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Bernd Kuppinger

Finanzmathematik













Einleitung

Wer tut denn so etwas?

Kommissar: Sie waren es! Geben Sie es zu. Oder haben Sie etwa ein Alibi?

Verdächtiger: Nein, ein Alibi habe ich nicht. Aber auch kein Motiv!

Kommissar: Doch, Sie haben ein Motiv.

Verdächtiger: Ach, da bin ich aber gespannt! Welches denn?

Kommissar: Sie halten seit Jahren Vorlesungen zur Finanzmathematik.

Verdächtiger: Ja, das stimmt. Aber…

Kommissar: In diesen Jahren haben die Studenten Sie dazu gebracht, sich fast alle Haare auszuraufen!

Verdächtiger (streicht sich über den Kopf): Na und?

Kommissar: Klassischer Fall – Rache. Aus Rache haben Sie dieses Buch geschrieben! Sie sind überführt!

Es stimmt, ich habe es getan (und ich schaue zu viele Tatort‐Krimis). Aber Rache war nicht das Motiv. Sondern die Erfahrung aus den Vorlesungen, dass es hilft, die Dinge noch einmal anders zu sagen und sie ausführlich zu sagen. Diesen Versuch unternimmt dieses Buch. Zum Beispiel in Form vieler Beispiele und Analogien, wobei mir durchaus bewusst ist, dass die Ähnlichkeit zwischen der stetigen Verzinsung und dem Bauen eines Schneemanns nicht perfekt ist. Aber das macht meiner Meinung nach nichts. Ich glaube, als Lehrer hat man gewonnen, wenn die Schüler oder Studenten sich für eine Sache zu interessieren beginnen und ein bisschen Freude daran gewinnen, selbst nachzudenken, statt sich etwas zu merken. Aus diesem Grund gibt es im Buch auch keine Merksätze. Es gibt auch keine Beweise, weil hier keine neuen mathematischen Erkenntnisse präsentiert werden. Stattdessen steht die Didaktik im Mittelpunkt. Leicht verständlich und leicht lesbar soll das Buch sein. Deswegen habe ich mich um einen kurzweiligen und lockeren Schreibstil mit vielen Beispielen bemüht. Alle Themengebiete werden mit einem Einführungsbeispiel eröffnet, das im jeweiligen Kapitel abgewandelt und weiterentwickelt wird. Das Buch soll Spaß machen, ohne dabei unernst zu sein, und es soll zeigen, dass Mathematik, und speziell Finanzmathematik, keine Themen sind, vor denen man Angst haben muss – selbst dann nicht, wenn man Mathe noch nie leiden mochte.

Ziel

Eine Einführung in die Konzepte der Finanzmathematik bereitzustellen, ohne dabei jeden Sonderfall zu besprechen, aber mit dem Anspruch, zum Verständnis aller möglichen Fälle zu befähigen – das ist das Ziel des Buches.

Aufbau

Das Buch gliedert sich in vier Teile:

  • Teil 1 befasst sich mit der finanzmathematischen Bewertung einzelner Zahlungen, wie zum Beispiel der Anlage eines Geldbetrages für eine gewisse Zeit.
  • Teil 2 führt in die Zahlungsströme ein, womit mehrere regelmäßig auftretende Zahlungsvorgänge gemeint sind, wie sie zum Beispiel bei der Tilgung eines Darlehens auftreten.
  • Teil 3 nimmt die Investitionsrechnung ins Visier, die besonders für unternehmerische Aktivitäten interessant ist, aber auch im Privaten ihre Anwendung findet, zum Beispiel bei der Frage, ob sich die Anschaffung einer Photovoltaik‐Anlage fürs Eigenheim lohnt.
  • Teil 4 gehört theoretisch gar nicht in dieses Buch, praktisch aber doch, weil ich aus der Erfahrung als Vorlesender weiß, wie lückenhaft die mathematischen Vorkenntnisse vieler Studierender – zumindest an Fachhochschulen – sind. Daher gibt es diesen Grundlagenteil, der am Ende steht, damit Sie ihn nicht jedes Mal überblättern müssen, wenn Sie das lesen möchten, worum es eigentlich geht.

Verwendete Symbole

Um den Text etwas aufzulockern, gibt es hin und wieder Einschübe, die durch verschiedene Symbole eingeleitet werden. Dabei kennzeichnet…

Beispiel

ergänzende Beispiele, die Sie auch überspringen können,

Tipp

vertiefende Hinweise oder auch Tipps zur Vermeidung gern gemachter Fehler,

Analogien

Analogien und „das ist so ähnlich wie“‐Beispiele,

Warnung

gedankliche Falltüren, in die man leicht hineintappt,

Downloads

Verweise auf ergänzende Excel‐Tabellen, die Sie von der Webseite zum Buch herunterladen können.

Zum Gebrauch

Die meisten Autoren neigen dazu, alles für unerlässlich zu halten, was sie geschrieben haben. Das gilt für mich in besonderem Maße.

Aber Spaß beiseite – Sie müssen das Buch nicht von vorne bis hinten durcharbeiten. Ich möchte Ihnen aber empfehlen, die einzelnen Kapitel vollständig zu lesen, weil jedes Kapitel in sich eine gewisse Weiterentwicklung aufweist.

Die Kapitel beginnen jeweils mit einem einführenden Beispiel, aus dem ein Grundgedanke herausgearbeitet und anschließend verallgemeinert wird.

Wichtige Begriffe oder Kerngedanken werden durch Fettdruck hervorgehoben, während kursiv gesetzte Teile Eigennamen, Fachbegriffe oder Verweise auf andere Kapitel kennzeichnen.

Am Ende eines jeden Kapitels befindet sich eine Zusammenstellung der wichtigsten Formeln. Für Kapitel 2 befindet sich diese Übersicht ausnahmsweise am Ende des Kapitels 3, weil dadurch die Unterschiede zwischen unterjährlicher und jährlicher Rechenweise deutlicher werden sollen (die Kapitel 2 und 3 hängen eng zusammen). Diese Formelsammlungen sollten Sie aber nicht dazu verleiten, die anschließenden Übungsaufgaben durch ein „Formel‐Puzzle“ lösen zu wollen. Das kann zwar oft erfolgreich sein, dient aber nicht dem Verständnis der Zusammenhänge. Und erst dieses Verständnis macht die Beschäftigung mit der Finanzmathematik, wie auch mit den meisten anderen Dingen im Leben, lohnenswert.

Die Lösungen zu den Übungsaufgaben, die bewusst sehr ausführlich gestaltet sind, finden Sie am Ende des Buches.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg beim Erkunden der Finanzmathematik und auch ein bisschen Freude über den hoffentlich rasch einsetzenden Erkenntnisgewinn.

Danksagung

Ein umfangreiches Projekt, wie das Schreiben eines Buches, ist eine gute Gelegenheit, über den eigenen Lebenslauf nachzudenken – und all denen Dank zu sagen, die bislang verlässliche Weggefährten waren und ohne deren Geleitschutz dieses Buch nicht entstanden wäre: meinen Eltern, die mir eine gute Kindheit und Bildung ermöglicht haben, meiner Partnerin Roswitha, die seit über 20 Jahren an meiner Seite geht, meinem guten Freund Uli Helwing, der mir ein Leuchtturm im Leben ist, meinen Kollegen an der Hochschule Pforzheim, ganz besonders Kirsten Wüst, von der ich alles über Finanzmathematik gelernt habe, was ich bisher weiß, außerdem Thomas Cleff und Wolfgang Schäfer (†) sowie den ehemaligen Pforzheimerinnen Katja Specht und Regina Schwegler. Weiterhin danke ich Marcel Ferner vom Wiley‐VCH Verlag für seine hilfsbereite Art und die sehr gute Unterstützung bei der Arbeit am Manuskript.

1
Es geht ums Geld

In diesem Kapitel geht es um …

  • den Zusammenhang zwischen Geld und Zeit,
  • die Begriffe Inflation und Deflation und
  • die Bedeutung des Barwertes und des Endwertes von Geldbeträgen.

Das Kapitel hat einen eher überblickartigen Charakter. Falls Sie es eilig haben und schnell ans „Eingemachte“ wollen, können Sie die Abschnitte Zeit und Geld sowie Inflation und Deflation überspringen. Dagegen sollten Sie den Abschnitt Barwert und Endwert auf jeden Fall lesen, denn hier finden sich wichtige Grundüberlegungen für alles Weitere.

Die Bezeichnung Finanzmathematik kann den Eindruck erwecken, es handle sich dabei um eine besondere Art von Mathematik. Wir bedienen uns jedoch auch in der Finanzmathematik ganz gewöhnlicher mathematischer Methoden und Rechenverfahren. Neben den elementaren Techniken wie dem Potenzieren und dem Logarithmieren werden uns zum Beispiel die Themen Folgen und Reihen beschäftigen, seltener jedoch der Begriff der Funktion. Die Auswahl gerade dieser Techniken und Methoden hat mit dem Betrachtungsgegenstand zu tun, der uns in der Finanzmathematik beschäftigt – dem Geld.

Daher beginnt dieses Buch auch mit einer kurzen Betrachtung der Besonderheiten dieses „obskuren Objektes der Begierde“. Welches sind die besonderen Eigenschaften des Geldes, neben den emotionalen Aspekten wie der Gier nach oder der Abscheu vor diesem Stoff, der als Schmiermittel unseres Wirtschaftsgeschehens nicht wegzudenken ist? Betrachten wir dazu den Zusammenhang zwischen Geld und Zeit. „Zeit ist Geld“ lautet ein geflügeltes Wort. Was könnte damit gemeint sein? Zum einen der Aspekt, dass jemand, der Zeit auf eine Sache, vielleicht auf ein Hobby, verwendet, darauf verzichtet, in dieser Zeit Geld zu verdienen. Ökonomen sprechen hier von Opportunitätskosten, die dem Hobby angelastet werden müssen. Der Hobbyausüber sollte sich nach dieser Auffassung überlegen, ob ihm seine Freizeitbeschäftigung den Betrag wert ist, den er in der dafür aufgewendeten Zeit anderweitig verdienen könnte. Diesen Aspekt wollen wir hier zwar nicht vertiefen, die Grundidee des entgangenen Nutzens an sich werden wir jedoch des Öfteren aufgreifen. Jeden Euro kann man nur einmal ausgeben, sodass die Entscheidung für das Eine gleichzeitig eine Entscheidung gegen das Andere ist. Im Kapitel 9 Einzelne Investitionsprojekte wird dieser Aspekt eine wichtige Rolle spielen.

1.1 Zeit und Geld

Zunächst jedoch rücken wir einen Gedanken in den Blickpunkt, der sich mit der Wertveränderung des Geldes im Zeitablauf befasst. Für diese Wertveränderung mit fortschreitender Zeit gibt es zwei Gründe:

Zusammenfassend können wir sagen, dass Geld „unter Normalbedingungen“ mit der Zeit an Wert verliert, es also günstiger ist, früher denn später über einen bestimmten Betrag zu verfügen.

Hinzu kommt, dass Unsicherheitsaspekte und Zufälligkeiten bis jetzt nicht betrachtet wurden. Sie könnten den Effekt noch verstärken nach dem Motto: „Wer weiß, ob ich in einem Jahr noch etwas von meinem Geld habe. Vielleicht lebe ich schon gar nicht mehr“. Dies sind jedoch Überlegungen auf individueller Ebene, die für unsere Betrachtungen nicht hilfreich sind, weil wir sie nicht verallgemeinern können und die wir daher außen vor lassen.

Bevor wir gleich die beiden Effekte, die den Wert des Geldes mit der Zeit verändern, genauer unter die Lupe nehmen, sei eine weitere Besonderheit der Finanzmathematik genannt, die sich in der Art zeigt, in der Zahlungsvorgänge ablaufen. Man spricht zwar häufig vom Geldfluss, doch anders als der Begriff Fluss es nahelegt, finden Zahlungsvorgänge nicht stetig, sondern schrittweise statt. Zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgt eine Zahlung und erst nach Ablauf einer bestimmten Zeitspanne, zum Beispiel nach einem Jahr, erfolgt die nächste Zahlung. Dazwischen geschieht nichts. Statt „nicht stetig“ bezeichnen wir ein derartiges Geschehen auch als einen diskreten Ablauf (von lat. discretus = abgesondert). Dieses unstete Wesen der Zahlungsvorgänge ist der Grund, warum in der Finanzmathematik die mathematischen Gebilde der Folgen und der Reihen eine wichtige Rolle spielen.

1.2 Inflation und Deflation

Mit Inflation ist der Kaufkraftverlust des Geldes durch steigende Güterpreise gemeint. Der Begriff stammt aus dem Lateinischen, da heißt inflatio aufschwellen. Wir wollen versuchen, die Auswirkung dieses Effektes in Zahlen zu erfassen. Dazu betrachten wir folgendes Beispiel (falls Sie mit der Prozentrechnung nicht vertraut sind, können Sie sich im Kapitel 12 Prozente und Prozentpunkte einen Überblick verschaffen):

Ein Kilogramm Seltene Erde habe am 1.1.2014 einen Marktwert von 10.000 €. Die jährliche Inflationsrate nehmen wir mit 10 % an, was zwar ein sehr hoher Wert ist, aber damit lässt sich leicht rechnen. Demnach wird das Kilogramm Seltene Erde am 1.1.2015 zu einem Preis von 11.000 € zu erwerben sein, denn

Um die Wirkung der Geldentwertung zu erkennen, fragen wir nun danach, welche Menge der begehrten Metalle man am 1.1.2015 für 10.000 €, also zum Vorjahrespreis eines Kilogramms, noch bekommen würde. Man kommt leicht in Versuchung, ein Zehntel von einem Kilogramm abzuziehen und „900 Gramm“ zu antworten. Damit läge man jedoch nicht ganz richtig. Weshalb diese Subtraktion nicht richtig ist, zeigt folgende Überlegung: Würden 900 Gramm 10.000 € kosten, so bekäme man für jeweils 1.000 € genau 90 Gramm.

Tabellarisch dargestellt ergäbe sich dem nach dieser Verlauf:

Menge [g] Preis [€]
900 10.000
810 9.000
720 8.000
90 1.000
0 0

Tabelle 1.1: Mengen und Preise

Das sieht zunächst stimmig aus. Überlegt man jedoch, wie die Tabelle nach oben fortzusetzen wäre, sieht man das Problem:

990 11.000

Es entsteht ein Widerspruch, denn entsprechend unserer Annahme bekommt man für 11.000 € ja ein ganzes Kilogramm und nicht nur 990 Gramm.

Dieser Widerspruch löst sich auf, wenn man Preis und Menge ins Verhältnis zueinander setzt, also eine Division anstelle der Subtraktion anwendet.

Die 10.000 € haben also nur noch einen Gegenwert von 909,09 Gramm.

Der Effekt lässt sich allgemein formulieren: Bei einer Inflationsrate von 10 % besitzt ein Geldbetrag nach einem Jahr nur noch das ‐fache seines ursprünglichen Wertes. In Anlehnung an die gefühlten Temperaturen, die die Meteorologen gerne im Wetterbericht nennen, könnten wir sagen: Ein 100‐€‐Schein fühlt sich bei einer Inflationsrate von 10 % in einem Jahr so an, als stünde nur noch 90,90 € darauf.

Den Faktor mit dem wir den ursprünglichen Betrag multipliziert haben, werden wir als Abwertungsfaktor bezeichnen. Die Verallgemeinerung auf andere Inflationsraten fällt nun leicht. Wir müssen lediglich die Zahl im Nenner des Abwertungsfaktors verändern und zum Beispiel 1,02 einsetzen, um die Wirkung einer Inflationsrate von 2 % zu bestimmen. Die Wirkung der Inflation wird besonders eindrücklich, wenn wir die Geldwertentwicklung über längere Zeitspannen betrachten. Wir kommen darauf im Kapitel 5 Rentenrechnung zurück, wollen aber hier schon die Grundidee darstellen. Möchten Sie zum Beispiel die Geldentwertung über drei Jahre bei einer jährlichen Inflationsrate von 2 % bestimmen, so stellt sich die Frage, ob Sie die Inflationsrate von 2 % einfach drei Mal addieren und somit im Nenner des obigen Abwertungsfaktors 1,06 einsetzen können. Dass dies nicht richtig ist, erkennt man leicht durch eine Umkehrung der Betrachtung. Was ist gemeint, wenn man sagt, der Preis für ein Gut steigt jährlich um 2 %? Geht man von einem Ausgangswert, sagen wir 100 € aus und schlägt jährlich gleichbleibend 2 € drauf? Oder bezieht sich die Angabe 2 % auf den jeweils aktuellen Preis? Letzteres ist üblicherweise gemeint und wird mathematisch dadurch berücksichtigt, dass man den jeweils erreichten Preis erneut mit 1,02 multipliziert. Die nachfolgende Tabelle verdeutlicht den Sachverhalt.

Jahr Preissteigerung [ %] Preis Jahresende [€] Steigerungsfaktor gegenüber Jahr 0
0 100,00
1 2 102,00 1,021
2 2 104,04 1,022
3 2 106,12 1,023

Tabelle 1.2: Preissteigerung pro Jahr

In unserem Abwertungsfaktor haben wir somit im Nenner den Wert

einzusetzen. Demnach haben 100 € in drei Jahren noch eine Kaufkraft von

Ganz allgemein können wir die verbleibende Kaufkraft von 100 € nach n Jahren und bei einer konstanten jährlichen Inflationsrate von x  % so berechnen:

Das Seltene Erde‐Beispiel soll noch etwas anders verdeutlichen. Der Kaufkraftverlust kann sehr unterschiedlich ausfallen, je nachdem welches Gut man betrachtet. Das macht den weiteren Umgang mit dem Thema Inflation schwierig, denn wir wollen zu allgemeingültigen Aussagen gelangen ohne ständige Bezugnahme auf eine konkrete Kaufkraftentwicklung. Wir könnten die Inflation natürlich mit ihrem Durchschnittswert ansetzen und in allen Formeln „mitschleppen“. Das jedoch würde unsere Formeln verkomplizieren, ohne dass damit ein Mehrwert an Erkenntnis verbunden wäre. Deshalb werden wir die Inflation als eine Art „Hintergrundrauschen des Finanzuniversums“ ansehen. Sie ist immer da, wir wissen auch mathematisch mit ihr umzugehen, können sie aber für unsere Fragestellungen ausblenden.

Beispiel

Steht man vor der Wahl, ob man einen Betrag bei gleicher Laufzeit lieber bei Bank A oder bei Bank B anlegen soll, ist die Entscheidung zwischen diesen beiden Alternativen unabhängig davon, ob die Inflation 2 % oder 3 % beträgt. Man wird sich immer für das Angebot mit dem höheren Effektivzinssatz entscheiden (zum Effektivzinssatz kommen wir später im Kapitel 3 Unterjährliche Zinsrechnung).

Allerdings kann die Höhe der Inflation die Entscheidung in der Weise beeinflussen, dass man Geld lieber ausgibt, statt es anzulegen. Hier sind wir aber wieder im Bereich der individuellen und daher nicht verallgemeinerungsfähigen Gesichtspunkte, die wir schon in Abschnitt Zeit und Geld kurz angesprochen haben.

Der Vollständigkeit halber soll abschließend noch ganz kurz der Begriff Deflation erläutert werden. Damit ist das Gegenteil von Inflation gemeint. Deflation beschreibt eine Geldaufwertung durch Preisverfall. Dieser Effekt, der aus Konsumentensicht zunächst wünschenswert erscheint, treibt Ökonomen die Sorgenfalten auf die Stirn. Sie befürchten eine flächendeckende Kaufzurückhaltung bei den Verbrauchern, die in der Erwartung noch weiter sinkender Preise ihr Geld lieber sparen und damit im ungünstigsten Fall die Konjunktur regelrecht abwürgen.

1.3 Barwert und Endwert

Im vorherigen Abschnitt haben wir gesehen, wie steigende Güterpreise einem Geldbetrag einen Teil seines Wertes entziehen. Stellen wir uns für den Moment einmal vor, wir könnten die Inflation durch Umlegen eines großes Hauptschalters einfach abschalten. Die gerade gültigen Güterpreise würden dadurch sozusagen „eingefroren“. Wäre es unter diesen Umständen egal, ob man über einen Betrag von 100 € heute verfügen kann oder erst in einem Jahr?

Wir haben schon im ersten Abschnitt dieses Kapitels überlegt, dass eine frühere Verfügbarkeit die Möglichkeit der ertragreichen Nutzung des Geldes durch dessen Ausleihe und eine für die Ausleihe erhaltene Gegenleistung eröffnet. Nun versuchen wir auch dies quantitativ zu erfassen. Nehmen wir dazu an, jemand habe 5.000 € in der Lotterie gewonnen. Die Auszahlung des Betrages ist heute fällig. Der zuständige Glücksbote der Lottogesellschaft hat jedoch zur Überbrückung eines persönlichen finanziellen Engpasses in die Kasse gegriffen und kann die 5.000 € nicht übergeben. Um seine Untreue zu verdecken, verfällt er auf den Gedanken, den Gewinner auf einen späteren Auszahlungstermin, sagen wir in genau einem Jahr, zu vertrösten. Als Entschädigung für die Verzögerung stellt er ihm die Zahlung eines dann höheren Betrages in Aussicht. Wie viel Zuschlag muss er bieten, damit der Gewinner die Wartezeit akzeptiert? Wir legen dabei folgende Annahmen zu Grunde: Der Bote wird in einem Jahr zahlen und der Gewinner wird in einem Jahr noch am Leben sein, es liege also vollständige Planungssicherheit vor. Außerdem gehen wir davon aus, dass keiner der beiden den anderen übervorteilen wird (was leicht möglich wäre, sollte der Gewinner von den unlauteren Machenschaften des Boten Wind bekommen). Auch die Inflation betrachten wir weiterhin als ausgeschaltet. Unter diesen Voraussetzungen wird sich der Gewinner fragen, welchen Geldwert er für das Jahr Wartezeit anzusetzen hat. Es wäre vernünftig und fair, dafür den Betrag zu verwenden, den er durch einen risikolosen Einsatz des Geldes erzielen könnte.

Beispiel

Ein solcher Einsatz wäre zum Beispiel das Verleihen der 5.000 € für ein Jahr an einen Bekannten gegen eine Gebühr von zum Beispiel 200 €. Dann wäre es fair, wenn der Geldbote dem Gewinner für die Aufschiebung der Zahlung um ein Jahr ebenfalls diese Gebühr entrichten würde.

Wichtig für alles Weitere ist nun folgende Erkenntnis: Einigen sich der Lotteriegewinner und der Geldbote auf eine Zahlung von 5.200 € in einem Jahr, so verändert sich dadurch die Vermögenssituation des Lotteriegewinners nicht. Er steht mit den 5.200 € in einem Jahr genauso gut da wie mit den 5.000 € heute, die Geldbeträge sind für ihn äquivalent. Das Jahr Wartezeit wird mit dem Betrag (200 €) abgegolten, den er bei sofortiger Verfügbarkeit der 5.000 € und deren Ausleihe für ein Jahr erhalten hätte. Wir bezeichnen den heutigen Wert (die 5.000 €) als Barwert, den Wert am Ende des Betrachtungszeitraums (5.200 €) als Endwert. Die Beträge unterscheiden sich zwar zahlenmäßig (nominal), sind aber finanzmathematisch als gleichwertig anzusehen. Diese Gleichwertigkeit von zahlenmäßig unterschiedlichen Beträgen aufgrund unterschiedlicher Fälligkeitstermine wird uns immer wieder beschäftigen.

1.3.1 Nominalwert und Äquivalenzprinzip

Mit Zähl‐ oder auch Nominalwert meinen wir das, was „drauf steht“. Ein Hundert‐Euro‐Schein hat einen Nominalwert von 100. Daran ändert sich auch nichts, wenn Sie den Schein ein Jahr in der Schreibtischschublade liegen lassen. Beim Geldzählen werden Sie ihn immer mit der Zahl 100 berücksichtigen. Finanzmathematisch ist es jedoch ein Unterschied, ob Sie über den Schein heute oder erst in einem Jahr verfügen – und zwar auch bei „abgeschalteter“ Inflation. Das sollte unser Beispiel des Lotteriegewinners oben verdeutlichen.

Aus der dort festgestellten Gleichwertigkeit eines Barwertes und eines nominal anderen Endwertes können wir im Umkehrschluss folgenden fundamentalen Gedanken ableiten: Geldbeträge, die zu verschiedenen Zeitpunkten anfallen, dürfen nicht einfach mit ihrem Zählwert (Nominalwert) verglichen werden. Vielmehr muss die zwischen ihnen liegende Zeitspanne berücksichtigt werden, denn Geld ist eine ertragsfähige Substanz. Bevor eine Aussage der Art „Geldbetrag 1 ist mehr wert als Geldbetrag 2“ gemacht werden kann, müssen die Beträge vergleichbar gemacht werden. Dies geschieht zum Beispiel dadurch, dass der später fällige Betrag um den in ihm steckenden Ertrag bereinigt wird. Dies ist ein sehr wichtiger finanzmathematischer Grundsatz: die Vergleichbarkeit von Geldbeträgen ist nur statthaft, wenn die Zählwerte zuvor auf einen gemeinsamer Bezugszeitpunkt umgerechnet wurden. Dieser Grundsatz wird als Äquivalenzprinzip bezeichnet. Aus dem Äquivalenzprinzip folgt auch, dass wir zu verschiedenen Terminen fällige Geldbeträge nicht einfach addieren oder subtrahieren dürfen. Auch dafür müssen wir zuvor einen gemeinsamen Bezugszeitpunkt auswählen. In unserem Bespiel werden aus den 5.200 € die 200 € Ertrag durch Gebühr heraus gerechnet. Damit ist der Betrag exakt so hoch wie die 5.000 € ein Jahr früher und diesen gleichwertig. Beachten Sie, dass die Inflation für diese Überlegung keine Rolle spielt! Eine vereinfachte Situation bei der Vergleichbarkeit liegt dann vor, wenn der größere Betrag früher fällig ist, als der kleinere. Früher mehr Geld zu bekommen ist stets besser als später weniger. In Abwandlung eines bekannten Sprichwortes könnte man es etwas flapsig auch so formulieren: „Lieber reich und gesund, als arm und krank.“

Das Beispiel lässt sich noch etwas abwandeln. Angenommen, der Lotteriegewinner erfährt von der misslichen Lage des Geldboten. Er könnte nun auf die Idee kommen, dies auszunutzen und mehr als die fairen 200 € für seine Wartebereitschaft fordern, zum Beispiel 500 €. Damit stünde er nun materiell besser, als wenn er die 5.000 € sofort bekäme und zu den üblichen Konditionen verleihen würde. Wie sich das finanzmathematisch exakt berechnen lässt, wird im nächsten Kapitel im Abschnitt Vom Endwert zum Barwert dargestellt.

Nachdem Sie dieses Kapitel durchgearbeitet haben, sollten Sie…

  • die Inflation einerseits und die Ertragskraft des Geldes andererseits als bedeutend für die Bewertung von Geldbeträgen erkannt haben,
  • verstanden haben, dass wir die Inflation für unsere allgemeinen Betrachtungen als ausgeschaltet betrachten können,
  • die Begriffe Zählwert, Barwert und Endwert erklären können,
  • wissen, was mit dem Äquivalenzprinzip gemeint ist und
  • insbesondere verstanden haben, dass Geldbeträge, die zu verschiedenen Terminen anfallen, nicht einfach addiert oder subtrahiert werden dürfen.

Teil I:
Einzelne Zahlungen