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Howard Schultz

Joanne Gordon

Von Grund auf

Eine Reise zur Neuausrichtung des amerikanischen Versprechens

 

Aus dem Englischen von Marlies Ferber und Kirsten Arend-Wagener

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WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA

Vorwort

Das Treppenhaus war mein Zufluchtsort.

Die meisten Leute in dem Wohnblock nahmen den Aufzug, sofern er nicht außer Betrieb war. Aber selbst dann ging niemand die Stufen zum Dach hinauf. Deshalb saß ich dort.

An manchen Tagen leistete mir mein bester Freund Billy Gesellschaft. Doch meistens saß ich allein dort, wenn es zuhause zu chaotisch wurde. Mein Zimmer mit Blick auf einen Parkplatz war keine Alternative – ich teilte es mit meinen jüngeren Geschwistern – und unsere Wohnung war so klein und die Stimmen meiner Eltern waren so laut, dass ich ihnen selbst unter meinen Laken nicht entkommen konnte. Aber wenn ich auf diesen Stufen saß, fühlte ich mich sicher. Dieser Ort war meine Zuflucht. Ein urbanes Nest.

Im Treppenhaus war es nicht still. Ich konnte immer noch Menschen streiten, schwere Türen zuschlagen oder das donnernde Gepolter von anderen Kindern, die die Stufen auf den unteren Etagen hoch und runter stapften, hören. Die Geräusche prallten an den Betonwänden der leeren Flure ab und hallten in meinen Ohren wider. Aber in diesem Treppenhaus fand ich ein wenig Ruhe. Und auch wenn ich manchmal weinte, so dachte ich doch meistens darüber nach, Basketball zu spielen, oder über die Yankees – und die Möglichkeit, ein beidhändiger Hitter wie Mickey Mantle zu werden. Als ich älter wurde, saß ich auf den Stufen und träumte davon, von Zuhause auszuziehen. Ich stellte mir ein Leben jenseits der Grenzen meiner Kindheit vor. Es war schwierig, es mir bildlich vorzustellen, aber ich wusste, was ich fühlen wollte. Ich wollte das Unbehagen abwerfen, das mich befallen konnte, wenn ich die Tür zu der Wohnung 7G öffnete.

Ich war drei Jahre alt, als wir in die beengte Dreizimmerwohnung in der Sozialwohnungssiedlung Bayview in Canarsie zogen, die in dem Landstrich eines ehemaligen Sumpfgebiets im südöstlichen Zipfel von Brooklyn lag. Im Jahr 1956 gehörte meine Familie zu den über eintausend Haushalten mit geringem Einkommen, die die Voraussetzungen erfüllten, um in diesen brandneuen Ziegelsteingebäuden zu wohnen, die von der Behörde für Sozialen Wohnungsbau der Stadt New York erbaut worden waren. Dies war eine neue Alternative zu den verfallenden Elendsvierteln in der Stadt. Siedlungen wie Bayview wurden nicht als Sackgasse konzipiert, sondern als Starthilfe. Mir war nicht ganz klar, was das für mich bedeutete. Über die Jahre hinweg versuchte meine Mutter mir zu vermitteln, dass es jenseits von Canarsie und in meiner Reichweite etwas Besseres gäbe, aber das war nur schwer vorstellbar. Was ich aber jeden Tag sah, war mein Vater, der so viel Zeit auf dem Sofa liegend verbrachte, dass meine Mutter ihm den Spitznamen Herr Horizontal gab. Der Geruch seines Unwohlseins und seiner Verdrossenheit – mit sich selbst, mit uns, mit seinen Chefs, die ich nie kennenlernte, mit einem System, das ich nicht verstand – drang in die Struktur unseres Familienlebens ein.

In dem Treppenhaus schaffte ich ein wenig Abstand zwischen mir und der erstickenden Atmosphäre zuhause. Wenn ich, gehüllt in gedämpftes Licht, auf den kalten, harten Stufen saß, empfand ich etwas Ruhe. Doch ich hatte Mühe, hinter die Betonmauern zu schauen, die mich umgaben.

Canarsie, Brooklyn, war und ist nach wie vor die Endstation der U-Bahn-Linie L von New York City. Während ich auf der Treppe saß, nahm die Vorstellung dessen, was jenseits meiner kleinen Welt auf mich warten könnte, in meiner Fantasie Form an.

Mein ganzes Leben lang wurde ich von Kindheitserinnerungen verfolgt und angetrieben. An meinem Vater sah ich, was aus einem Leben werden kann, wenn eine Person ihrer Würde beraubt wird. Meine Mutter hatte mir den Glauben daran vermittelt, dass die Endstation der U-Bahn-Linie nicht die Endhaltestelle meines Lebens sein würde, sondern dass ich arbeiten und lernen und planen und meinen Weg aus dem Ort, in den ich hineingeboren worden war, hinaus träumen könnte.

Die nebeneinanderstehenden Kräfte eines Vaters, der weniger hatte als er wollte, und einer Mutter, die mehr für ihren Sohn wollte, spornten mich letztendlich an, mir eine andere Zukunft für mich selbst vorzustellen und meine Welt nicht so zu sehen, wie sie war, sondern wie sie sein könnte. Daraus wurde eine lebenslange Gewohnheit. Und in mancher Hinsicht ist das die Geschichte, die ich in diesem Buch zu erzählen versucht habe: Wie können wir alle eine bessere Zukunft konzipieren, indem wir aus der Vergangenheit mit so viel Klarheit und Weisheit wie möglich lernen, und den Willen aufbringen und alles Notwendige tun, um diese Zukunft in die Tat umzusetzen. Das ist bis heute die Reise meines Lebens.

Das Treppenhaus war der erste Ort, an dem meiner Fantasie Flügel wuchsen, aber nicht der letzte. Als ich Mitte der 1980er Jahre mein erstes Geschäft gründete, inspirierten mich alte und sogar uralte Einflüsse: Kaffee, der seit Jahrhunderten konsumiert wird, und auch das menschliche Bedürfnis nach Beziehungen und Gemeinschaft, das in unserer DNA angelegt ist. Ich malte mir eine andere Art und Weise aus, wie man diese Dinge miteinander verbinden könnte: Starbucks Stores. Als ich meine ersten Espresso-Bars eröffnete, wollte ich Orte schaffen, an denen Menschen dem Alltagschaos entfliehen und ein Gefühl der Zugehörigkeit finden könnten. Über vierzig Jahre später ist ein Besuch bei Starbucks für Millionen Menschen in mehr als siebenundsiebzig Ländern zur Routine und Ruhepause geworden. Neben Zuhause und Arbeitsstelle sind Starbucks Stores als »dritter Ort« bekannt geworden.

Für mich ist das Konzept eines »dritten Ortes« nicht einfach etwas, das innerhalb von vier Wänden existiert. Es ist eine Geisteshaltung. Eine Art und Weise, in der Welt zu existieren. Aus ebendiesem Grund habe ich begonnen, ein gewinnbringendes Geschäft aufzubauen, das zugleich ein Kernethos ausdrückt: nämlich, dass Menschen aller Arten zusammenkommen und einander aufrichten können.

In dieser Hinsicht spiegeln Aspekte der Reise von Starbucks Aspekte der Reise Amerikas wider. Nicht weil das Land ein Geschäftsbetrieb ist, sondern weil das Geschäft des Landes immer der fortwährende Kampf war, die scheinbar miteinander konkurrierenden Prioritäten Menschlichkeit und Wohlstand im Gleichgewicht zu halten. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass die Bemühungen von Starbucks, ein anderes Unternehmen zu sein – eins, für das zu arbeiten mein eigener Vater als der Arbeiterklasse zugehörig nie die Chance hatte –, es wert sind, in diesem fragilen, doch verheißungsvollen Augenblick der Geschichte unseres Landes erzählt zu werden, in dem Wahrhaftigkeit und Achtung ein donnerndes Comeback starten müssen.

In gewisser Weise geht es auf diesen Seiten weniger um Starbucks und meine Kindheit als vielmehr um den Ort, an dem wir beide geboren wurden: die Vereinigten Staaten von Amerika. In den ineinander verschlungenen Erzählungen über meine Jugend und meine jüngsten Jahre bei Starbucks geht es um etwas viel Größeres. Es ist eine Geschichte über Neuerfindung und Erneuerung. Über Möglichkeiten. Über die Macht der Menschen, das Leben anderer wie auch ihr eigenes zu verändern. Es ist eine Geschichte darüber, was wir für uns selbst und füreinander tun können, und über unser aller Verantwortung, unsere gemeinsame Zukunft neu zu konzipieren. Und neu konzipieren müssen wir sie.

Ideale, auf denen unsere Nation gegründet wurde, darunter Gleichheit und Freiheit für alle, müssen immer noch vollständig verwirklicht werden. In einigen Winkeln sind sie in ihrer bloßen Existenz bedroht. Der Fortbestand der amerikanischen Demokratie ist auch noch keine ausgemachte Sache. Tatsächlich steht der amerikanische Traum, den ich gelebt habe und an den ich immer noch glaube – die Vorstellung, dass jeder die gleichen Chancen haben sollte, von Grund auf emporzusteigen –, an einem Scheidepunkt. Es müssen mehr Menschen eine faire Chance auf ihren Traum haben, wie bescheiden oder ehrgeizig diese Träume auch sein mögen, und jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, darüber zu sprechen, wie diese Chancen für jedermann aussehen könnten. Gemeinsam haben wir das Potenzial, ein neues Konzept zu entwickeln und das Versprechen unseres Landes einzulösen, was hoffentlich in diesem Buch deutlich wird.

Letztlich habe ich Von Grund auf geschrieben, weil ich optimistisch in die Zukunft schaue und teilen wollte, was ich aus der Vergangenheit gelernt habe. Es handelt sich nicht um meine Memoiren, sondern um eine aufrichtige Betrachtung dessen, wie meine frühesten Erfahrungen – von denen ich einige bisher nicht öffentlich gemacht habe – das Leben durchdrungen und inspiriert haben, das ich geführt habe, nachdem ich das Treppenhaus erst einmal verlassen hatte und gen Westen gezogen war, jenseits von allem, was ich kannte, auf der Suche nach dem, was meiner Vorstellung nach möglich war. Und auch wenn es kein Wirtschaftsbuch ist, so handelt es sich doch um einen forschenden Blick hinter die Kulissen während der Reise einer Firma, um eine Antwort auf eine Schicksalsfrage unserer Zeit zu finden: Was können wir tun, um eine sinngebende Veränderung herbeizuführen und die angemessene, gerechte und sichere Zukunft zu erschaffen, die wir alle uns wünschen?

Ich hoffe, dass Von Grund auf in Ihnen etwas entfacht, vielleicht sogar eine Bewegung auslöst, all das bereitwillig anzunehmen, was in unserem Land richtig ist, das anzugehen, was in Ordnung gebracht werden muss, und herauszufinden, wie wir unsere unermesslichen Ressourcen und individuellen Werte auf neue Weisen nutzen können, um uns selbst und einander in größere Höhen zu bringen. Nicht nur durch den Einsatz unseres Geldes, unserer Zeit und unserer Stimmen, sondern auch durch das Freisetzen von Sachverstand, Einfallsreichtum, Einfluss, Empathie, sozialen Netzwerken, Gemeinschaftsgeist, Mut und Technologien sowie die Umgestaltung unserer gemeinsamen physischen und virtuellen Räume in Orte, an denen Menschen mit Anstand und Respekt Beziehungen eingehen können. Keiner von uns lebt in völliger Abgeschiedenheit. Gesunde, glückliche Gemeinschaften basieren auf den Wechselbeziehungen ihrer Mitglieder. Wir sind hier zusammen.

Manchmal ist es schwer, über das hinauszuschauen, was direkt vor uns liegt, insbesondere wenn das Chaos die Sicht erschwert. Der Wille und die Fähigkeit zur Neugestaltung der Zukunft sind seit den Anfängen unseres Landes das Herzstück, ebenso wie das Konzept, das sich in mein Bewusstsein schlich, als ich noch ein kleiner Junge war. Warum ich an dieser Vorstellung festhielt und wie sie sich über die Jahre verwirklicht hat, sind parallel verlaufende Geschichten, und ich bin jetzt endlich bereit, sie zu erzählen.

Teil 1
DIE ANFÄNGE


Kapitel 1
Zerrissen

Unsere Erinnerungen an unsere Eltern sind nur unvollständige Sammelalben. Als Kinder sind wir nur in Ausschnitte der Leben eingeweiht, die unsere Mütter und Väter führen. Was sich außerhalb unserer Hör- oder Sichtweite ereignet, ist so unsichtbar wie Luft, weshalb die Person hinter dem Elternteil häufig ein Mysterium bleibt.

Und dennoch ist ihre volle Wirkung als Menschen machtvoll. Unsere Eltern prägen uns mit ihren Werten und Vorstellungen, Wünschen und Verhaltensweisen. Als ich auf meine eigene Jugend zurückgeschaut habe, um die Punkte zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu verbinden, waren die herausragenden Szenen entmutigend und ermutigend. Ich verstehe, wie meine eigenen Entscheidungen – für mich selbst oder meine Lieben und für Starbucks – von zwei Menschen geformt wurden, die ich nie richtig kannte.

Als ich Grundschulkind war, schlug mein Herz stets schneller, wenn ich die Tür zu unserer Wohnung öffnete. Wenn ich den Küchentisch mit einer Tischdecke und mehr als den üblichen fünf Stühlen darum gedrängt sah, wusste ich, dass Omas Kommandoton, der beißende Geruch von Borschtsch und das ausgelassene Gelächter von Fremden bald die Herrschaft über unser bereits beengtes Heim übernehmen würden.

An jenen Abenden kam mein Vater Fred normalerweise von dem jeweiligen Job, den er gerade hatte, nach Hause und legte sich aufs Sofa, während meine Mutter meiner jüngeren Schwester, meinem kleinen Bruder und mir ein frühes Abendessen bereitete. Dann schickte sie uns ins Bett – wir drei teilten uns ein Zimmer – und erinnerte uns daran, leise zu sein und die Tür geschlossen zu halten. In ihrer Stimme und ihren Augen konnte ich eine gleichmütige Resignation hören und sehen. Sie wünschte sich genauso sehr wie ich, dass die Nacht zu Ende ging.

Nachdem wir ins Bett gebracht worden waren, stand ich manchmal auf und steckte meinen Kopf aus der Kinderzimmertür oder riskierte einen Blick in die Küche, um die sich abspielende Szene auf mich wirken zu lassen. Gegen 20 Uhr begannen die Mitwirkenden in unser Heim einzufallen. Sie kamen in Zweier- und Dreiergruppen, warfen, im Winter, ihre abgetragenen Mäntel auf die kunststoffüberzogene Wohnzimmercouch und schlurften in unsere Küche, wo sie sich auf die Stühle fallen ließen und die erste Zigarette dieser Nacht anzündeten. Stundenlang saß dieser bunt zusammengewürfelte Haufen grantelnd, zockend und schnatternd zusammen und schlürfte an manchen Abenden Hühnersuppe, die Oma aus einem frisch geschlachteten Vogel gekocht hatte.

Diese rauen Pokerspiele konnten mehrmals die Woche stattfinden. In den feuchten Sommern in Brooklyn saßen die Männer in ihren verschlissenen Unterhemden mit Resten von hartgekochten Eiern, die sich in ihren Bartstoppeln verfangen hatten, herum. Die Damen, von denen einige mit Lockenwicklern unter Kopftüchern auftauchten, warfen sofort ihre Hauskleider ab und saßen in ihren Miedern und Baumwollbüstenhaltern da, wobei sie sich mit den Spielkarten Luft gegen die Hitze zuwedelten. Hartnäckiges Geplapper füllte die Wohnung, während die Spieler johlten und sich gegenseitig anfeuerten. Ich blickte starr vor Staunen und mit weit aufgerissenen Augen auf die Küche unserer Familie, die sich in eine Kulisse für diese wilde Brooklyn-Bande verwandelt hatte. Das Murmeln ihres ungefilterten Geplänkels füllte jetzt unsere kleine Wohnung, eine Abwechslung von den üblicheren Momenten des eisigen Schweigens und der Streitereien Erwachsener. Auf mich hatte das eine verwirrende Wirkung. Ganz offensichtlich hatten diese Erwachsenen irgendwie lauthals Spaß. Für sie war es ein fröhlicher Abend, eine Pause vom Alltag, ein Tapetenwechsel von ihren eigenen Wohnungen, die Chance, etwas Bargeld zu gewinnen. Aber ihre Art von Spaß verursachte mir ein Unbehagen. Da ich spürte, dass meine Eltern keine bereitwilligen Gastgeber waren, sondern dem Chef, meiner Oma, Untertan waren, fühlte ich mich in meinem eigenen Heim reduziert, an den Rand gedrängt, während ich den Rückzug in mein Zimmer antrat. Aber selbst dann drang das Geräusch, wenn die Karten erneut gemischt wurden, zu mir unter die Laken, die ich mir über den Kopf gezogen hatte, und machte mir klar, dass die Nacht weit davon entfernt war, zu Ende zu sein.

»Erhöht den Einsatz, ihr Trottel!«

Die Lautstärke nahm stündlich und mit zunehmendem Alkoholkonsum zu.

»Full House schlägt Three of a Kind!«

»Gehst du mit, Breschafski?«

»Leck mich, du Schickse!«

»Hey, bring mir noch ’ne Rum-Cola!«

Jemand auf der Verliererstraße verfluchte üblicherweise sein Blatt, weil er eine Pechsträhne hatte, und ich hörte dann möglicherweise einen Metallstuhl über das Linoleum rutschen und gegen den Herd prallen, gefolgt von schweren Schritten auf dem Weg zu unserem Bad, wo die Spieler sich neben dem Waschbecken erleichterten, an dem ich mir die Zähne putzte.

Die Meute saß in unserer Küche, als sei es ihr Privatclub, und irgendwie war es das auch. Jeder Einzelne musste bezahlten, um spielen zu dürfen. In der Gebühr waren ein Stuhl am Tisch und eine Mahlzeit enthalten. Hatten sie sich erst mal hingehockt, galten ihre eigenen Regeln und Rituale.

Meine Mutter und mein Vater fungierten auf der Party nur als Handlanger, und wenn die Spiele strittig waren, konnten die Spieler ihren Frust an ihnen ablassen. Einige bedachten meine Mutter mit Obszönitäten, während sie Berge von Speisen auf dem Geschirr unserer Familie servierte und unsere Milchgläser mit Alkohol auffüllte. Meine Eltern konnten damit umgehen. Sie waren den zahlenden Kunden – und Oma – untergeordnet. Meine Großmutter war zweifelsfrei der Boss. Sie konnte fies und beleidigend sein, wenn sie meinen Vater anherrschte und meiner Mutter Beschimpfungen an den Kopf warf, die keine Tochter und kein Enkel jemals hören müssen sollten. Doch ich hörte sie alle.

Schließlich fiel ich in einen unruhigen Schlaf und irgendwann trat wieder Ruhe ein. Wenn ich am nächsten Morgen in die Küche kam, fand ich leere, quer stehende Stühle und ein nach Qualm stinkendes Zimmer vor. Ich aß dann meine Cornflakes neben Aschenbechern voller Zigarettenkippen. Meine Mutter war auch immer schon wach und packte mir mein Pausenbrot ein, das ich mitnahm, wenn ich mich erschöpft dem Strom der Kinder anschloss, die, wie ich annahm, in ihren Wohnungen, die friedlicher waren als meine eigene, tief und fest geschlafen hatten. Ich wusste nie, wann die Pokerspieler wiederkommen würden – zumindest nicht bis zum nächsten Mal, wenn ich die Tür zu unserer Wohnung öffnete und die umgeräumten Küchenmöbel sah.

Meine Großmutter mütterlicherseits, Lilian, begann damit, die illegalen Kartenspiele zu veranstalten, nachdem sie und mein Opa Woolf sich hatten scheiden lassen. Jahrelang lebte Oma davon, dass sie die Spiele in ihrem bescheidenen Haus im Osten New Yorks und schließlich auch in unserer Wohnung ausrichtete, wo sie eine rotierende Kabale von Spielern versammelte. Hatten sie sich erst einmal versammelt, verspielten sie ihre mageren Gehaltsschecks, staatliche Unterstützung oder das Bargeld, das meine Oma ihnen lieh und für das sie hohe Zinsen kassierte.

Oma war Bank und Gastgeberin. Sie sorgte dafür, dass ihre Kunden von einem Fahrer – zumeist meinem Vater – abgeholt wurden. Während Wetteinsätze gemacht wurden, servierte eine angeheuerte Kellnerin – oder häufiger noch meine Mutter – Getränke und hausgemachte Speisen. Manchmal wohnte Oma den Spielen bei. Aber selbst wenn sie nicht dabeiblieb, ging sie als die größte Gewinnerin nach Hause, weil sie von jedem Einsatz einen Anteil kassierte. Am Ende des Abends chauffierte mein Vater die Spieler, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit betrunken waren, nach Hause.

An den Abenden, an denen die Kartenspiele im Haus meiner Oma stattfanden, ließen meine Eltern meine Schwester Ronnie, den kleinen Michael und mich stundenlang allein, während sie ihre Pflichten erfüllten.

Omas Kunden waren nicht reich, aber die Zusammenkunft war den Preis wert, den ein jeder zahlte, um daran teilnehmen zu können. Für sie waren die Kartenspiele ernsthafte Unterhaltung. Für meine Großmutter waren sie ein Geschäft. Für mich waren sie traumatisch.

Wenn die Spiele in unserer Wohnung stattfanden, empfand ich nie eine körperliche Bedrohung, aber ich fühlte mich auch nicht sicher. Ich war ein spindeldürrer Junge mit braunem Haar und einem breiten Lächeln, der sich stärker auf Manieren als auf Muskeln verließ, um klarzukommen.

In der Siedlung erkannte ich schon früh, dass eine gute Vorbereitung meine beste Verteidigung war: gutes Benehmen und beliebt zu sein sowie der Versuch, die Kontrolle zu behalten. Ich war wie viele Kinder, insbesondere solche aus unbeständigen Verhältnissen: Aufgrund meiner Verletzlichkeit und Ohnmacht fühlte ich mich von Ordnung und Stabilität angezogen. Dinge, die zuhause zu fehlen schienen wie Vorhersehbarkeit, Nachvollziehbarkeit und Freundlichkeit, insbesondere von Erwachsenen, zogen mich an. So wollte ich das Leben haben. Ich dachte, so sollte es normalerweise sein. Die Kartenspiele verstießen gegen dieses Ideal. Diese Erfahrung erfüllte mich mit Angst und Scham. Ich hoffte nur, dass niemand je etwas von unserem abnormalen Zuhause erfahren würde.

Meine Bemühungen, es vor anderen Menschen zu verheimlichen, einschließlich meines Freundes Billy, der gegenüber wohnte, waren kraftraubend. Wenn mich jemand nach dem lauten Gejohle und Geschrei fragte, das spätabends aus unserer Wohnung drang, oder nach den Fremden, die zu ungewöhnlichen Zeiten in den Flur strömten, war ich peinlich berührt.

Als ich älter wurde, fand ich heraus, dass meine Eltern Omas Kartenspiele ausrichteten, um Geld zu verdienen. Oma bezahlte sie für ihre Dienste als Kellnerin und Chauffeur. Aber damals wusste ich das alles noch nicht. Meine Eltern erklärten mir nie irgendetwas. Geh einfach in dein Zimmer, Howard, schließ die Tür und sei leise.

***

Mein Vater machte nie seinen Highschool-Abschluss und verbrachte sein Arbeitsleben damit, sich von einem schlecht bezahlten Gelegenheitsjob zum nächsten zu hangeln. Er verfügte, abgesehen vom Auto fahren, wenn überhaupt, nur über wenige für Arbeitgeber brauchbare Kenntnisse und Fertigkeiten. Auch wenn in einem Arbeitstag, ganz gleich, wie einfach oder komplex die Tätigkeit ist, Würde liegt, so zog mein Vater kein Gefühl des Stolzes oder der Sinnhaftigkeit aus seiner Arbeit. »Dad ist müde, lass ihn schlafen«, mahnte meine Mutter, wenn wir uns ihm näherten, während er auf dem Sofa lag. Aber selbst wenn er wach war, war er unter einer Maske der Erschöpfung verschlossen und unnahbar. Irgendwann in seiner Vergangenheit waren dem Mann, den meine Oma »einen Faulenzer« nannte, Ehrgeiz und Wille abhandengekommen. Es schien, als würde das bloße Leben ihn vollkommen ermüden.

Mein Vater gab außerdem mehr Geld aus, als er besaß. Obwohl wir in einer öffentlich geförderten Wohnung lebten, wo die Miete weniger als einhundert Dollar pro Monat kostete, war mein Vater immer knapp bei Kasse. Er kaufte gebrauchte Reifen für seinen Wagen auf dem Schrottplatz, gönnte sich dann aber Maniküre und einen kostspieligen Haarschnitt. Diskussionen über Geld am Küchentisch beim Zählen des übrig gebliebenen Geldes von seinen schmalen Gehaltsschecks, unzureichenden Darlehen und allerlei nicht versteuerten Einnahmequellen, einschließlich der Kartenspiele, waren ein ritueller Streit meiner Eltern, dem ich zu entgehen versuchte. Glücklicherweise hatte ich meinen Rückzugsort im Treppenhaus.

Außerdem versuchte ich, dem Jähzorn meines Vaters aus dem Weg zu gehen. Er war schnell dabei, Ronnie, Michael oder mich anzuschreien, und es war nicht selten, dass er mich schlug oder gelegentlich auch andere Formen körperlicher Strafen improvisierte. Bei einem Abendessen stieß er mein Gesicht in einen Teller voll dampfender Spaghetti.

Das Klingeln des Telefons war eine andere Quelle der Angst. Das Geräusch des klirrenden, sich drehenden Gehäuses an der Wand ließ meinen sehnigen Körper steif werden. Meine Mutter ließ mich häufig für sie ans Telefon gehen, falls ein Geldeintreiber anriefe. »Tut mir leid, meine Eltern sind nicht zuhause«, sagte ich dann, wobei mich einer oder beide ansahen. Beschämt über die Lüge, legte ich den Hörer auf. Später dann, als meine Eltern mich losschickten, Geld von Bekannten zu leihen, tat ich dies mit gesenktem Kopf und beschämt ob der Wahrheit.

Ich fürchtete meinen Vater und manchmal hasste ich ihn dafür, wie ich mich wegen seines Verhaltens fühlte. Aber es gab auch Momente, in denen ich, selbst als Kind, seinen Schmerz fühlen konnte.

***

Ich war sieben Jahre alt an einem kalten Wintertag im Jahr 1961 und mitten in einer Schneeballschlacht hinter unserem Haus, als meine Mutter sich aus dem Fenster unserer Wohnung im 7. Stock lehnte und mir wild winkte, nach Hause zu kommen.

»Dad hatte einen Unfall«, sagte meine Mutter, als ich in die Wohnung gelaufen kam. »Ich muss ins Krankenhaus fahren.«

Zu jener Zeit war mein Vater Lkw-Fahrer. Er lieferte saubere Stoffwindeln in Altenheime – und holte die schmutzigen ab. Seit Monaten war er von der Arbeit heimgekommen und hatte sich über den Geruch und die Sauerei beklagt. Manchmal bekam ich aus seiner Kleidung eine Duftwolke in die Nase. Er sagte, es sei der schlimmste Job auf der ganzen Welt, und ich glaubte ihm.

Beim Ausliefern an jenem nassen, rutschigen Wintertag glitt er auf einer Eisfläche aus. Dabei brach er sich die Hüfte und den Knöchel. Den ganzen folgenden Monat sah ich, immer wenn ich die Wohnungstür öffnete, meinen Vater ausgestreckt auf unserer Couch liegen. Seine 1,73 Meter große Gestalt lag unbeweglich und gefangen in einem Gips da. Seine Finger klammerten sich an eine Marlboro-Zigarette und sein hübsches Gesicht war zu einer schmerzerfüllten Grimasse verzogen.

Im Amerika der 1960er Jahre wurde ein ungebildeter, ungelernter Arbeiter wie mein Vater, der sich bei der Arbeit verletzte, üblicherweise fristlos entlassen. Durch den Unfall hatte mein Vater kein Einkommen mehr, keine Krankenversicherung und keine Arbeiterunfallversicherung, und weil meine Eltern keine Ersparnisse hatten, konnten sie auf keine Reserven zurückgreifen. Meine Mutter konnte sich keine Stelle suchen. Zum Zeitpunkt des Unfalls war sie im siebten Monat mit Michael schwanger. Hätte es den örtlichen Wohltätigkeitsverein, den Jüdischen Familiendienst, nicht gegeben, hätte meine Familie nichts mehr zu essen gehabt.

Seither habe ich versucht, mir die Situation aus der Sicht meines Vaters vorzustellen. Wie veränderte sich sein Weltbild dadurch, dass er als Opfer eines Unfalls in dem Gips gefangen war? Er hatte genug Verantwortungsbewusstsein für seine wachsende Familie, um den »schlimmsten Job der Welt« anzunehmen, um uns zu ernähren. Und was bekam er dafür? Abkehr seitens der Firma, deren Arbeit ihn zerbrochen hatte. Möglicherweise gab dieses Ereignis den Ausschlag dafür, dass ein Mann, der dachte, er habe den Hauch einer Chance, etwas aus seinem Leben zu machen, in einem langen, kalten Winter feststellte, dass ein Ausrutscher ins Fegefeuer führen kann. Ich werde nie wissen, was ihm damals durch den Kopf und das Herz ging. Doch der Anblick meines hilflos auf dem Sofa zusammengesackten Vaters brannte sich auf ewig in mein Bewusstsein.

In den Jahren nach dem Unfall wurde mein Leben zuhause noch weniger verlockend. Das Treppenhaus war nicht mein einziger Zufluchtsort. Meine andere Zufluchtsstätte war der Spielplatz der Siedlung. Auf diesem festen Grund fand ich ein Paradies der Möglichkeiten und Zugehörigkeit mit Ecken und Kanten.