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Roger L. Martin

Jennifer Riel

Gute Entscheidungen

Eine Anleitung zum Integrativen Denken für Führungskräfte

 

Aus dem Englischen von Andreas Schieberle

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WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA

 

 

 

 

Für unsere Ehepartner Stephen Leckey und Marie-Louise Skafte, die uns stets ein unerschütterlicher Rückhalt waren, in Liebe

Vorwort: Der opponierbare Geist

»In uns ist eine unsichtbare Kraft; erkennt diese zwei gegensätzliche Objekte der Begierde, wird sie stärker.«

Rumi

2007 schrieb Roger ein Buch mit dem Titel The Opposable Mind (Der opponierbare Geist). Der Titel spielt auf den opponierbaren (gegenüberstellbaren) Daumen an, dieses wertvollste aller Werkzeuge. Mit dem opponierbaren Daumen, den die Menschen mit den meisten Primaten gemeinsam haben, erzeugen wir eine Spannung gegenüber unseren Fingern, mit der wir Gegenstände greifen und bearbeiten können. Ganz ähnlich kann der opponierbare Geist eine Spannung zwischen Ideen erzeugen, durch die wir neue Lösungen für herausfordernde Probleme entwickeln können. Roger nannte dieses Vorgehen integratives Denken und argumentierte, dass sich die erfolgreichsten Führungskräfte von der Masse abheben, weil sie dieses Denken beherrschen.

In dem Buch erzählt Roger die Geschichte bemerkenswerter Führungskräfte wie Isadore Sharp, Gründer der Four-Seasons-Hotels, oder Bob Young, früherer CEO des Software-Unternehmens Red Hat, oder Victoria Hale, Gründerin des Institute for One World Health. Obwohl diese Führungskräfte im Hinblick auf ihren Kontext oder Background wenig gemeinsam hatten, sah Roger doch eine starke Verbindung zwischen ihnen: Jede dieser Führungskräfte setzte zur Lösung ihrer schwierigsten Probleme auf integratives Denken. Diese schwierigen Entscheidungsaufgaben präsentierten sich in Form einer unbefriedigenden Entweder-oder-Auswahl: einem erforderlichen Kompromiss zwischen vorhandenen Lösungsmöglichkeiten, die alle nicht gut genug waren, um das Problem wirklich zu lösen. Statt aber nun zwischen diesen suboptimalen Optionen ihre Wahl zu treffen, konstruierten diese Führungskräfte aus den sich widersprechenden Ideen integrative Antworten. Das Ergebnis ihres Denkprozesses waren neue Wahlmöglichkeiten, die das ursprüngliche Entweder-oder-Problem kreativ lösten und für die Welt neue Werte schufen.

Die Führungskräfte, die Roger studierte, teilen »die Neigung und die Fähigkeit, zwei diametral entgegengesetzte Ideen im Kopf zu behalten. Und sind dann, ohne in Panik zu geraten oder sich mit der einen oder anderen Alternative abzufinden, in der Lage, eine Synthese zustande zu bringen, die beiden gegensätzlichen Ideen überlegen ist.«1 In The Opposable Mind untersuchte Roger die »Disziplin der Betrachtung und Synthese«, die nach seiner Meinung erklärte, was diese Führungskräfte getan hatten, um ihre schwierigsten Herausforderungen zu lösen. Es war, wie er sagte, eine Art zu denken, die vier entscheidende Elemente aufwies.

Erstens erweiterten sie die Überlegungen, was für ihre Entscheidung von Bedeutung ist, und zogen noch weitere Dinge in Betracht, wenn sie über ihr Problem nachdachten. Zweitens untersuchten sie komplexe kausale Beziehungen und bezogen diese Beziehungen zwischen den bedeutenden Variablen mit ein. Drittens legten sie sich das Problem so zurecht, dass es in seiner Gesamtheit in den Blickpunkt rückte, und strukturierten es mit Disziplin und zielgerichtet, statt sich nur auf Einzelaspekte des Problems zu konzentrieren. Und viertens und letztens arbeiteten sie aktiv auf eine kreative Überwindung inakzeptabler Kompromisse hin, statt diese brav zu akzeptieren. Diese Führungskräfte strebten an, neue Erkenntnisse und eine Überwindung der Spannung zwischen den Ideen zu erreichen, bevor sie weitermachten.

Diese Theorie des integrativen Denkens zu formulieren, war das Eine. Etwas ganz Anderes war es, sie auch zu lehren. Und so bat Roger Jennifer, bei seiner Arbeit mitzuwirken und zu helfen, die Theorie in die Praxis umzusetzen und sie außerdem auch von den leitenden Managern (vorwiegend aus Unternehmen), die in The Opposable Mind porträtiert wurden, auf Personen in einem weiteren Spektrum von Organisationen auszuweiten. Im letzten Jahrzehnt haben wir uns so, zusammen mit wunderbaren Kollegen, mit Unternehmens-Managern unterschiedlicher Branchen befasst, aber auch mit Studenten, MBA- sowie Executive-MBA- Studenten, mit Abteilungsleitern, Führungskräften von Non-Profit-Organisationen und Behörden, Lehrern und sogar Grundschülern. Bei jeder Gruppe haben wir eine Menge über Theorie und Praxis des integrativen Denkens gelernt.

Was wir gelernt haben

Wir haben zum Beispiel herausgefunden, dass die Geschichten in The Opposable Mind, die sich für die Leser als inspirierend erwiesen, tatsächlich auch eine Lernbarriere darstellen konnten. Wir haben außerdem gelernt, dass integratives Denken auf einen weit größeren Kreis von Problemen angewendet werden kann, als wir uns ursprünglich vorgestellt hatten, und auch von einem weit größeren Kreis von Führungskräften. Und wir haben gesehen – wie wir es auch immer gehofft hatten –, dass integratives Denken keine angeborene Fähigkeit ist – also eine, die man entweder hat oder nicht hat –, sondern eine Vorgehensweise, die sich mit der Zeit erlernen lässt.

Die Geschichten

Als wir damit anfingen, das Buch in Unterrichtspläne und Kurse zu übersetzen, stellten wir fest, dass sich eine beunruhigende Kluft zwischen Wissen und Handeln auftat. Selbst für Studenten, die die Geschichten mit Leichtigkeit nacherzählen konnten und die Werkzeuge auf einer kognitiven Ebene verstanden, stellte es oft eine große Mühe dar, das integrative Denken auf ihre eigenen Herausforderungen und in ihrem eigenen Kontext anzuwenden. Zum Teil war das darauf zurückzuführen, dass wir als unsere Subjekte richtungsweisende Führungskräfte ausgewählt hatten; es erwies sich als schwierig, zu verstehen, wie man das Handeln von, sagen wir, A. G. Lafley, dem CEO von Procter & Gamble (P&G), in den eigenen Kontext der Studenten übersetzen sollte. Unsere Studenten arbeiteten nicht für P&G und sie waren auch keine CEOs. Wie sich herausstellte, war die Übersetzungsaufgabe besonders dann schwierig, wenn die Geschichte sowohl anschaulich als auch real war. Leicht war es, von den Details der Erzählung, den Charakteren und den im Einzelnen vorgenommenen Handlungen mitgerissen zu werden. Die weiter gefassten Lehren dagegen konnten dabei übersehen werden.

Wir mussten in unseren Vorlesungen also eine effektivere Balance zwischen Geschichtenerzählen und Anwenden finden. Das haben wir auch in diesem Buch versucht. Wir erzählen zwar immer noch Geschichten, weil sie spannend und lehrreich sind, aber Sie werden in diesem Buch eine viel stärkere Betonung der Methodik finden als in The Opposable Mind. In dieser Hinsicht soll dieses Buch stärker zur Anleitung als zur Wissensvermittlung dienen. Wir ermuntern Sie, beim Lesen Ihre eigenen Herausforderungen zu bearbeiten und sich in die kurzen Übungen mit dem Titel »Versuchen Sie einmal Folgendes« zu vertiefen, die Sie in allen Kapiteln finden. Diese sollen Ihnen helfen, das Gelesene in Echtzeit anzuwenden. Außerdem werden Sie am Ende vieler Kapitel Mustervorlagen finden, die Ihnen helfen sollen, die Diskussion zu strukturieren.

Anwendungsbereich

In The Opposable Mind argumentierte Roger, integratives Denken sei ein Werkzeug, das zur Anwendung kommen sollte, wenn man mit Kompromisslagen konfrontiert ist, also schwierigen Entweder-oder-Situationen, die das Merkmal jeder Managementkarriere sind. Nun sind Kompromisse natürlich ein Element fast jeder Entscheidung; daher argumentierte Roger, dass integratives Denken am besten dann zum Einsatz komme, wenn der zur Debatte stehende Kompromiss einfach zu schmerzlich sei. Er konzentrierte sich also auf Situationen, in denen die Wahl einer der beiden Optionen einfach nicht gut genug ist. Und wir haben tatsächlich gesehen, dass integratives Denken in dieser Art von Situationen mit großem Erfolg eingesetzt wird. Was uns aber überraschte, war, in welchem Ausmaß sich integratives Denken auch bei einer ganzen Vielzahl anderer Probleme, Herausforderungen und Chancen als das bessere Werkzeug zur Herbeiführung guter Lösungen erwies – auch in Fällen, in denen die ursprüngliche Problemkonstruktion keinen wirklich schmerzlichen und inakzeptablen Kompromiss aufwies. In solchen Fällen führt eine Neuformulierung des Problems in Form einer Entweder-oder-Entscheidung oft dazu, dass sich die Perspektiven verschieben und die Diskussion auf eine Weise verändert wird, die neue Antworten möglich macht.

Und dann ist da noch der Anwendungsbereich im Hinblick auf die Personen, die die Entscheidungen treffen. Viele der Geschichten in The Opposable Mind berichten von CEOs und Unternehmern, die inakzeptable Kompromisse mit großem Erfolg überwunden haben. Diese Konzentration auf individuelle transformative Führungskräfte war vom erzählerischen Standpunkt her nützlich: Sie machte die Geschichten klar, einprägsam und stark. Aber sie erwies sich auch als irreführend. Die Porträtierten beeilten sich fast ausnahmslos, klarzustellen, dass sie ihre Entscheidungen zusammen mit ihren Teams getroffen hätten, nicht allein in ihren Eckbüros. Integratives Denken, das wurde uns klar, ist sowohl eine individuelle Fähigkeit als auch ein Teamsport. Nach unserer Erfahrung führt es fast immer zu überlegenen Ergebnissen, wenn integratives Denken in gemischten Teams statt allein angewandt wird.

Eine angeborene Fähigkeit?

Lassen Sie uns abschließend noch einen Blick auf die Vorstellung werfen, integratives Denken sei eine angeborene Fähigkeit. Klar, die Leute, die in The Opposable Mind porträtiert wurden, hatten nicht die Chance, über integratives Denken einen Kurs zu belegen oder ein Buch zu lesen. Integratives Denken war ein Problemlösungsverfahren, das alle von ihnen im Verlauf ihres Lebens auf ihre jeweils eigene Weise im Zuge ihrer Arbeit und Praxis entwickelt hatten. Aber die Tatsache, dass jede dieser Führungskräfte ohne offizielle Ausbildung zu dieser Denkweise gelangt war, heißt nicht notwendigerweise auch, dass sie angeboren wäre. Um herauszufinden, ob die Idee des integrativen Denkens gelehrt werden kann, mussten wir sie in eine Methodik übersetzen und mit einem Satz Werkzeuge ergänzen. Dadurch ist das integrative Denken inzwischen weniger eine Beschreibung, wie erfolgreiche Führungskräfte denken, sondern vielmehr ein Verfahren, das jeder lernen und praktizieren kann.

Dieses Verfahren stellt das Herz des Buches dar. Es ist eine Methodik des Problemlösens, die nach unserer Überzeugung alle Führungskräfte in die Lage versetzt, das Spannungsverhältnis zwischen entgegengesetzten Ideen zu nutzen, um neue transformative Werte zu erschaffen. Aber bevor wir zur Methodik kommen, geben wir Ihnen hier noch ein wenig angereicherte Theorie weiter, die auch einbezieht, was wir von anderen gelernt haben, die über Entscheidungsprozesse auf eine andere, aber ergänzende Weise denken. Insbesondere geben wir Prinzipien der verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie und des Design Thinking wieder, die unsere Arbeit zunehmend beeinflussen.

Verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie

1974 veröffentlichten Daniel Kahneman und Amos Tversky einen bahnbrechenden Artikel mit dem Titel »Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases«. Fünf Jahre später folgte »Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk«.2 Zusammen stellten diese Artikel viele herrschende Ansichten über Entscheidungsprozesse infrage, wie sie an den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten gelehrt wurden. Die herrschende Meinung war davon ausgegangen, dass die Menschen ihre Entscheidungen auf der Basis ökonomisch rationaler, vorurteilsfreier Logik treffen. Kahneman und Tversky trugen dazu bei, zu zeigen, dass wir Menschen einen Satz vorhersagbarer Vorurteile mit uns herumtragen, die unsere Entscheidungsbildung beeinflussen, nicht selten zu unserem Schaden. Die gemeinsame Arbeit trug Kahneman den Wirtschafts-Nobelpreis ein (Tversky verstarb, bevor er geehrt werden konnte) und regte ein neues Studienfeld zum Wachsen an: die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie, oft auch Verhaltensökonomie genannt.

Das Studium der psychologischen Entscheidungsprozesse ist eine Wachstumsbranche, und im vergangenen Jahrzehnt haben drei grundlegende Bücher für eine Verbreitung des Wissens darüber gesorgt: Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt (Nudge: Improving Decisions About Health, Wealth and Happiness) von Richard Thaler und Cass Sunstein; Denken hilft zwar, nützt aber nichts (Predictably Irrational: The Hidden Forces That Shape Our Decisions) von unserem Freund Dan Ariely; und von Kahneman selbst Schnelles Denken, langsames Denken (Thinking, Fast and Slow).3 Während diese Bücher der verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie zu größerer Bekanntheit verhalfen, veranlassten sie uns, stärkere Verbindungslinien zwischen den Prinzipien der psychologischen Entscheidungsprozesse und unserer eigenen Arbeit zu ziehen.

Wir Menschen, so sagt uns die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie, stützen uns nicht auf rationale, unvoreingenommene Logik, wenn wir unsere Wahlentscheidungen treffen. So sind wir voreingenommen für Daten, die unmittelbar verfügbar sind. Wir nutzen eine erste Ansicht als Ankerpunkt und suchen überproportional nach Daten, die diese Ansicht bestätigen. Außerdem ist unsere Abneigung gegen Verluste stärker als unsere Begeisterung für Gewinne – und so weiter. Unsere Vorurteile beeinträchtigen unsere Entscheidungen also in beträchtlichem Ausmaß. Und wie wir es sehen, tragen die konventionellen Entscheidungsprozesse in Unternehmen auch wenig dazu bei, solche Vorurteile abzumildern, sondern können sie eher noch bestärken. Denken Sie einmal daran, wie wir typischerweise Managemententscheidungen treffen: Wir stellen »relevante« Daten in den Raum, um den Kontext zu setzen, und verankern uns unweigerlich daran; wir suchen Belege, die uns bestätigen, dass unsere Entscheidung die richtige ist, und ignorieren alle dagegen sprechenden Daten. Wir bitten Führungskräfte, früh öffentliche Statements zur richtigen Antwort abzugeben, wodurch wir ihnen wenig Raum lassen, ihre Ansichten später noch ohne kognitive Dissonanz zu ändern. Und wir verlangen die Zustimmung und Akzeptanz des gesamten Teams, was leicht zu einem Gruppendenken führt.

Wenn wir im Gegensatz dazu unsere Schüler, insbesondere Grundschulkinder, beim Einsatz des integrativen Denkens beobachteten, sahen wir ganz andere Ergebnisse. Diese Schüler wurden anscheinend, nachdem sie das integrative Denken angewandt hatten, mit geringerer Wahrscheinlichkeit zum Opfer kognitiver Vorurteile als zuvor. Es schien möglich, dass eine Reihe der verbreitetsten kognitiven Vorurteile durch Aspekte des integrativen Denkprozesses aufgedeckt und abgemildert wurden. Daher begannen wir, die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie explizit in unseren Prozess einzubinden. Wenn wir heute integratives Denken lehren, beginnen wir mit einigen Grundlagen zu Vorurteilen und Heuristik und verwenden Beispiele von Kahneman, Ariely und anderen, um zu erklären, warum viele konventionelle Problemlösungs-Methodiken scheitern. Solche Grundlagen finden Sie in Kapitel 2.

Design Thinking

Zur gleichen Zeit, als die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie die wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten eroberte, erlangte in der Unternehmenswelt eine zweite bedeutende Welle des Denkens über Entscheidungen Einfluss: Design Thinking. Große Mainstream-Unternehmen wie General Electric, Fidelity Investments oder IBM bezeichneten Design Thinking als die Schlüsselfähigkeit, die ihrem Innovationsvermögen zugrunde liege. Die Wurzeln reichen Jahrzehnte zurück, aber ein entscheidender Moment kam 1969, als Herb Simon Die Wissenschaften vom Künstlichen (The Sciences oft the Artificial) schrieb.4 Aus der Idee, dass Design (Entwerfen, Konstruieren) den Prozess der Erschaffung eines bestimmten Artefakts bezeichne, abstrahierte Simon die Vorstellung, dass Designen eine allgemeine Art des Denkens sei.

Diese Erkenntnis inspirierte viele Anhänger, darunter auch Roger, ebenso wie Tim Brown, CEO der globalen Design-Beratungsfirma IDEO. Zusammen und getrennt haben sie daran gearbeitet, das grundlegende und erkennbare Set der Denkfähigkeiten und -verfahren zu erforschen, die dem Designen zugrunde liegen, und verwendeten den Ausdruck Design Thinking, um sie zu beschreiben. Beide veröffentlichten Bücher zum Thema: The Design of Business: Why Design Thinking Is the Next Competitive Advantage und Change by Design: How Design Thinking Transforms Organizations and Inspires Innovation.5 Sie argumentieren, Design Thinking stelle ein Set von Werkzeugen und Techniken dar, das auf jedem Gebiet angewandt werden könne, und sei nicht nur ein besonderes Design-Medium.

Design Thinking ist die Art und Weise, wie wir Neues schaffen, Dinge, die heute noch nicht existieren. Es ist ein Verfahren, um Geheimnisse der Welt zu lüften, neue Möglichkeiten zur Befriedigung von Nutzerbedürfnissen zu schaffen und neue Werte für Unternehmen zu erzeugen. Als solches kann es uns auch etwas über die Erzeugung neuer Ideen beim integrativen Denken lehren. Die Definition des integrativen Denkens trägt immer schon den kreativen Akt in sich: Es ist »die Fähigkeit, die Spannung zwischen gegensätzlichen Modellen konstruktiv auszuhalten und dann, statt eines davon auf Kosten des anderen auszuwählen, eine kreative Auflösung der Spannung in Form eines neuen Modells herbeizuführen, das zwar Elemente der jeweiligen Modelle enthält, jedem einzelnen von ihnen aber überlegen ist.«6

In der Frühzeit der Entwicklung des integrativen Denkens hatten wir wenig dazu zu sagen, wie man es produktiv angehen könnte, diese neue Idee hervorzubringen. Anfänglich zielte unser Modell des integrativen Denkens nur darauf ab, eine einzige bessere Lösung für einen inakzeptablen Kompromiss zu finden. Und nachdem die Lösung dann erdacht war, war die schwere Arbeit so gut wie erledigt. Das Ganze war sauber und ordentlich, in der Theorie. Aber dann erkannten wir unter dem Einfluss des Design Thinking, welchen Wert es hat, zunächst viele mögliche Antworten zu erforschen, bevor man sich auf eine verständigt. Wir begannen jede kreative Lösung als den Prototyp einer ersten Lösung anzusehen, der zunächst getestet und immer wieder durchprobiert werden musste, bevor er angewendet werden konnte. Wenn wir heute integratives Denken lehren, zeigen wir den Studenten, wie sie auf ihrem Weg zu einer kreativen Lösung mehrere Möglichkeiten hervorbringen, diese zu Prototypen machen und testen können. Mehr über den kreativen Akt lesen Sie in Kapitel 7, mehr über Prototypen und Tests in Kapitel 8.

Beispiele und Kontext (oder: Die Welt braucht mehr Kanada)

Mit den Jahren haben wir über integratives Denken eine Menge gelernt. Dieses Buch gibt dieses Wissen an Sie weiter, wobei es zu einem großen Teil von den Menschen profitiert hat, die wir unterrichtet haben. Die Basis unserer Arbeit war für einen großen Teil des vergangenen Jahrzehnts die Rotman School of Management der University of Toronto, daher kann es gut sein, dass Sie in diesem Buch den ein oder anderen kanadischen Anklang wahrnehmen. Wir sind zwar sehr dafür, Kanada in der Welt bekannter zu machen, Sie werden allerdings auch Geschichten aus der großen weiten Welt finden; wir haben Beispiele für integratives Denken auch in Kapstadt/Südafrika gesehen, in Billund/Dänemark, in Valley Forge (Pennsylvania)/USA und an vielen anderen Orten. Wir haben gesehen, wie integratives Denken in sozialen Einrichtungen zur Anwendung kam, bei Finanzdienstleistern, im Konsumgüterbereich und im öffentlichen Sektor. Jedes für dieses Buch ausgewählte Beispiel sollte ein universelles Thema illustrieren, und wir hoffen, dass die Anwendbarkeit jeweils auch über den spezifischen Kontext hinaus klar wird.

In den folgenden Kapiteln plädieren wir für eine neue Herangehensweise ans Problemlösen. Wir formulieren einige Kernprinzipien, und wir liefern eine Schritt-für-Schritt-Erklärung, mit der wir ein Verfahren erklären, wie Sie diesen Ansatz auf Ihre schwierigsten eigenen Probleme anwenden können. Ob Sie nun schon lange ein Fan von The Opposable Mind sind oder dieses Konzept völlig neu für Sie ist, dieses Buch soll Ihnen die Werkzeuge an die Hand geben, mit denen Sie integratives Denken einsetzen können, um bei Ihrer eigenen Arbeit gute Entscheidungen zu treffen.

Teil I:
THEORIE