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Bernard Marr

Künstliche Intelligenz in Unternehmen

Innovative Anwendungen in 50 erfolgreichen Firmen

 

Aus dem Englischen von Ursula Bischoff

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WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA

EINFÜHRUNG

Eines ist absolut klar: Künstliche Intelligenz (KI oder AI = Artificial Intelligence) wird die Welt ein für alle Mal verändern. Und der Wandel wird tief greifender sein, als den meisten Menschen heute bewusst ist. Ungeachtet des Berufs, den Sie ausüben, und der Branche oder Industrie, der Sie angehören, wird die KI Ihr Arbeitsumfeld erweitern, wenn nicht gar vollständig transformieren.

KI verleiht Maschinen die Macht, zu sehen, zu schmecken, zu riechen, zu berühren, zu sprechen, zu gehen, zu fliegen und zu lernen. Das versetzt Unternehmen wiederum in die Lage, völlig neue Interaktionsmöglichkeiten mit ihren Kunden zu entwickeln, ihnen intelligentere Produkt- und Dienstleistungserfahrungen anzubieten, Arbeitsabläufe zu automatisieren und ihre Erfolgsbilanz zu maximieren.

Nicht zuletzt handelt es sich aber bei der künstlichen Intelligenz auch um ein Trendthema, das polarisiert, für beträchtlichen Medienrummel und Verwirrung sorgt. Die einen betrachten KI als die ultimative Bedrohung für unsere Zivilisation, die anderen sehen darin den Retter, der die größten Probleme der Menschheit zu lösen vermag, gleich ob Klimawandel oder Krebserkrankungen. In diesem Buch werden wir einen Blick hinter die Kulissen von Presserummel und Panikmache werfen, um uns ein klares Bild zu machen, wo und wie die KI in unserer heutigen Wirtschaft bereits eingesetzt wird.

Mit der Beschreibung der aktuellen und innovativsten Anwendungsbeispiele aus der realen Welt der verschiedensten Wirtschaftssektoren wollen wir die Mythen entschleiern, die sich um die KI ranken, und gleichzeitig auf die enormen Chancen hinweisen, die sie uns eröffnet. Dieses Buch richtet sich an alle, die die KI besser verstehen wollen, deshalb haben wir versucht, die technischen Einzelheiten auf eine allgemein nachvollziehbare Ebene zu beschränken. So wurden gerade so viele fachspezifische Informationen einzufügen, um die Lektüre auch für diejenigen Leser interessant zu machen, die bereits im KI-Bereich arbeiten.

In diesem Buch werden Sie Einsicht in die Anwendungspraxis einiger KI-Giganten wie Google, Facebook, Alibaba, Baidu, Microsoft, Amazon und Tencent bekommen, aber auch erfahren, wie traditionelle, etablierte Unternehmen aus den unterschiedlichsten Branchen und innovative Start-ups sie nutzen. Wir hoffen, Ihnen damit ein realistisches Bild vom gegenwärtigen Stand der Wissenschaft und Technik zu präsentieren: in Feldern, in denen die KI als Wegbereiter in rasender Geschwindigkeit vorauseilt und zahlreiche traditionsverhaftete Wettbewerber schon kurz nach dem Start hinter sich lässt; in Bereichen, in denen viele traditionelle Unternehmen hart daran arbeiten, sich neu zu erfinden, um im Rennen zu bleiben; und in Bereichen, in denen sich Start-ups die KI zu eigen machen, um KI-Pioniere und traditionelle Unternehmen gleichermaßen herauszufordern.

Die mächtigste Technologie der Menschheit

KI ist heute die wirkungsmächtigste Technologie, die uns als Menschheit zur Verfügung steht. Sie zu ignorieren wäre der größte Fehler, den wir begehen könnten. Staaten- und Firmenlenker haben sowohl das Ausmaß der Chancen, die mit ihr einhergehen, als auch die Gefahr erkannt, im KI-Goldrausch abgehängt zu werden.

In den USA hat das Weiße Haus etliche Grundsatzdokumente veröffentlicht, um die Aufmerksamkeit auf die strategische Bedeutung der KI zu lenken. 2016, zur Amtszeit von Präsident Barack Obama, erschien der erste Bericht mit dem Titel »Preparing for the Future of Artificial Intelligence«1; er legte das Fundament für die KI-Strategie, mit der sich die USA für die Zukunft zu rüsten gedenkt. 2018 gab die Trump-Administration nach einem KI-Gipfel im Weißen Haus »Artificial Intelligence for the American People2 heraus, eine offizielle Verlautbarung, in der Präsident Trump erklärte: »Wir befinden uns an der Schwelle zu neuen technologischen Umwälzungen, die buchstäblich jeden Aspekt unseres Lebens verändern, immensen neuen Wohlstand für amerikanische Arbeitnehmer und ihre Familien schaffen und vollkommen neue Grenzbereiche in der Wissenschaft, Medizin und Kommunikation eröffnen werden, die es zu erobern gilt.« Die US-Administration ist bestrebt, die US-Führungsposition im KI-Sektor durch eine Beschleunigung der KI-Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten und Schulung der Erwerbstätigen zu halten, um die Potenziale der Künstlichen Intelligenz vollumfänglich auszuschöpfen.3

Der russische Präsident Putin erklärte: »Künstliche Intelligenz ist die Zukunft, nicht nur für Russland, sondern für die gesamte Menschheit. […] Wer auch immer die Führung auf diesem Gebiet übernimmt, wird die Welt regieren.«4 China hat vermutlich den höchst ehrgeizigen Plan gefasst, sich bis 2030 weltweit als Nummer Eins auf dem Feld der KI zu profilieren.5 In Europa gab die EU-Kommission 2018 ihre Strategie bekannt: »Wie die Dampfmaschine oder die Elektrizität in der Vergangenheit, bewirkt die KI eine Transformation unserer Welt, unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft. Das exponentielle Wachstum der Rechenkapazität, die Verfügbarkeit von Daten und die Fortschritte bei der Feinoptimierung der Algorithmen haben die KI zu einer der strategisch wichtigsten Technologien des 21. Jahrhunderts gemacht. Es steht unendlich viel auf dem Spiel. Unsere Herangehensweise an die KI wird die Welt definieren, in der wir leben.«6

Die führenden Köpfe der Wirtschaft stimmen dieser Einschätzung zu. Amazon-Chef Jeff Bezos ist überzeugt, dass das »goldene Zeitalter« der KI begonnen hat und Problemlösungen ermöglicht, die wir früher dem Science-Fiction-Bereich zugeordnet hätten.7 Google-Mitbegründer Sergey Brin sagte: »Der neue Frühling, der mit der KI angebrochen ist, könnte sich als wichtigste Datenverarbeitungsentwicklung zu meinen Lebzeiten erweisen.«8 Und Satya Nadella, CEO von Microsoft, stufte die KI als »prägende Technologie unserer Zeit« ein.9 Klaus Schwab, Gründer und Geschäftsführender Vorsitzender des Weltwirtschaftsforums, glaubt wie viele andere, dass die KI (vor allem in Kombination mit anderen technologischen Innovationen) eine Vierte Industrielle Revolution anzustoßen beginnt, die alle Teile der Wirtschaft und Gesellschaft von Grund auf verändern wird.10

Was ist Künstliche Intelligenz? Der Aufstieg des Deep Machine Learning

KI ist weder neu noch mit magischen Kräften ausgestattet. Die Ersten KI-Prototypen gehen auf die 1950er-Jahre zurück. KI bezieht sich auf die Fähigkeit von Computersystemen oder Maschinen, intelligente Verhaltensweisen zu entwickeln, die eigenständiges Handeln und Lernen ermöglichen. In seiner grundlegendsten Form sammelt sie Daten zur Lösung eines Problems, leitet Berechnungsvorgänge nach bestimmten Handlungsvorschriften ein (Algorithmen) und trifft dann Entscheidungen oder sagt Ergebnisse voraus.

Die Daten können zum Beispiel Bilder von handgeschriebenen Wörtern, Buchstaben oder Zahlen sein. Der Algorithmus wäre dann ein Computerprogramm, von einem Menschen geschrieben, das bestimmte Regeln beinhaltet, beispielsweise die übliche Form jedes einzelnen Buchstaben oder die Abstände zwischen den einzelnen Wörtern als Muster festlegt. Anhand dessen kann der Rechner die gescannten Bilder handgeschriebener Texte analysieren, die Regeln anwenden und Voraussagen über die darin vorkommenden Buchstaben, Zahlen und Wörter treffen; die Maschine ist somit fähig, Handschriften zu erkennen. Diese KI-Variante wurde bereits 1997 vom US Postal Service eingesetzt, um Anschriften auf Briefen automatisch zu entziffern. Für eng begrenzte Anwendungen hat sie sich bestens bewährt.

Diese regelbasierte KI sieht sich indes Schwierigkeiten gegenüber, wenn es um komplexere Aufgaben geht oder die Regeln sich nicht so leicht erklären und als Programm in Algorithmen eingeben lassen. Sprechen, gehen oder einen Freund in einer Menschenmenge erkennen sind Beispiele für Fähigkeiten, die wir durch Erfahrung erworben haben, aber nicht ohne Weiteres an eindeutigen Regeln festmachen können.

Diese Fähigkeiten haben wir mithilfe eines neuronalen Netzwerks in unserem Gehirn entwickelt, das beispielsweise darauf programmiert ist, ein Gesicht zu erkennen, indem wir es im Lauf der Zeit aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten; gehen und sprechen haben wir durch systematisches Ausprobieren, nach der Versuch-und-Irrtum-Methode, gelernt. In modernen KI-Systemen wird dieser Prozess mithilfe künstlicher neuronaler Netzwerke grundlegend nachgeahmt, doch statt die Regeln von Menschenhand zu programmieren, überlassen wir es den Maschinen, sie in eigener Regie zu entwickeln, ähnlich wie unser Gehirn aus Erfahrungen lernt. Diesen Vorgang bezeichnet man als Machine Learning oder maschinelles Lernen.

Beim maschinellen Lernen oder Machine Learning wird die KI beispielsweise mit zigtausenden Bildern trainiert, die entweder menschliche Gesichter zeigen oder nicht. Der Computer nimmt die Informationen auf und erzeugt seine eigenen Algorithmen, entweder völlig selbstständig (unüberwachtes maschinelles Lernen) oder mit menschlicher Unterstützung (überwachtes oder teilüberwachtes maschinelles Lernen). Wenn in einem Machine-Learning-System mehrere Schichten künstlicher neuronaler Netze beteiligt sind, um aus dem Datentraining zu lernen (was ihre Leistungsfähigkeit erhöht), sprechen wir von Deep Learning oder tiefgehendem Lernen.

Deep Learning hat uns viele Fortschritte jüngeren Datums auf dem Gebiet der KI ermöglicht, beispielsweise die Fähigkeit von Computern, zu sehen und zu erkennen, wer oder was sich in einem Bild oder Video (Machine Vision oder maschinelles Sehen) befindet. Es hat Maschinen befähigt, geschriebene Texte oder gesprochene Worte zu verstehen und zu reproduzieren; die natürliche Sprachverarbeitung (Natural Language Processing) kommt bei Website-Chatbots, den textbasierten Dialogsystemen, oder virtuellen Smart-Home-Assistenten wie beispielsweise Amazon Echo zur Anwendung.

Es gibt zwei wichtige Gründe, warum Deep-Learning-Algorithmen heute boomen:

  1. Wir haben genug Daten: Mit Daten als Rohmaterial kann sich die KI weiterentwickeln, und in der heutigen Welt der Big Data generieren wir mehr Daten als jemals zuvor. Die Digitalisierung unserer Welt bedeutet, dass fast alle unsere Aktivitäten Datenspuren hinterlassen und wir zunehmend von intelligenten Geräten umgeben sind, die Daten sammeln und übermitteln. Das führt zu einem exponentiellen Wachstum des Datenvolumens und der Datenarten, die wir nutzen können, um die KI zu trainieren.
  2. Wir haben genug Rechenleistung: Wir sind heute in der Lage, riesige Datenmassen zu speichern und zu verarbeiten. Durchbrüche im Cloud Computing gestatten Unternehmen, beinahe unbegrenzte Datenmengen zu speichern und mittels verteilter Verarbeitung nahezu in Echtzeit zu analysieren. Darüber hinaus tragen die Fortschritte in der Chip-Technologie dazu bei, dass KI-Rechenoperationen inzwischen auf Geräten wie dem Smartphone oder anderen miteinander vernetzten smarten Produkten durchgeführt werden können. Sie werden als Edge Computing, oder dezentrale Datenverarbeitung am Rande des Netzwerks auf miteinander verknüpften physischen und virtuellen Objekten bezeichnet; sie bedienen sich der Technologie des »Internets der Dinge« (IoT), um Interaktionen zwischen Menschen und Systemen zu ermöglichen.

Wir Menschen lernen und verbessern unsere Fähigkeiten fortwährend durch unsere Erfahrungen. Dieser »Lernen durch Handeln«-Ansatz kann inzwischen auch von Machine-Learning-Algorithmen mithilfe des »verstärkenden Lernens« (Reinforcement Learning) bewerkstelligt werden. Ähnlich wie Kleinkinder laufen lernen, indem sie die Bewegungsabläufe ihren Erfahrungen anpassen, beispielsweise es zunächst mit kleineren Schritten probieren, nachdem sie bei größeren hingefallen sind, nutzt die KI Algorithmen, die auf der Grundlage von Rückmeldungen aus dem Umfeld die ideale weitere Vorgehensweise ermitteln. Verstärkendes Lernen verleiht den Maschinen (beispielsweise Robotern) die Fähigkeit, selbstständig zu gehen, Auto zu fahren oder zu fliegen. Viele federführende Anwendungen im Bereich des maschinellen Lernens kombinieren »tief greifende« und »verstärkende« Lerntechniken.

Wenn Sie mehr über dieses faszinierende Thema erfahren möchten, finden Sie unter www.bernardmarr.com zahlreiche Artikel und Videos mit Informationen über KI und Machine-Learning-Systeme.

Chancen der KI für Unternehmen

Es gibt drei wichtige Anwendungsbereiche für die KI im Geschäftsleben, die sich bis zum einem gewissen Grad überschneiden können, aber dazu beitragen, die vielfältigen Chancen zu segmentieren, die sie bietet. Unternehmen können die KI nutzen: (1) um ihre Kundenkenntnis und Kundeninteraktionen zu verbessern; (2) um intelligentere Produkte und Dienstleistungen anzubieten; und (3) um Geschäftsvorgänge zu optimieren und zu automatisieren.

Kunden

KI kann Unternehmen helfen, besser zu verstehen, wer ihre Kunden sind und welche Produkte und Dienstleistungen sie sich wünschen; sie kann Markttrends und Nachfrageentwicklungen vorhersagen und Wege zu stärker personalisierten Interaktionen mit Kunden aufzeigen. In diesem Buch werfen wir einen Blick auf Unternehmen wie Stitch Fix und Facebook, die KI einsetzen, um ihre Kunden besser kennenzulernen.

Produkte und Dienstleistungen

KI kann den Unternehmen helfen, ihren Kunden intelligente Produkte und Dienstleistungen anzubieten. Kunden wünschen sich smarte Produkte, beispielsweise intelligente Smartphones, intelligente Autos und intelligente Haustechnik. In diesem Buch werden Sie sehen, wie Apple, Samsung und namhafte Autohersteller wie Tesla und Volvo die KI nutzen, um smartere Produkte auf den Markt zu bringen, und wie Spotify, Disney oder Uber smartere Dienstleistungen für ihre Kunden entwickeln.

Automatisierte Prozesse

Die KI kann dazu beitragen, Geschäftsprozesse zu verbessern und zu automatisieren. In diesem Buch nehmen wir Beispiele wie JD.com unter die Lupe, ein chinesisches Internetunternehmen, das seine Einzelhandelsaktivitäten mit autonomen Drohnen, automatisierten Fullfillment- oder Logistikzentren und Lieferrobotern ausgebaut hat. Wir schauen uns außerdem an, wie KI die medizinische Diagnostik in den Infervision- und Elsevier-Fallstudien und die Qualitätskontrolle der Schnellrestaurantkette Domino’s Pizza automatisieren konnte.

Die strategische Nutzung der KI

Die Erforschung der KI-Anwendungsoptionen in gleich welcher Branche hat oft eine Auffrischung des Geschäftsmodells oder eine vollständige Umgestaltung des unternehmerischen Ansatzes zur Folge. Es gilt jedoch zu bedenken, dass die KI nicht zur Automatisierung oder Verbesserung eines Geschäftsmodells eingesetzt werden sollte, das im Zuge der Vierten Industriellen Revolution obsolet sein wird.

Ausgangspunkt für jede KI-Anwendung sollte eine KI- und Datenstrategie sein. Sie ermittelt die größten strategischen Chancen und Bedrohungen für gleich welches Unternehmen und listet die wirkungsvollsten Einsatzmöglichkeiten genau auf. Es muss klar sein, dass wildes, ungeschliffenes Experimentieren mit KI nicht die Wirkungen hervorbringt, die für den Unternehmenserfolg unerlässlich sind.

Künstliche Intelligenz in der Praxis

In diesem Buch finden Sie 50 Anwendungsfälle auf Unternehmensebene mit den entscheidenden Beispielen, wie KI für Problemlösungen in der realen Welt nutzbar gemacht werden kann. Das Buch ist in fünf Teile gegliedert.

Der erste Teil enthält Fallstudien von KI-Wegbereitern. Diese Tech-Firmen haben die Chancen der KI ergriffen und als Möglichkeit betrachtet, Geschäftsfelder radikal umzubauen und äußerst attraktive Resultate zu liefern. Die meisten haben die innovativen Anwendungen der KI inzwischen in alle Aspekte ihrer unternehmerischen Aktivitäten integriert und können daher wertvolle Einsichten in die technischen Möglichkeiten bieten. Wir hätten die restlichen Fallstudien anders anordnen können, beispielsweise nach KI-Anwendungen oder Branchen. Gestützt auf das Feedback, das wir erhielten, haben wir uns für die folgenden branchenspezifischen Segmentierungen entschieden:

Im zweiten Teil des Buches beschäftigen wir uns mit dem Einzelhandel, der Konsumgütergüterbranche und der Nahrungs- und Genussmittelindustrie. Im dritten Teil erkunden wir, wie Medien, Unterhaltungs- und Telekommunikationsunternehmen die KI einsetzen. Im Mittelpunkt des vierten Teils steht der Dienstleistungssektor, Finanzdienste und Gesundheitswesen eingeschlossen. Und im fünften Teil analysieren wir 4.0-Fallstudien im Fertigungs-, Kraftfahrzeug- und Luftfahrtsektor.

Sie können das Buch von Anfang bis Ende lesen, aber auch einzelne Fallstudien oder Branchen herausgreifen, die Sie besonders interessieren. Wir wünschen Ihnen viel Spaß dabei!

Anmerkungen

  1. 1 Preparing for the Future of Artificial Intelligence, Executive Office of the President, National Science and Technology Council, National Science and Technology Council Committee on Technology, October 2016: https://obamawhitehouse.archives.gov/sites/default/files/whitehouse_files/microsites/
    ostp/NSCT/preparing_for_the_future_of_ai.pdf.
  2. 2 Artificial Intelligence for the American People, The White House: https://www.whitehouse.gov/briefings-statements/artificial-intelligence-american-people/
  3. 3 Zusammenfassung des White House Summit 2018 über AI für die US-amerikanische Industrie. The White House Office of Science and Technology Policy, 10. Mai 2018: https://www.whitehouse.gov/wp-content/uploads/2018/05/Summary-Report-of-White-House-AI-Summit.pdf.
  4. 4 »Whoever leads in AI will rule the world«: Putin an russische Kinder am Tag des Wissens: https://www.rt.com/news/401731-ai-rule-world-putin/
  5. 5 A Next Generation Artificial Intelligence Development Plan: https://hat www.gov.cn/zhengce/content/2017-07/20/content_5211996.htm und Dreijahres-Aktionsplan zur Förderung der Entwicklung einer neuen KI-Industriegeneration: http://www.miit.gov/cn/n1146295/n1652858/n1652930/n3757016/c5960820/content.html
  6. 6 Kommuniqué der Kommission des Europaparlaments, des Rats der Europäischen Union, des Europäischen Rats, des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, und des europäischen Ausschusses der Regionen über die Künstliche Intelligenz für Europa, Brüssel 2018: https://ec.europa.eu/digital-single-market/en/news/communication-artificial-intelligence-europe
  7. 7 AI is in a »golden age«, Jeff Bezos, CNBC: https://www.cnbc.com/2017/05/08/amazon-jeff-bezos-artificial-intelligence-ai-golden-age.html
  8. 8 Google`s Sergey Brin warns: https://www.theverge.com/2018/4/28/17295064/google-ai-threat-sergey-brin-founders-letter-technology-renaissance
  9. 9 CEO von Microsoft: https://www.cnbc.com/2018/05/24/microsoft-ceo-satya-nadella-on-the-rise-of-a-i-the-future-we-will-invent-is-a-choice-we-make.html
  10. 10 Die Vierte Industrielle Revolution: https://www.weforum.org/agenda/2016/01/the-fourth-industrial-revolution-what-it-means-and-how-to-respond/

1. Teil
WEGBEREITER DER KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ


1. ALIBABA
Intelligenz für die B2B- und B2C-Dienstleistungen von morgen

Die Alibaba Group ist ein multinationales chinesisches Konglomerat; es betreibt das weltweit größte elektronische Handelsnetzwerk über seine Web-Portale, das sind unter anderem die Business-to-Business-Handelsplattform Alibaba.com, das Online-Auktionshaus Taobao, das Online-Kaufhaus Tmall, und die Business-to-Customer-Handelsplattform AliExpress. Mit globalen Umsätzen, gegen die sich die Umsätze Amazons und eBays zusammengenommen zwergenhaft anmuten1, hat es seine Erfahrungen aus dem Aufbau einer globalen Online-Einzelhandelsplattform auf Firmen angewendet, die in nahezu jeder Branche und Technologiesparte verortet sind. Dieser Megaerfolg hat dem Anbieter von E-Commerce- und Einzelhandelsdiensten mit eigenem elektronischen Bezahlsystem und Cloud-Serviceleistungen im B2B-Sektor eine Marktkapitalisierung von mehr als 500 Milliarden US-Dollar beschert.

Die Kunden der Alibaba Group nutzen die KI-Anwendungstools, um bei einem Besuch der Onlineportale das Gewünschte zu finden, und als einer der weltweit größten Cloud-Computing-Provider vergibt die Gruppe außerdem Lizenzen für Plattformen, Tools und Cloud-Dienste, um deren KI auch in anderen Firmen wirksam zum Einsatz zu bringen.

Darüber hinaus trägt Alibaba dazu bei, die KI in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen zu integrieren, beispielsweise mit Projekten wie dem Umbau ganzer Metropolen zu »Smart Cities«, das heißt, Städte effizienter, technologisch fortschrittlicher, grüner und sozialverträglicher zu gestalten. Geplant sind ferner revolutionäre Veränderungen für die chinesische (und vielleicht weltweite) Agrarindustrie, um das Problem der Ernährung einer stetig wachsenden Bevölkerung zu lösen.

Wie wird KI in der Praxis eingesetzt?

Die chinesische Regierung hat die Bemühungen der Unternehmen, die KI einzuführen, nachdrücklich unterstützt; sie ist fest überzeugt, dass sie über ein enormes Potenzial als Wachstumstreiber der Wirtschaft verfügt. Sie zielt darauf ab, eine Billionen-Industrie aufzubauen und bis 2030 auf dem Gebiet der KI weltweit führend zu sein.2

In Verbindung mit der Tatsache, dass die riesige Bevölkerung des Landes den Unternehmen Zugang zu gewaltigen Datenmengen über das Leben der Konsumenten gewährt, stellt China einen ausgezeichneten Nährboden für die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz dar.

Alibabas E-Commerce-Portale setzten ausgeklügelte KI-Technologien ein, die entscheiden, welche Waren den Kunden präsentiert werden sollen, sobald sie das Portal besuchen und nach Produkten zum Kauf Ausschau halten. Das geschieht durch den Aufbau einer benutzerdefinierten Page View für jeden einzelnen Besucher, die ihm Waren zeigt, für die er sich interessieren könnte, zu Preisen, die angemessen scheinen.

Durch die Beobachtung und Auswertung der Kundenaktionen – ob sie gekauft, sich einen anderen Artikel angesehen oder die Website unverrichteter Dinge verlassen haben – lernt das Unternehmen in Echtzeit, die Seitenabrufe ständig anzupassen, um die Wahrscheinlichkeit eines Kaufabschlusses bei einem Besuch zu erhöhen.

Um die E-Commerce-Portale darauf zu trainieren, Besuchern diejenigen Seiten zu zeigen, die zu einem Verkauf führen könnten, hat Alibaba für sein Online-Auktionshaus Taobao eine teilüberwachte Lernmethode eingeführt, das sogenannte bestärkende oder verstärkende Lernen.3

Da es viel Zeit in Anspruch nehmen würde, Nutzerdaten in ausreichender Menge zu sammeln, um unüberwachte Lernalgorithmen auf der Grundlage von Echtzeit-Kundenaktionen zu trainieren, was obendrein reale Risiken für die Unternehmensgruppe mit sich gebracht hätte, wurde ein virtuelles Taobao-Auktionshaus errichtet, mit simuliertem Kundenverhalten, das aus hunderttausenden Stunden Arbeit mit Datensätzen aus früheren Transaktionen herausgefiltert wurde.

Die riesige Datenmenge ermöglichte den Algorithmen, mit einer erheblich breiter gefächerten Palette kundenspezifischer Verhaltensweisen in einer wesentlich kürzeren Zeitspanne in Berührung zu kommen.

Alibaba hat ebenfalls einen eigenen Chatbot auf KI-Basis entwickelt – Dian Xiaomi –, der mehr als 350 Millionen Kundenanfragen am Tag bearbeitet und mehr als 90 Prozent von ihnen erfolgreich abwickelt. Solche Tools sind unerlässlich, um die unvorstellbaren Belastungsspitzen bei temporären Verkaufsaktionen zu bewältigen, beispielsweise am »Singles’ Day«, einem Schnäppchenjäger-Event, das der Internetriese ins Leben gerufen hat.4

Automatisierte Werbetexte

Angesichts der ungeheuren Größe seines Online-Sortiments – es sind mehrere Millionen Produkte – hat Alibaba in die automatisierte Content-Generierung investiert. Automatisch erstellte Inhalte, die für Nutzer interessant sein könnten, ersparen die Mühe, für jedes einzelne Produkt eine möglichst griffige Beschreibung zu liefern. Die Tools sind auch für Dritthändler verfügbar, die über den Marktplatz des Unternehmens verkaufen.

Die KI-Werbetexter benutzen Algorithmen für die natürliche Sprachverarbeitung, die auf neuronalen Deep-Learning-Netzwerken basieren und innerhalb einer Sekunde 20 000 Werbezeilen produzieren.5

Traditionsgemäß müssen Werbetexter stundenlang Keywords und Click-Through-Rates (CTR) durchforsten – das Verhältnis von Klicks auf eine Anzeige zur Gesamtzahl der Werbemittelaufrufe –, um herauszufinden, was Kunden dazu veranlasst, ihren Link auf einer Seite mit Produktsuche-Ergebnissen anzuklicken. Der KI-Werbetexter ermöglicht Alibaba und anderen Händlern auf seiner Plattform, sich mit einem Klick einen Überblick über die Wirksamkeit ihrer Werbemittel und Medienkanäle zu verschaffen.

Multiple Versionen von Werbeanzeigen werden bereitgestellt, und dann Algorithmen darauf angewendet, die auf die Analyse von Daten über das Kundenverhalten trainiert sind. Das System ermittelt schließlich, welche Wortkombinationen zu den meisten Klicks führen könnten und verwendet diese für die Gestaltung seiner Werbetexte.

Cloud Services

Genau wie Amazon und Google bietet Alibaba seinen Unternehmenskunden KI-Dienste über seine Cloud an. Sein Cloud-Service-Angebot ist das umfangreichste aller chinesischen Technologie-Giganten.6

Alibabas KI-Angebot wird als maschinelle Lernplattform für KI bezeichnet; sie bietet Lösungen für Firmen, die »Cognitive Computing«, sprich die Simulation menschlicher Denkprozesse nutzen möchten, beispielsweise natürliche Sprachverarbeitung und Computer Vision, um Informationen aus visuellen Daten abzuleiten; so spart man die Vorlaufkosten, die anfallen würden, wenn man direkt in Infrastruktur investieren müsste.

Alibabas natürliche Sprachverarbeitungstechnologie war weltweit die erste, die einen Test der Stanford University bestand, mit dem man feststellen wollte, ob eine Maschine dem Menschen in puncto Leseverstehen überlegen ist.

2018 erzielte seine Deep-Learning-Sprachverarbeitungstechnologie in einem Test mit 100 000 Fragen 82,44 Punkte – und war damit eine Spur besser als die menschlichen Ergebnisse, die 82,3 Punkte betrugen.7

Smart Cities

Alibaba hat eine Reihe cloudbasierter KI-Tools entwickelt, die wichtige Aufgaben in den Städten übernehmen sollen, beispielsweise die Regelung des Verkehrs oder die Beleuchtung und Abfallsammlung in Großstädten, wo die Infrastruktur durch eine smarte Online-Technologie miteinander verbunden ist.

Alibaba City Brain überwacht und lenkt bereits den Verkehr in jeder Straße der Stadt Hangzhou, einer Metropole mit 9,5 Millionen Einwohnern. Berichten zufolge konnte das System Verkehrsstaus um 15 Prozent reduzieren8, und es soll bald auch in Kuala Lumpur, der Hauptstadt Malaysias, eingesetzt werden.

City Brain überwacht den Verkehrsfluss und entwickelt Modelle, die es für die Vorhersage nutzen kann, wann Staus auftreten könnten. Wenn es Anzeichen erkennt, die auf eine mögliche Überlastung hindeuten, kann es die Ampelschaltungsmuster beschleunigen oder den Verkehr so leiten, dass sich weniger Staus bilden.

Alibabas KI steuert auch die smarten Fahrschein-Verkaufsautomaten in den U-Bahnstationen von Shanghai. Sie erteilen auf Anfrage Auskünfte und überprüfen mittels Gesichtserkennungstechnologie die Zugangsberechtigung der Fahrgäste.9

Smart Farming

Alibaba hat ein KI-gesteuertes Monitoringsystem entwickelt, das Vorgänge und Prozesse in der Landwirtschaft überwacht und protokolliert, beispielsweise Aktivitäten im Ackerbau, in der Viehzucht und auf Obstplantagen.

Als weltweit größter Schweinefleischlieferant und -konsument haben die chinesischen Schweinezüchter Zugang zu Tracking-Technologien, die Aktivitäts- und Gesundheitsstatus ihres Tierbestands aufzeichnen und Entscheidungsprozesse automatisieren, beispielsweise wann die Futtermenge erhöht werden sollte oder mehr Bewegung angesagt ist.10

Angesichts der Herausforderung, eine ständig wachsende Bevölkerung zu ernähren, gestattet das System den Bauern, die Reproduktionsrate durch die Aufzucht gesünderer Tiere zu optimieren und die Todesrate bei Neugeborenen zu verringern. Das Monitoringsystem wird auch bei der Bestellung der Felder und im Landmanagement eingesetzt.

Die weltweite Forschungs- und Technologieinitiative DAMO

Alibabas KI-Strategie ist grundsätzlich auf den Vertrieb innovativer Machine- und Deep-Learning-Lösungen an Unternehmens- und Privatkunden über die firmeneigenen Cloud-Dienste ausgerichtet.

Die KI-Unternehmensplattform wird von Alibaba Cloud geliefert, eine Tochterfirma, die für 18 weltweite Datenzentren zuständig ist. Diese hosten die Hardware, die KI-Algorithmen und die als Service angebotene Datenverarbeitungstechnologie vorantreiben.

2017 kündigte die Gruppe an, 15 Milliarden US-Dollar im Verlauf der nächsten drei Jahre zu investieren, um das globale Netz seiner KI-Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen zu erweitern.

Diese Initiative wird DAMO (Discovery, Adventure, Momentum and Outlook) genannt; sie legt ihren Schwerpunkt auf Entdeckung, Erforschung, Impulse und Zukunftsperspektiven und soll 100 wissenschaftliche Mitarbeiter für ihre Laboratorien in Beijing und Hangzhou, China, in San Mateo und Bellevue in den USA, und in Moskau, Tel Aviv und Singapur rekrutieren.11

Die Forschung in den Laboratorien soll sich auf Maschinenlernen, natürliche Sprachverarbeitung, Internet of Things (IoT) – die globale Infrastruktur, die es ermöglicht, physische und virtuelle Objekte miteinander zu vernetzen, sodass sie mittels Informations- und Kommunikationstechnologien zusammenarbeiten können –, Mensch-Maschine-Interaktionen und die kommerzielle Nutzung von Quantencomputern fokussieren.

Anmerkungen

  1. 1 Institutional Investor, Ali Baba vs The World: https://www.institutionalinvestor.com/article/b1505pjf8xsy75/alibaba-vs-the-world
  2. 2 CNBC, China is determined to steal A.I. crown from US: https://www.cnbc.com/2018/05/04/china-aims-to-steal-us-a-i-crown-and-not-even-trade-war-will-stop-it.html
  3. 3 Virtual-Taobao: Virtualizing Real-world Online Retail Environment for Reinforcement Learning: https://arxiv.org/abs/1805.10000
  4. 4 SCMP, Alibaba lets AI, robots and drones to heavy lifting on Singles’ Day: https://www.scmp.com/tech/innovation/article/2119359/alibaba-lets-ai-robots-and-drones-do-heavy-lifting-singles-day
  5. 5 BBC, The world`s most prolific writer is a Chinese algorithm: https://www.bby.com/future/story/20180829-the-worlds-most-prolific-writer-is-a-chinese-algorithm
  6. 6 Data Center News, Alibaba gives AWS, Microsoft and Google a run for their cloud money: https://datacenternews.asia/story/Alibaba-gives-aws-microsoft-and-google-run-their-cloud-money/
  7. 7 Bloomberg, Alibaba`s AI Outguns Humans in Reading Test: https://www.bloomberg.com/news/articles/2018-01-15/alibaba-s-ai-outgunned-humans-in-key-stanford-reading-test
  8. 8 Wired, In China, Alibaba`s data-hungry Ai is controlling (and watching) cities: https://www.wired.co.uk/article/Alibaba-city-brain-artificial-intelligence-china-kuala-lumpur
  9. 9 Technology Review, Inside the Chinese lab that plans to rewire the world with AI: https://www.technologyreview.com/s/610219/inside-the-chinese-lab-that-plans-to-rewire-the-world-with-ai
  10. 10 Financial Times, Alibaba brings artificial intelligence to the barnyard: https://www.ft.com/content/320fb98a-69f4-11e8-b6eb-4acfcfb08c11
  11. 11 CNBC, Alibaba says it will invest more than USD15 billion over three years in global research program: https://www.cnbc.com/2017/10/11/alibaba-says-will-pour-15-billion-into-global-research-program.html