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Michael Batnick

Große Fehler

Die besten Investoren und ihre schlechtesten Investments

 

Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Wurbs

Wiley Logo

WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA

 

 

 

Für meine Mutter und meinen Vater, die mich Fehler machen ließen, und für Roby, der zu mir stand, wenn ich Fehler machte.

Vorwort

Der Mensch hat dreierlei Wege, weise zu werden:

Erstens durch Nachdenken, das ist der edelste.

Zweitens durch Nachahmung, das ist der leichteste.

Drittens durch Erfahrung, das ist der bitterste.

Konfuzius

An der Börse Geld zu verdienen, ist schwierig. Egal, ob Sie einen Hedgefonds führen oder Ihr Depot selbst verwalten – von Zeit zu Zeit werden Sie sich wirklich dumm vorkommen. Bei einem Marktabschwung werden andere Ihr Schicksal teilen, aber machmal sind Sie allein wie auf einer Insel. Vielleicht haben Sie eine Aktie gekauft, nachdem sich deren Wert verdoppelte, um dann zusehen zu müssen, dass die Aktie nach ihrem Kauf an Wert verliert oder, was noch schlimmer ist, Sie werfen das Handtuch bei einer Aktie, die an Wert verliert, um dann zuschauen zu müssen, dass sich ihr Wert in den nächsten zwölf Monaten verdoppelt. Manchmal hat man das Gefühl, dass die Marktgötter ihr Spiel mit uns treiben.

Wie schwierig das Anlegen sein kann, kann man am besten lernen, wenn man selbst anlegt. Die zweitbeste Möglichkeit, der Zweck dieses Buches, ist es, die Fehler, die von den erfolgreichsten Investoren der Welt gemacht wurden, näher zu betrachten. Von Jesse Livermore bis Warren Buffett und Jack Bogle hat jeder Investor zu gleichen Teilen Erfolge und Misserfolge erlebt. Buffett und Munger haben zum Beispiel den Fehler gemacht, Walmart nicht zu kaufen, und Stanley Druckenmiller beging den Fehler, Technologieaktien zu kaufen, als diese Anfang des Jahres 2000 ihren Höchststand erreicht hatten. Ziel dieses Buches ist, den Lesern zu helfen, einige ihrer Fehler nachvollziehen zu können und zu verstehen, dass jeder von uns zeitlich begrenzte Rückschläge hinnehmen musste.

Alle Anleger, von Peter Lynch bis zum Durchschnittsanleger, sind auch nur Menschen, die ihren Gefühlen ausgeliefert sind. Wir sind risikoscheu, wir entwickeln eine emotionale Bindung an den Kurs unserer Käufe und wir werden alle durch den Rückschaufehler manipuliert. Und wenn wir einen Rückschlag erleiden, haben wir uns das gewöhnlich selbst zuzuschreiben, was es objektiv zu einer großen Herausforderung werden lässt, damit umzugehen. Auch wenn es schwierig ist, so müssen wir doch darüber nachdenken, wie wir verhindern können, dass früher gemachte Fehler unsere zukünftigen Entscheidungen störend beeinflussen.

Die Menschen streben typischerweise danach, Erfolge zu wiederholen. Kobe Bryant studierte Michael Jordan, und Paul Tudor Jones studierte Jesse Livermore. Das ergibt intuitiv einen Sinn. Andere verfolgen einen anderen Ansatz, studieren die Geschichte von Fehlern und versuchen zu vermeiden, was auch immer diese Menschen oder Firma straucheln ließ. Charlie Munger meinte, »Sagt mir, wo ich sterben werde und ich werde nie dorthin gehen«. Dieses Buch nimmt einen völlig anderen Blickwinkel ein. Im Mittelpunkt stehen die Fehlschläge der erfolgreichsten Anleger. Der Grund ist nicht, dass wir sagen können, »Oh, das hat nicht funktioniert, mach das nicht«, sondern dass wir, wenn wir einen Fehler machen, ihn auch als das erkennen, was er ist, als Teil des Spiels. Anlegen und Investieren kann, vielleicht wie kein anderes Bestreben, nur durch Praxis erlernt werden. Sie können genauso wenig mit einem Investmentbuch lernen, wie man anlegt, wie Sie mit einem Buch über Herzchirurgie lernen können, einen dreifachen Bypass zu legen. Sie müssen es einfach immer wieder und wieder tun.

Dieses Buch ist kein Ratgeber. Wenn es eine Kernaussage hat, dann die, dass Anlegen äußerst schwierig ist. Sie werden Fehler machen. Sie werden diese Fehler wiederholen. Sie werden neue feststellen. Und gerade dann, wenn Sie glauben, dass Sie alles verstanden haben, wird der Markt Sie wieder demütigen. Unbedingt erforderlich ist, dass Sie damit umgehen können, dass Sie nicht zulassen, dass aus diesen Maulwurfshügeln Berge werden. Wenn Ihr Gehirn erst einmal mit negativen Gedanken vergiftet ist, ist es sehr schwer zu desinfizieren.

Das Wichtigste, was alle erfolgreichen Anleger gemeinsam haben, ist, sich darüber Gedanken zu machen, was sie beeinflussen können. Sie verschwenden keine Zeit, darüber nachzudenken, in welche Richtung sich der Markt entwickelt oder was die Federal Reserve tun wird oder wie hoch im nächsten Jahr die Inflation oder die Zinsen sein werden. Sie bleiben in den Grenzen ihrer Kompetenz, wie eng diese auch sein mögen. Warren Buffett sagte einmal: »Was für die meisten beim Anlegen zählt, ist nicht wie viel sie wissen, sondern wie realistisch sie festlegen, was sie nicht wissen.«

Ich hoffe, Ihnen macht das Lesen dieses Buches genauso viel Spaß wie mir das Schreiben.

Michael Batnick

Kapitel 1
BENJAMIN GRAHAM

Es gibt keine eisernen Gesetze


Mit meinen fast 50 Jahren Erfahrung an der Wall Street habe ich festgestellt, dass ich immer weniger weiß, was an der Börse geschehen wird, dass ich aber immer mehr darüber weiß, was die Anleger tun sollten – und das ist eine ziemlich wichtige Einstellungsänderung.

Benjamin Graham

In 200 Jahren wird sich niemand an den Kreuzzug von Bill Ackman gegen Herbalife erinnern. John Paulsons Wette gegen die Immobilienblase wird längst vergessen sein. Die Kommentare und Zitate von Charlie Munger (»Charlies Mungerisms«) werden im Papierkorb des 21. Jahrhunderts gelandet sein. Große Investoren kommen und gehen, und mit den meisten der in diesem Buch erwähnten Anleger werden zukünftige Generationen nichts mehr anfangen können. Doch wenn ich auf einen Anleger, der den Test der Zeit bestehen wird, mein Geld setzen müsste, dann wäre es Benjamin Graham.

Der Dekan der Wall Street, wie er genannt wurde, wird nie in Vergessenheit geraten, weil seine Lehre zeitlos ist. Seine Lektionen, die er in seinem grundlegenden Werk Security Analysis1 darlegte, sind heute noch genauso gültig wie im Jahr 1934 und werden es auch in 200 Jahren noch sein. Die menschliche Natur ändert sich im Verlauf der Zeit nicht. Unverändert bleibt auch die Tatsache, dass »wir bei der Anwendung der Analyse auf den Bereich der Wertpapiere auf das ernste Hindernis stoßen, dass das Anlegen seinem Wesen nach keine exakte Wissenschaft ist«.2 So begabt er auch in Mathematik war, verstand Graham doch, dass sich die Wertpapieranalyse nicht nach den Gesetzen der Physik richtet. Man kann nicht oft genug betonen, wie viele wichtige Entwicklungen von ihm ausgingen. Jason Zweig schrieb: »Vor Graham verhielten sich die Geldmanager fast wie eine mittelalterliche Gilde, die sich von Aberglauben, Mutmaßen und geheimen Ritualen leiten ließ.«3 Ben Graham ist für das Anlegen, was die Wright-Brüder für das Fliegen waren, und so wie deren Namen für immer mit dem Flugzeug in Verbindung gebracht werden, so wird Grahams Name für immer mit Finanzen in Verbindung gebracht werden.

Graham verstand, was zu seiner Zeit nur wenige verstanden: dass sich die in den Zeitungen angegebenen Aktienkurse und der zugrundeliegende Wert des Unternehmens nicht entsprechen. Graham führte das Beispiel der Wright-Brüder an und schrieb:

Im Beispiel Wright Aeronautical zeigt die frühere Situation eine Reihe von Tatsachen, die bewiesen, dass die Firma beträchtlich mehr als 8 Dollar pro Aktie wert war … Später im Jahr waren die Fakten ebenso schlüssig, dass der Wert von 280 Dollar pro Aktie dem Geschäft nicht angemessen war. … Für den Analysten wäre es schwierig gewesen zu bestimmen, ob Wright Aeronautical tatsächlich 20 Dollar oder 40 Dollar pro Aktie oder eigentlich 50 Dollar oder 80 Dollar wert war … Glücklicherweise war eine Entscheidung darüber aber nicht notwendig, um zu dem Schluss zu kommen, dass die Aktie bei 8 Dollar attraktiv und bei 280 Dollar intrinsisch unattraktiv war.4

Security Analysis wurde für den Wall-Street-Profi geschrieben. The Intelligent Investor5 wird die Erinnerung an den Namen Graham für immer lebendig halten. Das war das erste Buch über Finanzen, das ich gelesen habe, und es hinterließ bei mir einen so starken Eindruck, dass ich meinen Blog The Irrelevant Investor nach ihm benannte. Im Gegensatz zu Security Analysis wurde The Intelligent Investor für Laien geschrieben und mit mehr als einer Million verkauften Exemplaren hat es sein Ziel erreicht. Warren Buffett sagte: »Ich habe die erste Auflage dieses Buches Anfang 1950 im Alter von 19 Jahren gelesen. Damals dachte ich, dass es bei Weitem das beste je geschriebene Buch über das Anlegen sei. Das denke ich immer noch.«6 So lange die Menschen über das Anlegen etwas lernen wollen, werden sie auf Graham zurückgreifen, der eine exotische Sprache mit Begriffen wie Net Working Capital und Return on Equity verständlich mit Wörtern wie Preis und Wert übersetzte.

Ben Graham erfand den Forschungsbereich der Finanzanalyse. Roger Lowenstein sagte: »Investieren ohne Graham wäre wie Kommunismus ohne Marx – diese Disziplin würde es kaum geben.«7 Er war ein Polymathematiker, den Charlie Munger »einen brillanten Mann« nannte und »seinerzeit der einzige Intellektuelle im Investmentgeschäft«.8 Als er gerade einmal 20 Jahre alt war, erhielt er in seinem Abschlusssemester an der Columbia Universität drei Einladungen von den Fakultäten für Englisch, für Mathematik und für Philosophie. Überwältigt von diesen Angeboten wandte er sich Rat suchend an den Dekan der Universität. Glücklicherweise besuchte gerade ein Mitglied der New York Stock Exchange zur selben Zeit den Dekan und bat ihn, ihm einen seiner besten Studenten zu empfehlen. Ohne zu zögern stellte er ihm Ben Graham vor.

Graham begann seine Karriere an der Wall Street im Jahr 1914, kurz bevor die New York Stock Exchange für vier Monate schloss – die längste Schließung ihrer Geschichte aufgrund der Ereignisse im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg. Mit 20 Jahren und ohne an der Universität Ökonomiekurse belegt zu haben, begann er ganz unten auf der Karriereleiter und lieferte Wertpapiere und Schecks aus. Nach einem Monat wurde er zu einem Assistenten der Anleiheabteilung befördert und nur sechs Wochen später, als er den Markt besser verstand, schrieb Graham täglich einen Marktkommentar.

Ben Graham lehrte ab 1928 28 Jahre lang an der Columbia Business School und zur gleichen Zeit zehn Jahre lang an der Schule der New York Stock Exchange, die jetzt New York Institute of Finance heißt. Er zog Studenten wie zum Beispiel Walter Schloss, Irving Kahn und Bill Ruane an. Sein berühmtester Schüler aber war – natürlich – Warren Buffett, der der reichste Mann des Planeten wurde, indem er die Grundsätze anwandte, die Graham ihn gelehrt hatte.

Graham ist für Anleger das, was das Nationaldenkmal Mount Rushmore für Nordamerika ist, und obwohl er als Anleger und als Lehrer zukünftiger Generationen, die er unterrichtete, wie sie genau so erfolgreich sein können, enormen Erfolg hatte, hatte er in seiner Karriere, wie alle anderen auch, schwierige Zeiten. Die Lehrstunden, die Graham im Klassenzimmer erteilte und die er zu Büchern umsetzte, werden ewig fortbestehen. Aber wir können auch viel aus seinen Fehlschlägen lernen. Die wichtigste Lektion, die Anleger von dem Mann lernen sollten, der uns den Unterschied zwischen Wert und Preis beibrachte, ist, dass Value Investing kein Patentrezept ist. Billig kann noch billiger werden. Reich kann noch reicher werden. Sicherheitsmargen können falsch berechnet werden und Wert kann möglicherweise nicht zustandekommen.

Einige Anleger suchen nach Unternehmen, von denen sie annehmen, dass sie ihre Gewinne beträchtlich schneller als der Markt steigern werden. Andere suchen eher nach Unternehmen, deren zukünftige Aussichten nicht annähernd so schlecht sind wie ihr Aktienkurs. Ob sie sich nun als Wachstumsinvestor, als Value-Investor, als etwas dazwischen oder etwas ganz anderes sehen, Investoren wollen, dass Aktien mehr wert sind, als sie dafür bezahlen. Value Investing ist am effektivsten, um festzustellen, ob der Preis, den Sie für einen Anteil am Unternehmen zahlen, geringer ist als der tatsächliche Wert.

Als Security Analysis veröffentlicht wurde, stand der Dow Jones Industrial Average bei 100. Heute, 84 Jahre später und bei einem Stand von fast 22 000, hat er eine Wertentwicklung von 6,7 Prozent pro Jahr geliefert, die Dividenden nicht eingerechnet. Einige der bekanntesten Investoren, Anhänger des von Graham populär gemachten Value Investing, haben weit höhere Renditen erzielt, indem sie einige einfache Regeln befolgten. Diese Regeln laufen auf das hinaus, was Graham »Sicherheitsmarge« (»Margin of Safety«) nannte. Graham definierte diese als »den Abschlag, zu dem die Aktie unter ihrem intrinsischen Mindestwert gehandelt wird«.9 Ja, für die Berechnung dieses Werts werden auch Formeln verwendet, die aber nicht kompliziert sein mussten. Graham mochte Aktien, die für ein Drittel unter dem Wert ihres Nettoumlaufvermögens (»Net Working Capital«) gehandelt wurden. Einmal wies er darauf hin, dass »seit 1933 einige außergewöhnliche Ergebnisse hätten erzielt werden können, wenn man jedes Jahr die sechs im Dow Jones Industrial Average enthaltenen Aktien gekauft hätte, die zum niedrigsten Vielfachen ihrer letzten Gewinne gehandelt wurden«.10

Graham wurde nicht wegen seiner Berechnungen zur Bestimmung des intrinsischen Werts ein so brillanter Anleger, sondern weil er begriff, dass die Bestimmung exakter Werte sowohl unmöglich als auch keine Bedingung für Erfolg ist. »Es ist gut möglich zu entscheiden, ob eine Frau alt genug ist, um zu wählen, ohne zu wissen, wie alt sie ist, indem man sie sich einfach anschaut, oder dass ein Mann schwerer ist als er sein sollte, ohne sein genaues Gewicht zu kennen.«11

Graham war seiner Zeit weit voraus, als er über Verhaltensökonomik schrieb, die Wissenschaft, wie die Psychologie finanzielle Entscheidungen beeinflusst, lange bevor dieser Begriff geprägt wurde. Security Analysis wurde im selben Jahr veröffentlicht, in dem der Nobelpreisträger Daniel Kahneman, der dieses Forschungsgebiet allgemein bekannt machte, geboren wurde. Graham identifizierte einige kognitive und emotionale Voreingenommenheiten, die Anleger veranlassten, ein starkes Unternehmen innerhalb von zwölf Monaten 50 Prozent des Kurses verlieren zu lassen. Er untersuchte den Fall der Aktie von General Electric, die an der Börse 1937 mit 1,87 Milliarden US-Dollar und ein Jahr später mit 784 Millionen US-Dollar bewertet wurde. Graham fasste seine Ermittlungen wie folgt zusammen:

Innerhalb von zwölf Monaten ist sicherlich nichts passiert, was mehr als die Hälfte des Werts dieses starken Unternehmens hätte vernichten können, und selbst die Anleger gaben nicht einmal vor, zu behaupten, dass der Rückgang des Gewinns von 1937 bis 1938 dauerhafte Bedeutung für die Zukunft des Unternehmens habe. General Electric wurde zu 64 7/8 gehandelt, weil die Anleger eine optimistische Stimmung hatten, und zu 27 ¼, weil dieselben Leute pessimistisch waren. Diese Kurse als »Anlagewerte« oder als »Einschätzung der Anleger« zu bezeichnen, ist entweder eine Vergewaltigung der englischen Sprache oder des gesunden Menschenverstands oder beides.12

Graham lehrte seine Studenten und Leser, dass die Kurse mehr schwanken als die Werte, denn schließlich bestimmen Menschen die Kurse, während die Unternehmen Wert schaffen.

Im The Intelligent Investor fasste er die wilden Kursausschläge in einer Geschichte über einen hypothetischen Mr. Market zusammen:

Stellen Sie sich vor, Sie besitzen einen kleinen Anteil an einem privaten Unternehmen, der Sie 1000 US-Dollar kostete. Einer Ihrer Partner, ein gewisser Mr. Market, ist wirklich sehr entgegenkommend. Jeden Tag erzählt er Ihnen, wie viel Ihr Anteil seiner Meinung nach wert ist, und bietet Ihnen außerdem an, Ihren Anteil zu kaufen oder Ihnen auf dieser Grundlage einen weiteren Anteil zu verkaufen. Manchmal scheint seine Meinung bezüglich des Werts plausibel und durch die geschäftliche Entwicklung und die Ihnen bekannten Aussichten gerechtfertigt zu sein. Oft gehen jedoch seine Begeisterung oder seine Ängste mit Mr. Market durch und der von ihm vorgeschlagene Wert scheint Ihnen schon fast absurd zu sein.13

Die Welt der Finanzen schaut heute deutlich anders aus als zu der Zeit, als Graham anlegte und lehrte. 1934 wurden insgesamt 323 Millionen Aktien an der New York Stock Exchange gehandelt.14 Als ich diese Zeilen schrieb, am 9. August 2017, betrug die Gesamtzahl der an der NYSE gehandelten Aktien 3,2 Milliarden. Mehr als zehn Mal so viele Aktien wurden an diesem Tag gehandelt als im gesamten Jahr 1934! Heutzutage analysieren Supercomputer sofort die in Wirtschaftsberichten und Unternehmensabschlüssen enthaltenen Texte. Zu Grahams Zeiten galten Quartalsberichte zwar als Standard, waren aber nicht gesetzlich vorgeschrieben. Und die Berichte der Unternehmen, die diese Informationen zur Verfügung stellten, waren nicht einheitlich. Sie gaben entweder nur den Nettogewinn an oder den Gewinn beziehungsweise Verlust je Posten und die Bilanz. Graham prüfte die Gewinn- und Verlustrechnung dahingehend, ob sie einen Mindestbetrag an Umsatz, Nettogewinn, Abschreibungen, Zinskosten, betriebsfremden Einnahmen, Einkommensteuer, ausgeschütteten Dividenden und Überschussberichtigungen enthielt. Vor dem Securities and Exchange Act15 stellt weniger als die Hälfte der Industrieunternehmen diese Aufschlüsselung zur Verfügung.

Grahams Idee des Value Investing, also der Anlage in Wertaktien, schließt auch von ihm so genannte »Zigarrenstummel« ein, das heißt Firmen, die in den letzten Zügen liegen. Diese Unternehmen verfügten über hohe Immobilien-, Maschinen- und Anlagenwerte, Vorräte und Rohstoffe. Es war nicht schwer, den Wert der Sachanlagen zu ermitteln und den intrinsischen Wert zu berechnen. Von dieser Grundlage ausgehend konnte er feststellen, ob es eine Sicherheitsmarge gab. Wenn Graham noch lebte, würde er nicht verstehen, wie einige Unternehmen heute bewertet werden. Walmart zum Beispiel hat in den letzten fünf Jahren bei Erlösen in Höhe von 2,4 Billionen US-Dollar 75 Milliarden US-Dollar verdient. Die Nettomarge lag bei 3,15 Prozent und das Unternehmen verlor 3,6 Milliarden US-Dollar an Marktkapitalisierung. Amazon hingegen verdiente bei Erlösen in Höhe von 490 Milliarden US-Dollar 3,5 Milliarden US-Dollar. Die Nettomarge lag bei 0,73 Prozent, und in dieser Zeit stieg die Marktkapitalisierung um 350 Milliarden US-Dollar.16 Value Investing macht zwar intuitiv viel Sinn, doch der gesunde Menschenverstand kann von Emotionen überwältigt werden. Die Kurse können sowohl unter den Liquidationswert als auch weit über das Wachstum hinaus getrieben werden, das von einem Unternehmen vernünftigerweise erwartet werden kann. Graham könnte zwar mit ETFs oder dem Hochfrequenzhandel nichts anfangen, würde sich aber am Markt von heute zu Hause fühlen, der immer noch von den Emotionen der Anleger angetrieben wird. So wie sich die Anleger heute verhalten, von Angst getrieben und der Befürchtung, etwas zu verpassen, würde ihm das sehr bekannt vorkommen.

Roger Lowenstein sagte: »Graham brauchte 20 Jahre – das heißt, einen vollständigen Zyklus vom Bullen-Markt der Goldenen Zwanziger Jahre bis zu den dunklen, beinahe ruinösen Tagen Anfang der 1930er-Jahre –, um seine Anlagephilosophie zu einer Wissenschaft zu verfeinern, die so stringent war wie die Euklidischen Theoreme, die er an der Universität studiert hatte.«17 Kehren wir an den Anfang zurück.

1923 gründete Graham erstmalig eine Investment-Gesellschaft, die Graham Corporation, in der er Arbitrageverfahren, den gleichzeitigen Kauf von unterbewerteten Wertpapieren und den Leerverkauf von überbewerteten Wertpapieren anwandte. Diese Tätigkeit dauerte zwei Jahre und 1926 gründete er das Benjamin Graham Joint Account. Die Struktur dieses Anlagevehikels sah vor, dass er 20 Prozent der ersten 20 Prozent der Gewinne erhielt, 30 Prozent der nächsten 30 Prozent und 50 Prozent des Restbetrags. 1926 erzielte er eine Rendite von 32 Prozent, der Dow Jones Industrial Average lediglich 0,34 Prozent. Sein Erfolg sprach sich an der Wall Street herum und der berühmte Finanzier Bernard Baruch fragte Graham, ob er sein Partner werden wolle. Graham fühlte sich geschmeichelt, doch da er im Jahr zuvor einen Gewinn von 600 000 US-Dollar erzielt hatte, hatte er keinen Grund, diese Einladung anzunehmen.18 Er begann mit 450 000 US-Dollar, die sich in nur drei Jahren auf 2 500 000 US-Dollar vervielfachten. In diesem Buch geht es jedoch um die Lektionen, die wir aus den Fehlschlägen der besten Investoren aller Zeiten lernen können. Die warteten auch auf Graham.

Im letzten Jahr des langen Hausse-Markts der 1920er-Jahre erzielte das Joint Account eine Rendite von 60 Prozent und übertraf die 49,47 Prozent des Dow. In den letzten Monaten des Jahres 1929, als der Markt stark fiel, glich Graham seine Leerverkaufspositionen aus und behielt seine wandelbaren Vorzugsaktien, weil er glaubte, die Kurse seien zu niedrig und dass Mr. Market dummes Zeug reden würde. Er beendete das Jahr mit einem Verlust von 20 Prozent, während der Dow nur um 17 Prozent fiel. Graham hatte gerade gelernt, dass Sicherheitsmargen keine Rolle spielen, wenn das sprichwörtliche Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird.

1930, als Graham dachte, das Schlimmste sei schon vorüber, ging er mit allem, was er hatte, und noch einigem mehr in den Markt. Er nutzte Margin-Kredite, um eine, wie er glaubte, fantastische Rendite zu erzielen. Doch das Schlimmste war noch nicht vorbei und als der Dow einbrach, hatte Graham mit einem Verlust von 50 Prozent sein schlechtestes Jahr an der Wall Street. »Durch den Zusammenbruch des Markts verlor er sein gesamtes Vermögen. Er war zwar der Katastrophe des Jahres 1929 ausgewichen, ließ sich jedoch an den Markt zurücklocken, bevor der letzte Tiefpunkt erreicht war.«19 In den vier Jahren von 1929 bis zum tiefsten Stand 1932 verlor Graham 70 Prozent. Wenn ein so vorsichtiger und nachdenklicher Analyst 70 Prozent seines Kapitals verlieren kann, sollten wir sehr darauf bedacht sein, zu verstehen, dass Value Investing langfristig zwar eine wunderbare Möglichkeit, aber nicht immun gegen die kurzfristigen Unbeständigkeiten des Marktes ist.

1932, nur Wochen, bevor der Markt den tiefsten Stand erreichte, schrieb Graham in Forbes drei Artikel. In einem dieser Artikel, »Inflated Treasuries and Deflated Stockholders« (»Inflationierte Schatzpapiere und deflationierte Aktionäre«), schrieb er:

Es gibt buchstäblich dutzende Unternehmen, die auch einen Börsenwert haben, der geringer ist als ihre Bestände auf den Bankkonten … Das bedeutet, dass viele amerikanische Unternehmen mit ihrem Liquidationswert notiert sind, und dass nach der besten letzten Einschätzung der Wall Street diese Unternehmen tot mehr wert sind als lebendig.20

Mit diesem Artikel erwies sich Ben Graham als Stimme der Vernunft in einer Meute finanziell darniederliegender Zombies:

Es ist Zeit, höchste Zeit, dass die Millionen amerikanischer Aktionäre sich lange genug von den täglichen Marktberichten abwenden, um sich eine Zeitlang den Unternehmen selbst widmen zu können, deren Eigentümer sie sind und die zu ihrem Nutzen und ihrer Freude bestehen.21

Nach einem Rückgang vom höchsten zum tiefsten Punkt im Dow Jones Industrial Average um 89 Prozent war es verständlich, warum sich die Menschen so verhielten und warum eine ganze Generation Anleger nie mehr an den Markt zurückkehrte. Dass er in seiner Überzeugung standhaft blieb, dass die Wertpapieranalyse ein Unterfangen war, dass sich lohnte, ist umso bemerkenswerter.

Von 1926 bis 1935 erzielte seine Gesellschaft jährlich eine Rendite von 6 Prozent, im Vergleich zu 5,8 Prozent für den S&P 500 und 3,8 Prozent für den Dow.22 Trotz der schweren Zeiten und des enormen Rückgangs führte Graham seine Geschäfte unter der Annahme weiter, dass Value Investing die intelligenteste Möglichkeit ist, überragende Ergebnisse zu erzielen. Im Glauben, dass Aktien schließlich ihren wahren Wert finden werden, stand im Prospekt der Graham-Newman Corporation, ihre Anlagepolitik sei, »Aktien unter ihrem intrinsischen Wert zu kaufen, der durch eine sorgfältige Analyse ermittelt wurde, wobei besonderer Nachdruck auf den Kauf von Wertpapieren unter ihrem Liquidationserlös gelegt wird«.23 Als er gefragt wurde, was die Ursache dafür sein könnte, dass eine Aktie ihren Wert findet, antwortete Graham: »Das ist eines der Rätsel unseres Geschäfts und es ist ein Rätsel für mich wie für alle anderen. Aus Erfahrung wissen wir, dass der Markt am Ende den Wert einholt. Er realisiert ihn auf die eine oder andere Weise.«24 Der Markt bestätigt Graham, denn langfristig ist der Kauf billiger Aktien eine großartige Strategie. Graham-Newman schnitt 20 Jahre lang fast jedes Jahr 3 Prozent besser ab, eine Bilanz, die sehr wenige je erreichten.25

Die Tatsache, dass Anleger bereit sind, mindestens das Fünffache des Gewinns der letzten zwölf Monate und höchstens das 34-Fache zu zahlen, zeigt, dass es nicht reicht, sich nur auf die Bewertung zu verlassen. Wenn Sie kein überzeugter Value Investor sind und selbst, wenn Sie einer sind, kann es mental anstrengend sein, diese langen Zeiten zu überleben, wenn der Markt nach oben oder unten den Preis vom Wert trennt. Sie haben das Recht, jeden Preis zu bezahlen, den Sie für den fairen Wert einer Aktie halten. Glauben Sie, dass 25-Fache des Gewinns der letzten zwölf Monate ist ein zu hoher Preis? Möchten sie beim Zehnfachen alles einsetzen? Okay, aber Sie sollten verstehen, dass das Warten darauf, dass sich die Bewertung »normalisiert«, das Vermächtnis einiger der größten Investoren, die je gelebt haben, geschmälert hat. Sie können alles über die Stimmungsschwankungen von Mr. Market lesen, aber das macht Sie nicht zu einem Dr. Freud.

Auch wenn Graham der Pionier der Wertpapieranalyse war, so war er doch bescheiden und aufgeschlossen für die Vorstellung, dass das, was immer funktionierte, jetzt nicht mehr funktioniert, und dass das, was heute funktioniert, in Zukunft möglicherweise nicht mehr so gut funktioniert. Er sagte:

Leider macht man bei dieser Art Arbeit, bei der man versucht, Beziehungen aufgrund von Verhalten in der Vergangenheit festzustellen, fast immer die Erfahrung, dass gerade dann neue Bedingungen die alten ersetzen und die Bewertung in Zukunft nicht mehr verlässlich ist, wenn man lange genug Zeit hatte, Zutrauen zu seiner Art der Bewertung zu fassen.26

Value Investing »funktioniert« noch immer, doch gerade weil es in der Vergangenheit so unglaublich gut funktionierte, haben sich viele ehrgeizigen Warren Buffetts dieser Methode verschrieben. Dadurch ist es viel schwieriger geworden, unterbewertete Anlagemöglichkeiten ausfindig zu machen. Graham erkannte diese Dynamik lange bevor dies zu einer weit verbreiteten Überzeugung geworden war. 1976 sagte er in einem Interview:

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Er wurde gefragt, ob die »Wall-Street-Profis gewöhnlich genauere kurz- und langfristige Markttrends und Prognosen von Trends am Aktienmarkt erstellten, und wenn nicht, warum nicht?«. Mit einem Lächeln antwortete er:

Nun, wir sind dieser interessanten Frage seit einer Generation oder länger nachgegangen und ich muss offen sagen, unsere Forschung weist darauf hin, dass Sie zwischen dem Wurf einer Münze und der Übernahme der einhelligen Expertenmeinung wählen können und dass das Ergebnis in jedem Fall ungefähr gleich ist. Ihre Frage, warum sie nicht verlässlicher sind, ist sehr gut und interessant und meine eigene Erklärung dafür lautet, dass alle an der Wall Street so smart sind, dass sie sich in ihrer Brillanz gegenseitig aufheben. Und dass, was immer sie auch wissen, in den Aktienkursen ziemlich genau wiedergeben ist, und dass das, was in Zukunft passiert, daher das ist, was sie nicht wissen.28

Es ist sehr wichtig, die Bedeutung von Wert zu kennen, noch wichtiger ist aber, nicht ein Sklave dieser Vorstellung zu werden. Graham brachte uns bei, dass es in der Welt der Finanzen keine eisernen Gesetze gibt und dass billig noch billiger werden kann.

Wie jede Lektion, die dieses Buch enthält, verhält es sich leider so, dass für die meisten dieser Lektionen Lehrgeld gezahlt werden muss. Niemand kann Ihnen erzählen, dass die Auswahl einer Aktie schwierig ist und dass Sie mit einem Indexfonds besser dran sind. Sie werden nie glauben, dass eine Aktie, die in einem Jahr um 50 Prozent fällt, nicht notwendigerweise ein günstiger Kauf sein könnte. Sie müssen einige dieser fallenden Messer fangen, bevor sich Narben entwickeln und Sie lernen, dass ein fallender Kurs möglicherweise nicht gleichzusetzen ist mit einem besseren Wert. Viele der in diesem Buch behandelten Investoren begannen mit den Lehren von Ben Graham, doch auch sie mussten ihren eigenen Weg finden – wie Sie.

Anmerkungen

  1. 1 In deutscher Sprache erschienen unter dem Titel Die Geheimnisse der Wertpapieranalyse. Überlegenes Wissen für Ihre Anlageentscheidung.
  2. 2 Benjamin Graham und David L. Dodd, Security Analysis, New York 2008, Seite 61.
  3. 3 Jason Zweig, »A Note about Benjamin Graham«, in Benjamin Graham, The Intelligent Investor, New York 2003, xi.
  4. 4 Graham und Dodd, Security Analysis, Seite 67.
  5. 5 In deutscher Sprache erschienen unter dem Titel Intelligent Investieren: Der Bestseller über die richtige Anlagestrategie.
  6. 6 Warren Buffett, »Preface to the Fourth Edition«, in Benjamin Graham, The Intelligent Investor, New York 2003, ix.
  7. 7 Zitiert in Roger Lowenstein, Buffett: The Making of an American Capitalist, New York 2008, Seite 36.
  8. 8 Zitiert in Rupert Hargreaves, »Why Charlie Munger Hates Value Investing«, Nasdaq.com, 13. April 2017.
  9. 9 Graham und Dodd, Security Analysis, Seite 373.
  10. 10 Benjamin Graham, »Securities in an Insecure World« (Rede auf einer Versammlung im St. Francis Hotel, San Francisco, CA, 15. November 1963).
  11. 11 Graham und Dodd, Security Analysis, Seite 66.
  12. 12 Graham und Dodd, Security Analysis, Seite 30.
  13. 13 Benjamin Graham, The Intelligent Investor, New York 2003.
  14. 14 New York Stock Exchange, »Daily Share Volume 1930-1939«.
  15. 15 US-Gesetz von 1934, das die Handelsbedingungen von Wertpapieren und Publizitätsanforderungen regelt.
  16. 16 Daten zur Verfügung gestellt von Ycharts, Berechnungen des Autors.
  17. 17 Roger Lowenstein, »Introduction to Part I,« in Graham/Dodd, Security Analysis, 6. Auflage, New York 2008, Seite 41.
  18. 18 Irving Kahn und Robert D. Milne, »Benjamin Graham: The Father of Financial Analysis« (Charlottesville, VA: Financial Analysts Research Foundation, 1977).
  19. 19 John Train, Money Masters of Our Time, New York 2003.
  20. 20 Benjamin Graham, »Inflated Treasuries and Deflated Stockholders«, Forbes, 1. Juni 1932.
  21. 21 Benjamin Graham, »Inflated Treasuries and Deflated Stockholders«, Forbes, 1. Juni 1932.
  22. 22 Kahn und Milne, »Benjamin Graham«, Seite 42.
  23. 23 Benjamin Graham und Jerome A. Newton, Brief an die Graham-Newton Corporation-Anteilseigner, 31. Januar 1946.
  24. 24 Benjamin Graham und Jerome A. Newton, Brief an die Graham-Newton Corporation-Anteilseigner, 31. Januar 1946.
  25. 25 Roger Lowenstein, Buffett: The Making of an American Capitalist, New York 2008, Seite 58.
  26. 26 Jason Zweig, »A Rediscovered Masterpiece by Benjamin Graham«, JasonZweig.com, 31. März 2015.
  27. 27 Benjamin Graham, »A Conversation with Benjamin Graham«, Financial Analysts Journal 32, Nr. 5 (September/Oktober 1976), Seiten 20-23.
  28. 28 »Legacy of Benjamin Graham: The Original Adjunct Professor«, Heilbrunn Center for Graham and Dodd Investing, Columbia Business School, 1. Februar 2013.