sprach Englisch und stammte nach meiner ersten Einschätzung aus dem mittleren Osten. Im Hintergrund konnte ich die fragenden Gesichter meiner Kolleginnen sehen und rund um mich herum die verängstigten Blicke der anderen Passagiere.

Fortsetzung folgt Seite 151.