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Imran Rashid

Soren Kenner

Offline

So erlangen Sie die Kontrolle über Ihr digitales Leben zurück

 

Aus dem Englischen von Birgit Reit

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WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA

 

 

 

Imran: Mein Dank geht an meine beiden Kinder Sarah und Isak, weil ich an ihnen das Wunder des Heranwachsens zweier unglaublicher, fantastischer Menschen erleben darf. Jeder einzelne Tag mit euch beiden ist ein Geschenk. Ebenso ein riesengroßes Dankeschön an meine Frau Naomi. Ohne dich wäre ich nicht ich.

Soren: Mein Dank geht an meine wunderbare Helen sowie an Sarah und Thomas für ihre Geduld und Ermutigung, für das Ertragen meiner Abwesenheit und für die vielen guten Diskussionen am Esstisch (selbst wenn ich euch alle »messengern« muss, damit ihr mal aufseht).

Einführung: Offline

Wenn Sie auf dieses Buch aufmerksam geworden sind, dann machen Sie sich wahrscheinlich bereits Sorgen, welche Auswirkungen digitale Geräte auf Ihr Leben haben. Sie haben von Menschen gehört, die in Facebook Tausende von Freunden haben, aber im echten Leben keine sozialen Fähigkeiten besitzen. Sie fühlen deutlich, dass die ständige Ablenkung nicht gut ist und dass Sie sehr viel Zeit verlieren, wenn Sie ständig auf die Benachrichtigungen, unnötigen SMS und Selfies reagieren, mit denen Sie von Ihrer Cousine aus Ibiza bombardiert werden. Wir können heute einen Kaffee per App bestellen und uns so mindestens 45 Sekunden ersparen, die uns die Begegnung mit einer menschlichen Person an Zeit kosten würde. Aber was gewinnen wir dadurch tatsächlich?

Man muss auch nicht unbedingt Psychologie studiert haben, um zu bemerken, dass Smartphones und Tablets die Art und Weise verändern, wie wir handeln und miteinander umgehen – und das nicht unbedingt zum Besseren. Aber ist Ihnen auch aufgefallen, dass Smartphones sogar unseren Gang verändern? Denken Sie einmal darüber nach: Wenn Sie 20 Jahre alte Videoaufnahmen von Menschen, die eine Straße entlanggehen, mit dem heutigen Straßenbild vergleichen, ist es offensichtlich, dass sich der menschliche Gang verändert hat. Vor 20 Jahren gingen die Leute meist erhobenen Hauptes und richteten ihre Augen auf die vor ihnen liegende Umgebung. Sie achteten auf mögliche Gefahren, vielleicht auf Freunde und – nicht zuletzt – auch auf potenzielle Liebespartner. (Diese hübsche, folkloristische Gewohnheit nannte man gemeinhin: »Schauen, wohin man geht«!) Heute ist der Kopf meist gesenkt, die Schultern hängen nach vorn, die Wirbelsäule gekrümmt und der Hintern ragt heraus. Diese Haltungsveränderung verdanken wir dem Smartphone, das wir wie ein zusätzliches Körperteil vor uns her tragen. Der »Funky-Smartphone-Dance« ist bereits heute eine orthopädische Katastrophe, die in Nacken und Becken spürbar wird, aber das ist noch nicht einmal das halbe Problem.

Erstens muss wohl kaum gesagt werden, dass Ihre Chancen, beim Stadtbummel von einem Lastwagen überfahren zu werden, mit auf das Smartphone gerichteten Augen deutlich größer geworden sind. Sie konzentrieren alle Aufmerksamkeit auf das Gerät, während die Umgebung für Sie nur von zweitrangiger Bedeutung ist. Das ist fast, als würden Sie im Dschungel nicht auf Tiger achten – ja, nicht einmal auf Ihre Stammesgenossen, die Sie vor Tigern warnen –, weil Sie vollkommen auf etwas fixiert sind, das mit Ihrer unmittelbaren Umgebung nichts zu tun hat.

Um Energie zu sparen, wechselt das Gehirn dabei in einen urtümlichen Überwachungsmodus, der Sie nur bei drohender körperlicher Gefahr alarmiert – und selbst dann nur eingeschränkt. Aber auch damit ist immer noch nicht das ganze Problem beschrieben.

Spüren Sie die abgekühlte Atmosphäre in Ihrem Stammcafé, in dem die angeregten Gespräche einer dumpfen Stille gewichen sind? Gleichzeitig wird der Raum vom Blinken Dutzender kleiner, leuchtender, elektronischer Bildschirme erhellt. Fast alle Anwesenden sind völlig von ihrem Smartphone oder Tablet in Anspruch genommen und durchwandern ihre eigene, private Online-Blase. Auf den Bänken am Spielplatz starren die Eltern auf ihre Smartphones, während die Kinder vergebens versuchen, ihre Aufmerksamkeit einzufordern. Selbst im Restaurant oder zu Hause beim Essen ist es nichts Ungewöhnliches, wenn Freunde und Familienmitglieder ständig am Smartphone kleben.

Ja, Smartphones und Social Media geben uns viel Gutes, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn. Aber es zeigt sich auch jeden Tag deutlicher, dass die Fixierung auf die digitale Welt an unserem Nervenkostüm zerrt – individuell und kollektiv. Digitale Geräte lassen zwischenmenschliche Beziehungen und Kontakte auf eine Weise abkühlen, die uns gerade erst bewusst wird und die wir noch nicht genau verstehen, geschweige denn verhindern können. Vielleicht ist die Zeit für eine digitale Konterrevolution gekommen?

Die digitalen Technologien setzten sich weltweit in einem außergewöhnlich kurzen Zeitrahmen durch, sodass sie unsere Fähigkeit, sie einerseits auf kultureller und andererseits auf neurologischer Ebene zu »verdauen«, einfach kurzerhand überrannten. Vielleicht wird es einfach Zeit, sich eine Weile aus der Matrix auszuklinken und den angerichteten Schaden ebenso zu bewerten wie die Vorteile, die der neue digitale Lebensstil uns gebracht hat.

Ursprünglich beschlossen wir, dieses Buch zu schreiben, weil wir uns selbst als Gefangene unserer Smartphones fühlten: Sie verlangen ständig nach unserer Aufmerksamkeit und lenken uns laufend von dem ab, was hier und jetzt in der echten Welt geschieht. Als wir uns jedoch tiefer in die Forschung einarbeiteten und genauer beobachteten, was um uns herum vorgeht, erkannten wir, dass diese Probleme weit über reines Zeitmanagement hinausgehen.

Aus dieser Beschäftigung mit dem Thema ging in Dänemark ein Buch mit dem Titel SLUK (»Schalte es aus!«) hervor, das sich mit den Auswirkungen des ständigen Online- und Verbunden-Seins befasste. Das Buch war 18 Monate lang auf der dänischen Bestsellerliste. Es stieß in Dänemark eine hitzige Debatte an und führte dazu, dass sich inzwischen eine Regierungskommission mit Stress und digitalen Gewohnheiten auseinandersetzt. Zudem werden seither mehr Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet finanziert.

Was als SLUK begann, wurde schließlich zu diesem Buch mit dem Titel Offline, das sich noch viel eingehender mit digitalen Verhaltensweisen und ihren Folgen beschäftigt. Während wir uns durch den stets wachsenden Berg an Forschungsarbeiten wühlten, die Smartphones und soziale Medien mit Stress, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Entscheidungsschwäche, Wirklichkeitsflucht, kognitiver Verzerrung und so weiter in Verbindung bringen, erkannten wir vier Tatsachen:

  1. Das ungeheure Ausmaß der Industrie, die uns mit Smartphones, sozialen Medien, Spielen, Nachrichten und so weiter versorgt. Unternehmen wie Apple, Google, Facebook und Amazon sind im Wesentlichen riesige, eigene Reiche mit einer Wirtschaftsmacht, die der Wirtschaftskraft vieler Länder gleichkommt.
  2. Im 21. Jahrhundert ist die Macht der Aufmerksamkeit zu einer unglaublich wichtigen Ware geworden, weil sie im Grunde das gesamte Onlineshopping antreibt. Je länger die Unternehmen Ihre Augen an den Bildschirm fesseln können, damit Sie ihre Produkte anschauen, desto mehr Geld verdienen sie. Das ist vielleicht gut für das Geschäft, aber nicht ganz so gut für Sie.
  3. Ausgedehnter und unkontrollierter Gebrauch von Smartphones, sozialen Medien, Onlinespielen und Ähnlichem hat ernsthafte Auswirkungen auf Ihre Fähigkeit, sich zu konzentrieren, zu lernen, Bindungen einzugehen und in der echten Welt zu leben.
  4. Ein wesentlicher Grund für diese Probleme ist der durchgehende Einsatz von Brain Hacks (etwa: »Gehirn-Manipulationen«), die auch als suchterzeugendes Design bekannt sind. Diese Hacks sind so gestaltet, dass sie Trigger (»Impulse«) installieren, deren man sich nicht bewusst ist, die aber den Drang erzeugen, ständig online zu sein, Nachrichten und E-Mails zu checken und endlos durch die Newsfeeds in den sozialen Medien zu blättern.

Das alles führt zu einem Syndrom, das wir als DFRAG (»digitales Fragmentierungssyndrom«) bezeichnen. Der Begriff beschreibt einen Zustand, in dem die menschliche Wahrnehmung von Zeit, Raum und Bewusstsein ständig durch digitale Interaktionen fragmentiert wird. Wir glauben, dass es zu ernsthaften biologischen, psychologischen und sozialen Symptomen führt, wenn Menschen immer wieder aus den Augen verlieren, wer sie sind, wo sie sind und was ihr bewusstes Ziel ist. DFRAG ist das, was passiert, wenn Sie technische Geräte und Erfindungen anfangs zwar nach bewusster Entscheidung verwenden, aber ihnen dann am Ende nicht mehr widerstehen können, weil eine Reihe von Impulsen in Ihre hauptsächlich automatisierten Denk- und Verhaltensmuster im Gehirn eingeschleust wurden. Diese machen es schwer für Sie, Ihr Bestes zu geben, sei es im Familienleben, bei der Arbeit oder in der Freizeit.

Und ja – wir werden diese Aussagen belegen, wenn Sie weiterlesen!

Werden Sie digital manipuliert?

Ein Leben ohne Internet ist heute nur schwer oder gar nicht mehr vorstellbar, aber noch schwerer ist es vielleicht zu begreifen, wie plötzlich all diese Dinge entstanden sind. Es ist noch gar nicht lange her: Amazon wurde 1994 gegründet, Google 1998, Facebook gibt es seit 2004, YouTube seit 2005, Twitter seit 2006 und Instagram seit 2010.

Heute sind diese Unternehmen feste Einrichtungen in unserer Welt und alles scheint durch sie nur noch einen oder zwei Klicks entfernt. Ein Mensch mit Internetverbindung und Kreditkarte kann sich praktisch alles, was er will, per Mausklick liefern lassen. Es gibt mehr zu tun, größere Auswahl und vielfältigere Möglichkeiten der Teilhabe als je zuvor.

Im Jahr 2019 werden mehr als fünf Milliarden Menschen ein Smartphone besitzen und es wird rund 1,5 Milliarden Tablets auf der Welt geben. Auf der Erde werden knapp acht Milliarden Menschen leben und beinahe die Hälfte von ihnen – 3,7 Milliarden – werden Zugang zum Internet haben. Mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung wird über mindestens ein soziales Netzwerk Kontakt mit Freunden halten, Gedanken austauschen, Videos ansehen, an Quizspielen teilnehmen, Gruppen beitreten, Likes sammeln und Fotos posten.

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Bald wird es weltweit sechs Milliarden Smartphone-Nutzer geben. Das sind ungefähr 75 Prozent der Weltbevölkerung.

Ein ziemlich wichtiger Aspekt spielte jedoch bisher auf dem Weg ins digitale Zauberland noch keine größere Rolle: Bis vor Kurzem fragten wir uns nicht unbedingt, welche geistigen, körperlichen und sozialen Auswirkungen diese Online-Aktivitäten wohl haben könnten. Allein die Existenz dieser Plattformen erschüttert die Welt – so viel war von Anfang an abzusehen.

Aber diese unbequeme Frage wollten sich viele nicht so recht stellen: Was passiert mit unserem Verstand, wenn digitale Vermarkter die Chemie im Gehirn durch digitale Geräte manipulieren, die wir ständig bei uns tragen, die unablässig verfügbar sind und die auch immer eingeschaltet bleiben?

Es ist erstaunlich, wie unkritisch die meisten von uns ihre Beziehung zu diesen Geräten einfach hinnehmen.

Denken Sie nur eine Sekunde darüber nach: Ist das Smartphone das Erste, was Sie am Morgen sehen, und das Letzte, was Sie vor dem Einschlafen noch kurz prüfen? Lassen Sie sich seit ein paar Jahren immer leichter ablenken? Wird es schwerer, längere Texte zu lesen? Prüfen Sie Ihre E-Mails oder sozialen Medien, während Sie fernsehen oder sogar, während Sie Auto fahren? Haben Sie das Bedürfnis, auf Ihr Handy zu schauen, selbst wenn Sie wissen, dass nichts Neues hereingekommen ist? Fühlen Sie es in der Tasche vibrieren und ziehen es heraus, nur um festzustellen, dass Ihr Gehirn Ihnen Streiche spielt (ein Phänomen, das als phantom pocket vibrations1 – »Phantom-Taschenvibrationen« bekannt ist)?

Jedes dieser Symptome und noch viele weitere sind ganz klare Folgen des bereits erwähnten DFRAG-Syndroms – des beängstigenden Nebeneffekts der digitalen Manipulationsstrategien, die große Technologieunternehmen gegen uns einsetzen. Hunderte Millionen Menschen sind dieser digitalen Verschmutzung ausgesetzt und ihre Auswirkungen sind oft ebenso schädlich für Körper und Geist wie Giftstoffe in unserer Umwelt.

Kurz gesagt: Ihr Smartphone ist zur Plattform fortgeschrittener Mind-Hacks geworden, die Ihre Aufmerksamkeit erregen und fesseln sollen, damit diese an Werbetreibende weiterverkauft werden kann. Dazu wird eine Reihe von Methoden verwendet, die zusammen als Addictive Design (»suchterzeugendes Design«) bezeichnet werden. Das Schlachtfeld sind die Smartphones, Tablets und Laptops, die Armeen sind die Provider aufmerksamkeitsfesselnder Social-Media-Anwendungen, Spiele, Suchmaschinen und anderer Onlinedienste. Die Opfer sind praktisch alle wichtigen menschlichen, zeitlich lohnenden Aktivitäten, wie enge persönliche Beziehungen, Arbeit, Elternschaft und Erziehung, Freizeitaktivitäten, das Lesen oder auch das Schlafen.

Ihre Aufmerksamkeit ist eine Ware

Es wird Sie vielleicht schockieren, um welch riesige Geldsummen es bei dieser Kommerzialisierung der Aufmerksamkeit geht. Im Jahr 2017 wurden über 200 Milliarden US-Dollar aufgewendet, um Zugang zu Ihrer Aufmerksamkeit zu erhalten (Google erhielt 109 Milliarden US-Dollar davon und Facebook 40 Milliarden). Im gleichen Zeitraum gaben die Verbraucher fast 500 Milliarden US-Dollar für Smartphones, Tablets und Laptops aus.

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Was spielt sich in nur einer Minute im Internet ab?
Quelle: Visual Capitalist/Business Insider

Addictive Design ist möglicherweise eine ganz natürliche Folge des Fortschritts im Smart-Business, aber die alte Warnung caveat emptor – »Käufer, sei wachsam« – war nie aktueller als im Hinblick auf die modernen digitalen Geräte. In der Frage des suchterzeugenden Designs sorgt niemand für Chancengleichheit zwischen Vermarkter und Benutzer, wenn wir es nicht selbst tun. Genau deshalb ist es so wichtig, dass Sie diese Designmerkmale erkennen, bevor eine App oder eine Plattform ihre Klauen in Ihr Stammhirn schlägt – was durchaus wörtlich geschieht, wie Sie sehen werden. Die Grafik »Was sich in jeder Minute im Internet abspielt« zeigt, dass in jedem Augenblick eine schier unvorstellbare Menge an Informationen auf den menschlichen Augapfel zielt. Denken Sie daran: In der digitalen Welt entsteht nicht ein einziges Bisschen Information, das nicht irgendwann von Menschen verarbeitet, analysiert und beantwortet wird. Das bedeutet, dass der Treibstoff, mit dem die digitale Verwandlung unserer modernen Welt vorangetrieben wird, letztendlich unsere beschränkten geistigen Ressourcen sind.

Sobald Sie begriffen haben, wie suchterzeugendes Design funktioniert und was es Ihnen antut, wird es Ihnen auf dem Smartphone, Tablet oder Laptop sofort ins Auge fallen. Es hat viele Verkleidungen: Nachrichten, Emojis, Cliffhanger, Pick-ups, ewig lange Seiten zum Scrollen, die Angst, etwas zu verpassen, und viele andere wirkungsvolle Elemente. Sie alle sollen Sie neugierig machen, sodass Ihre Dopamin-Impulse um die Wette feuern und immer wieder einen weiteren Zyklus aus Verlangen – Aktion – Belohnung starten. Dieser Effekt des »Klebenbleibens«, der Stickiness, ist logischerweise sehr wertvoll für die Firmen, die darum kämpfen, Ihre Aufmerksamkeit an sich zu binden und weiterzuverkaufen. Doch wie sich herausstellt, erzeugt er auch Stress, wirkt sich auf die Aufmerksamkeitsspanne aus, verringert die Konzentrationsfähigkeit und führt zu einer Verzerrung der Weltsicht – und möglicherweise sogar des eigenen Selbstbilds!

Technologie ist gut. Aber nutzen Sie sie mit Bedacht!

Technologie ist immer ein zweischneidiges Schwert. Ihr bewusster Gebrauch zur Erreichung eines positiven, klar formulierten Ziels kann enorm viel Gutes bewirken. Eine ständige, ziellose Nutzung wird dagegen wahrscheinlich zu nichts Gutem führen.

Auf globaler Ebene liefern technischer Fortschritt, Wettbewerb, freie Märkte und zunehmender Handel seit längerer Zeit unglaubliche Vorteile: Die Welt, wie wir sie heute kennen, ist reicher als je zuvor. Es gibt weniger Armut, weniger Hunger, weniger Krankheiten, weniger Gewalt (tatsächlich – trotz des Eindrucks, den die Medien vielleicht hervorrufen) und gleichzeitig gibt es mehr Lebensqualität, mehr Hoffnung, mehr Bildung und mehr Demokratie als je zuvor.2

Die meisten Menschen wissen, dass ein Leben auf der Couch mit schlechter Ernährung, Zigaretten und literweise Alkohol die Lebenserwartung verkürzt3, während eine gesunde Ernährung und regelmäßiger Sport sie verlängert. Aber wussten Sie auch, dass Sie Ihre Lebenserwartung sogar noch mehr steigern können, wenn Sie enge Beziehungen zu Freunden, Familie, Lebenspartnern und sogar Haustieren unterhalten?4 Und sollte uns nicht allein dies nachdenklich machen, wie sehr sich die blitzschnelle und fast universale Verbreitung der digitalen Geräte in den Industrieländern negativ auf unsere Fähigkeit auswirkt, im wirklichen Leben enge Beziehungen und Bindungen zu anderen Menschen einzugehen?

Wenn überhaupt, dann sahen nur Einzelne die massive »digitale Verschmutzung« voraus, mit der wir uns heute konfrontiert sehen. Sie ist das Ergebnis des beinahe exponentiellen Wachstums der Hightech-Industrie, die nun von kommerziellen Anreizen dazu getrieben wird, möglichst viele Menschen möglichst massiv und möglichst lange abzulenken – also das Ergebnis des daraus resultierenden DFRAG-Syndroms. Wir haben die Bezeichnung DFRAG geprägt und beschreiben damit die Vergiftung unserer psychosozialen Umwelt und unserer geistigen Fähigkeiten. Zwar erkennt die Öffentlichkeit die Gefahren der digitalen Umweltverschmutzung vielleicht noch nicht in demselben Maß wie die Gefahren anderer ungesunder Merkmale der Lebensführung, aber es gibt seit den letzten zehn Jahren ausführliche Forschungsarbeiten in diesem Bereich und die potenziell schädlichen Auswirkungen sind zweifellos ebenso ernsthaft wie bedeutend.

Wir haben keineswegs das Gefühl, dass wir uns mit der Bezeichnung »Syndrom« zu weit hinauslehnen: Das DFRAG-Syndrom (»digitale Fragmentierungssyndrom«) wirkt tatsächlich spezifisch und nachweisbar auf unsere Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit sowie auf unsere Fähigkeit, bewusste Entscheidungen zu treffen.

Im Folgenden sehen Sie einige der häufigsten DFRAG-Symptome, die durch längeren Kontakt mit digitaler Umweltverschmutzung entstehen können:

Physiologische Symptome

  • Schlafstörungen: Man schläft schlechter und weniger lang.
  • »Haut-Hunger«, der zu körperlichen Symptomen führt, weil man menschliche Berührungen und Umarmungen vermisst.
  • Änderungen an den Nervenverbindungen: Mit der Zeit verändert sich die Funktionsweise des Gehirns, was besonders bei Kindern zur Sorge berechtigt.
  • Höheres Stressniveau: Das körperliche Stressniveau steigt beträchtlich an.
  • Schlechtere Fähigkeit zur Erholung von Stress, messbar am Gehalt an Stresshormonen im Körper.
  • Weniger körperliche Aktivität, weil man zu lang vor dem Bildschirm sitzt.
  • Weniger Sex und intime Beziehungen.

Psychologische Symptome

  • Verringerte geistige Beweglichkeit, Entscheidungsmüdigkeit und geistige Überlastung.
  • Verminderte Impulskontrolle, verstärkt impulsives Verhalten
  • Probleme bei der Entscheidungsfindung, mehr »automatische Reaktionen«
  • Geringere Aufmerksamkeitsspanne, Probleme bei der Konzentrationsfähigkeit
  • Stärker reaktives und weniger aktives Verhalten
  • Verminderte Kreativität und Fantasie
  • Geringeres Selbstvertrauen, weniger Gefühl der Kontrolle
  • Niedrigeres Selbstwertgefühl: Man hat das Gefühl, das eigene Leben sei nicht interessant genug.

Soziale Symptome

  • Weniger Empathie: Man kann sich schlechter in andere einfühlen.
  • Weniger soziale Interaktion: Man verlagert die Aktivitäten aus der »Wirklichkeit« in die Online-Sphäre.
  • Stärkere Polarisierung: Mehr Teilnahme an negativem »Stammesverhalten«
  • Stärkere Vereinsamung, Angst davor, etwas zu verpassen oder ausgeschlossen zu werden
  • Zunahme der antisozialen Eigenschaften. Verringerung des Zusammenhalts in der Gesellschaft
  • Realitätsverzerrung, kognitive Dissonanz, Echokammer-Effekte.

Wie Sie gleich sehen werden, werden diese verstörenden Symptome der digitalen Verschmutzung weder von irgendeiner »bösen Verschwörung der Großunternehmen« verursacht noch von »verrückten Genies«, die absichtlich Stress erregende Designs entwickeln. Was gerade geschieht, ist in mancher Hinsicht sogar noch schlimmer. Es ist die unbeabsichtigte und unvorhergesehene Folge des Zusammentreffens des empfindlichen, menschlichen Erkenntnis-Sensoriums mit einer neuen Technologie. Das System unserer Sinnesorgane entstand im Lauf von drei Millionen Jahren der Evolution. In dieser langen Zeit passte sich das Gehirn laufend an die körperliche und geistige Umgebung und seit 60 000 Jahren auch an das soziale Leben an. Innerhalb nur weniger Jahre vereinnahmen, beeinflussen und verändern die neuen Technologien nun mithilfe von Big Data und konstanter Optimierung durch Algorithmen viele der grundlegenden Gedanken- und Verhaltensmuster, auf denen unser Handeln, unsere Identität und unsere Kultur beruhen.

Digitale Umweltverschmutzung verläuft schleichend und ist nicht immer wahrnehmbar. Die Tatsache, dass sie uns praktisch über Nacht überraschte, führte dazu, dass wir unser Verhalten an sie anpassten, statt umgekehrt die Geräte auf unsere menschlichen Bedürfnisse abzustimmen. Außerdem war uns nicht klar, dass die Geräte unser freudiges Willkommen dadurch erwidern würden, dass sie unsere Gehirne nach ihren Bedürfnissen »neu verdrahten«. Die meisten Menschen würden dies nicht als einen fairen Tausch bezeichnen, vor allem, weil wir noch gar nicht wissen, wie sich diese »Neuverdrahtung« langfristig auswirken wird.

Wir werden hier nachweisen, dass die Wirkung der allgegenwärtigen Smart-Technologie in der Gesellschaft invasiv und potenziell gefährlich ist.

Jedoch wollen wir mit diesem Buch weder ein neues Zeitalter der Technikfeindlichkeit einläuten, noch wollen wir die Technik an sich verteufeln. Stattdessen möchten wir eine nuancierte und auf Forschungsergebnissen beruhende Erläuterung der Auswirkungen der digitalen Umweltverschmutzung liefern, die für eine bewusstere Beziehung zu den Geräten plädiert. Sie besitzen eine starke transformative Kraft – sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht, je nach Benutzer und Verwendungsweise.

Wir möchten dazu beitragen, dass Menschen sich besser gegen suchterzeugende Verhaltensmuster wehren können, die oft durch das unablässige Bombardement der Signale ausgelöst werden, die um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren. Wir glauben, dass man die Vorteile der digitalen Geräte und Plattformen genießen und sich gleichzeitig vor dem erwiesenen Gehirnschaden schützen kann, der durch ihre ungebremste Nutzung entsteht. Dennoch sind wir ziemlich sicher, dass der Ausdruck DFRAG-Syndrom oder »digitales Fragmentierungssyndrom« in den kommenden Jahren in aller Munde sein wird. Im Hinblick auf all die Situationen, in denen die Technologie uns Menschen dazu bringt, sich aus Zeit, Raum und dem bewussten Verhalten auszuklinken, fragt man sich bald selbst: Leben wir in einer Welt, in der wir Menschen die Technologie verwenden, um uns selbst zu verbessern – oder leben wir in einer Welt, in der Technologiekonzerne die Menschen ausbeuten, um selbst immer größer zu werden?

Glücklicherweise sind diese Entwicklungen und auch die von ihnen hervorgerufenen Schäden umkehrbar und wir werden Ihnen in diesem Buch auch zeigen, wie das geht.

Die Autoren dieses Buches haben völlig verschiedene Hintergründe. Imran ist Hausarzt und kennt sich mit menschlicher Physiologie und Psychologie aus. Soren ist Werbemanager mit erschöpfendem Wissen über Marketingstrategien und Social-Media-Design. Darüber hinaus sind beide Unternehmer mit beträchtlicher Erfahrung im Aufbau von Firmen, darunter Werbeagenturen, Medizinische Beratung per Video, Online-Aktienhandel und sogar ein Abonnementservice, mit dem Eltern die kreativen Fähigkeiten ihrer Kinder fördern können. Wir glauben, dass unsere Erfahrungen und unsere unterschiedlichen Erfahrungen, zusammen mit der Analyse der aktuellen Forschungsergebnisse, uns einzigartige Einsichten in die Möglichkeiten, Herausforderungen und negativen Folgen gibt, die uns dieses seltsame, neue Universum beschert.

Wie jede andere bedeutende Technologie ist auch das Internet ein zweischneidiges Schwert: Auf der einen Seite löst es eine ganze Reihe großer Probleme, denen wir als Individuen und als Gesellschaft gegenüberstehen, auf der anderen Seite bringt es selbst wieder neue Herausforderungen und Gefahren mit sich. Das Beste wäre es, wenn wir die Herrschaft über dieses Gerät zurückgewinnen, das – im Augenblick noch – uns beherrscht.

Die Technik sollte den Menschen unterstützen. Dieser anthropozentrische Blickwinkel sollte der Ausgangspunkt sein, von dem aus wir die Vor- und Nachteile neuer Technologien bewerten.

Der Aufbau dieses Buches

Wir wollen Ihnen ein umfassendes Bild liefern: Was unternimmt die Hightech-Industrie, wie wirkt sich das auf das Gehirn aus und was kann man tun, um unerwünschte digitale Gewohnheiten wieder loszuwerden?

Zu diesem Zweck beginnen wir mit einem Überblick über die Technologieindustrie, damit Sie einen Eindruck von deren Umfang und Größe gewinnen. Von dort aus nehmen wir Sie mit auf eine Entdeckungsreise durch das Gehirn und die Evolution des Bewusstseins (das ist wichtig, damit Sie verstehen, wie die Mind Hacks funktionieren).

Die nächste Station ist eine genauere Betrachtung des »digitalen Anfixens« und des Einsatzes von Mind Hacks sowie eine eingehende Beschäftigung mit den unbeabsichtigten Nebenwirkungen.

Im letzten Teil des Buches werden wir Ihnen schließlich eine Reihe von Methoden vorstellen, mit denen Sie unerwünschte digitale Gewohnheiten wieder abschütteln und sie durch Muster ersetzen können, die sich für Sie richtig anfühlen.

Wir wollen hier nicht beweisen, dass technische Geräte (vor allem Smartphones, Tablets, Laptops und alle Arten von sozialen Medien) schlecht sind, sondern wir wollen darauf hinweisen, dass ihr unreflektierter Gebrauch Folgen hat, über die Sie Bescheid wissen sollten. Sie sollen selbst entscheiden können, wie für Sie eine vernünftige Verwendung aussieht.

Viel Spaß dabei!

Anmerkungen

  1. 1 https://www.psychologytoday.com/us/blog/rewired-the-psychology-technology/201305/phantom-pocket-vibration-syndrome
  2. 2 https://singularityhub.com/2017/10/12/why-the-world-is-still-better-than-you-think-new-evidence-for-abundance/#sm.0001xzu47caaxfciwe72q98f0ver1
  3. 3 Sie ist immer noch höher als die durchschnittliche Lebenserwartung in den USA noch vor 100 Jahren: 36 Jahre für Männer und 42 Jahre für Frauen.
  4. 4 https://news.harvard.edu/gazette/story/2017/04/over-nearly-80-years-harvard-study-has-been-showing-how-to-live-a-healthy-and-happy-life/