Cover Page

Melanie Kohl

Power auf Dauer

Das Geheimnis für mehr Energie, Achtsamkeit und Erfolg

Wiley Logo

WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA

Vorwort: Als mir der Kaffeebecher aus der Hand fiel

Es ist ein Dienstagmorgen um 6.00 Uhr im Jahr 2012 und ich stehe am Flughafen Charles de Gaulle in Paris. Einen Flughafen, den ich ziemlich gut kenne, da ich mich an etwa 150 Tagen im Jahr auf Dienstreise befinde und viele davon in Paris verbringe, da der Mutterkonzern meines Arbeitsgebers – ein Pharmakonzern – dort seinen Hauptsitz hat.

Durch den Lautsprecher ertönt die Stimme einer Stewardess: »Ihr Flug LH375 nach Düsseldorf steht nun zum Einsteigen für Sie bereit.« Ich sehe eine beachtliche Zahl von Geschäftsleuten um mich, die entweder telefonieren oder E-Mails schreiben. Ich frage mich, wen man sinnvollerweise um 6.00 Uhr morgens anrufen könnte. Einen Kunden, Mitarbeiter, Kollegen oder die Ehefrau?

Das erste Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, am falschen Platz zu sein und ich frage mich, was ich hier eigentlich mache. Ich habe einen tollen Job, leite eine Abteilung, fahre einen Firmenwagen, bin international unterwegs und werde als Marketingexpertin geschätzt. Das ist die eine Seite. Aber welchen Preis zahle ich dafür? Ich bin 34 Jahre alt und verbringe das Wochenende meistens - wenn ich nicht arbeite - auf der Couch, weil ich zu müde für Aktivitäten bin. Meine Freunde fragen mich inzwischen nicht mehr, ob ich am Wochenende etwas mit Ihnen unternehmen möchte, da sie meine Antwort ohnehin schon kennen: »Leider nicht, weil ich am Wochenende beruflich unterwegs bin.«

Ich verdiene gutes Geld, keine Frage, doch mir fehlt die Zeit es auszugeben und zusätzlich quäle ich mich häufig mit den verschiedensten Krankheitssymptomen herum, angefangen von Migräne über ständige Verspannungen, Erkältungen bis hin zum Bandscheibenvorfall. Und obwohl ich eigentlich alles habe, fühle ich mich unzufrieden. Meine unbändige Tatkraft, meine Energie und Lebensfreude von früher sind einfach weg. Verschwunden, ganz so, als ob sie mich verlassen hätten. Innerlich fühle ich mich leer und funktioniere nur noch. Will ich so die nächsten 30 Jahre weitermachen?

Inzwischen ist es 8.00 Uhr und ich bin in Düsseldorf angekommen. Ich hole mein Auto vom Parkdeck 1 ab und fahre in die Firma, denn dort wartet um 9.00 Uhr das erste Meeting auf mich.

An diesem Tag änderte sich alles für mich. Nachdem ich in meinem Büro ankam, holte ich mir schnell noch einen Kaffee, fuhr den Computer hoch und schnappte mir die Unterlagen für die bevorstehende Besprechung. Dann eilte ich in den Meetingraum.

Ich war die Moderatorin. Alles lief wie immer. Es gab viel Diskussion über die neuen Umsatzzahlen, die nächsten Marketingmaßnahmen wurden in sämtliche Einzelteile zerlegt und ich musste wieder einmal Überzeugungsarbeit leisten. Bis ins Detail musste ich darlegen, weshalb genau diese Maßnahme unsere Produkte nach vorne bringt und keine andere. Kollegen brachten die absonderlichsten Vorschläge ins Rennen und sie alle buhlten um die Aufmerksamkeit unseres Geschäftsführers. Innerlich merkte ich, wie sich meine Gelassenheit von mir verabschiedete und das Weite suchte, während mein Stresspegel stärker anstieg. Mir stieg die Hitze ins Gesicht, meine Finger wurden feucht. Ich nahm meine Tasse in die Hand und wollte gerade einen Schluck Kaffee trinken, als mir plötzlich ein heftiger Schmerz in der Brust den Atem raubte. Ich schnappte nach Luft, mein Arm sackte nach unten und der Kaffeebecher knallte auf den Boden. Es war wie eine Schocksekunde. »Herzinfarkt«, dachte ich sofort, doch glücklicherweise stellte sich später heraus, dass meine Befürchtung unbegründet war.

Wissen Sie was mich in diesem Moment am meisten verletzte und gleichermaßen frustrierte? Das Meeting lief weiter. Einfach so.

»Entspann Dich mal kurz«, war alles, was ich zu hören bekam. Die einzige Person, die sich Sorgen um mich machte, war meine Sekretärin. Sie empfahl mir direkt, ins Krankenhaus zu fahren, und das tat ich auch sofort. Ich unterbrach das Meeting und fuhr in die Klinik. Dort angekommen wurde ich sofort durchgecheckt, doch meine EKG-Werte zeigten sich normal und mein Herz schlug, wie es schlagen sollte. Auch die Wirbelsäule war einwandfrei. Es gab keinen eingeklemmten Wirbel, der diese Schmerzen hätte auslösen können, ich war also körperlich vollkommen gesund.

Es war meine Psyche, die rebellierte, die nicht mehr so weitermachen wollte. An diesem Tag wurde mir klar, dass sich in meinem Leben etwas ändern muss. Die Frage war nur was? Da ich früher ein Workaholic war, besaß ich zu diesem Zeitpunkt bereits einen riesigen Erfahrungsschatz darin, wie man nicht leben sollte, vorausgesetzt, man möchte seine Zukunft weitgehend unbeschwert erleben. Daran setzte ich an, denn ich wusste zu diesem Zeitpunkt bereits sehr gut, wie man sich im Berufsleben fühlt, wie man regelmäßig dabei scheitert, Beruf und Privatleben auf einen Nenner zu bringen. Deshalb bildete ich mich gezielt weiter und heute bin ich Stress- und Burnout Beraterin, Stress und Burnout Coach, Mental Coach, Work-Health-Balance Coach, Gesundheitspädagogin für Stressmanagement, Achtsamkeitstrainerin und Yogalehrerin. Außerdem habe ich mich mit positiver Psychologie und Emotionsmanagement beschäftigt.

Ich reiste nach Indien, um vor Ort zu sehen, wie die Menschen dort die Yoga-Philosophie in ihr Leben integrieren und ihre ständig kreisenden Gedanken zur Ruhe bringen. Mein Ziel war es Methoden zu finden, die mir helfen, in gesunder Weise Karriere zu machen beziehungsweise gesund und kraftvoll zu arbeiten und wie sich dieser Anspruch in einen durchgetakteten Alltag integrieren lässt.

Diese Methoden, die mir geholfen haben wieder zu meiner Power zurückzufinden, habe ich Ihnen nun in diesem Buch zusammengestellt. Es ist ein sehr persönliches Buch, denn es ist mein Weg in ein Leben voll von Lebenslust statt Alltagsfrust, mit aktiver Balance mitten im Leben – ein Weg vom Stressjunkie zur Vitalistin.

Vielleicht haben Sie vergleichbare Situationen auch schon mal erlebt oder Sie stecken gerade mittendrin. Fühlen Sie sich wie in einem Hamsterrad und wissen nicht, wie Sie den Absprung schaffen sollen? Haben Sie manchmal das Gefühl nur noch zu funktionieren statt zu leben? Spüren Sie eine unterschwellige Unzufriedenheit, Unruhe oder Leere und das Gefühl, etwas ändern zu wollen oder zu müssen? Wünschen Sie sich, Ihren Arbeitsalltag energievoller zu gestalten und nicht abends nach getaner Arbeit müde und abgeschlagen auf der Couch zu liegen? Oder kann es sein, dass Sie Ihr Energiemanagement perfektionieren möchten, um jederzeit Ihre beste Leistung abrufen zu können und Ihre Produktivität und Ihre gesamte Lebenszufriedenheit auf ein komplett neues Level heben möchten?

Dieses Buch ist ein erster und richtiger Schritt in Ihre neue Zukunft. Sein Ziel besteht darin, Sie dabei zu unterstützen, sich mit Ihrem Energiemanagement zu beschäftigen, zu verstehen, wie es funktioniert und wie es aktiviert werden kann, damit Sie sich künftig wacher, fitter und gesünder fühlen. Sie werden es schaffen, während des Tages die maximale Leistung zu bringen Ihre Aufgaben richtig zu meistern. Wenn Sie schließlich nach Hause kommen, steht Ihnen genügend Energie zur Verfügung, um qualitative Zeit mit Ihren Mitmenschen zu verbringen oder in sich selbst zu investieren, etwa um abends zum Sport zu gehen oder ein Buch zu lesen.

Genau darum schrieb ich dieses Buch. Nur ein Mensch, der innerlich stark ist, kann diese vorhin beschriebenen Herausforderungen langfristig meistern. Klassische Work-Life-Balance-Konzepte funktionieren heute nicht mehr, da sich die Lebensbereiche, wie Beruf und Familie, immer weniger voneinander abgrenzen lassen. Deshalb brauchen wir neue Konzepte. Konzepte für eine aktive Balance mitten im Leben.

Dieses Buch zeigt Ihnen einen neuartigen Work-Health-Balance-Ansatz, mit dem Sie zukünftig Ihren Stress reduzieren können, indem sie sich innerlich ruhig und stabil fühlen. Sie lernen die neuen Zukunftskompetenzen Achtsamkeit, emotionale Intelligenz und Selbstmitgefühl für mehr Erfolg zu entwickeln und Sie erfahren außerdem, wie Sie auf wirkungsvolle Weise energievoll bleiben können.

Ich lernte in den letzten Jahren eine Fülle von Achtsamkeitsübungen, Atemtechniken und Geisteshaltungen kennen, die mich gestärkt haben. Mit dieser umfangreichen Erfahrung ausgestattet, habe ich das SMARTCUT-Methodensystem entwickelt. Es handelt sich dabei um sogenannte Mikrotrainings, die Ihnen helfen, selbst die größten Anforderungen des Alltags gesund, energievoll und mit Leichtigkeit zu meistern. Diesen Ansatz kombiniere ich mit den Methoden der Achtsamkeit, mit den neusten Erkenntnissen aus der Emotionspychologie sowie körperorientierten Methoden wie Embodiment und Business-Yoga.

In Form von kurzen Übungen für Körper und Geist lernen Sie in diesem Buch, wie Sie Ihre täglichen Energie-Rituale zusammenstellen. Jenseits von Räucherstäbchen & Co greift mein Ansatz auf neurobiologische Methoden zurück, die besser und schneller wirken, als herkömmliches Fitness- und Entspannungstraining.

Warum Mikrotrainings? In unserer heutigen Gesellschaft besitzen nur noch wenige Menschen die nötige Zeit, sich mehrere Stunden am Tag ihrer Gesundheit zu widmen, obwohl genau das dringend notwendig wäre. Die Lösung dazu finden wir in den Mikrotrainings: kurze Wissens- und Handlungsimpulse zum direkten Umsetzen, die eine nachhaltige Entwicklung fördern.

Da ich selbst mehr als 10 Jahre in der freien Wirtschaft gearbeitet habe, weiß ich sehr gut, dass sich letztlich nur jene Techniken erfolgreich umsetzen lassen, die sich elegant in den hoch getakteten Arbeitsalltag integrieren lassen. Deshalb sind alle Methoden in diesem Buch in Ihren Tag integrierbar, ohne Extrazeiten dafür einplanen zu müssen. Also Power auf Dauer, die auch wirklich funktioniert (und nicht nur theoretisch).

Ich selbst führe die entsprechenden Übungen beispielsweise während dem Autofahren durch (in diesem Falle handelt es sich um Atemübungen), entspanne mich mit kleinen Übungen im Zug oder an der Supermarktkasse und sammle somit aktive Balance-Momente im Alltag.

Natürlich gibt es auch bei mir manchmal Situationen, die mich überwältigen oder in denen mich das Leben vor sich hertreibt, doch mithilfe der in diesem Buch vorgestellten Techniken schaffe ich es innerhalb kürzester Zeit, mein Leben wieder mit Energie und Freude zu leben und in Balance zu kommen.

Ich bin sicher, dieses Buch und damit verbunden die Tipps, die mich selbst gesünder, gelassener und glücklicher durch den Alltagsstress kommen lassen, werden auch Ihnen helfen.

Wie ist das Buch aufgebaut und wie arbeiten Sie am besten damit?

Im ersten Schritt zeige ich Ihnen, wie Energiemanagement funktioniert, wie die einzelnen Energien zusammenhängen und wie diese aktiviert werden können. Sie werden das Energierad kennenlernen, das Herzstück dieses Buches, und Sie erfahren gleichzeitig, wie Sie damit arbeiten.

In den einzelnen Kapiteln erarbeiten wir dann alle Bereiche des Energierades. Sie können also entweder Kapitel für Kapitel lesen oder alternativ direkt zu jenen Bereichen blättern, die Sie aktuell in erster Linie interessieren.

Im zweiten Schritt zeige ich Ihnen, wie Gewohnheiten funktionieren, damit Sie diese in idealer Weise in Ihren Alltag integrieren können. Wir werden uns also damit befassen, wie Gewohnheiten in Ihrem Verstand abgelegt werden, so dass Sie diese positiven Energierituale auch in Ihrem Leben implementieren können.

Zusätzlich erhalten Sie Anleitungen zu Meditationen oder speziellen Übungen. Diese Anleitungen finden entweder direkt in diesem Buch statt oder Sie bekommen einen Link zu den entsprechenden Trainingsvideos.

Wenn Sie die Übungen und Techniken aus diesem Buch regelmäßig umsetzen, werden Sie feststellen, dass Ihre Energie und Tatkraft von Tag zu Tag stärker wächst und Sie mit neuem Schwung durchs Leben gehen werden.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen nun viel Freude mit dem Buch.

Ihre Melanie Kohl

Einleitung: Und täglich grüßt der Säbelzahntiger

Ich gratuliere Ihnen, denn Sie sind ein echter Held. Wie ich darauf komme? Nun, Tag für Tag kämpfen Sie gegen den allgegenwärtigen Säbelzahntiger. Jenes Wesen, das im Dunkeln lauert und bei jeder Gelegenheit versucht, sich auf Sie zu stürzen. Manchmal gelingt es ihm auch, dem Säbelzahntiger. Dann springt er Sie an, beisst sich fest und versucht, Sie aufzufressen und kaum haben Sie einen erfolgreich bezwungen, schon schleicht sich der nächste aus dem Hinterhalt an.

Der Säbelzahntiger, das sind die sogenannten Stressoren, also jene Faktoren, die bei uns Stress auslösen.

Da kommt eine E-Mail mit hoher Dringlichkeit, ein Abgabetermin für ein Projekt drängt, nervige Kollegen, Konflikte mit dem Partner oder in der Familie, Verkehrsstaus, Rechnungen, die bezahlt werden müssen. Es hört einfach nie auf. Doch bisher haben wir überlebt!

Stress ist nicht nur eine negative Erscheinung

Was können wir als moderner Alltagsheld aus diesem ewigen Kampf gegen den Säbelzahntiger lernen?

Zunächst einmal ist es sinnlos, vor dem Stress davonzulaufen, denn er gehört zum Leben dazu und wird deswegen nie verschwinden. Natürlich von ganz wenigen Fällen abgesehen. Egal, wie wir unser Leben gestalten – primär in der Leistungsgesellschaft, in der sich die meisten von uns nun mal befinden –, entsteht mit jeder neuen Aufgabe gleichzeitig auch Stress. Wir nehmen uns Aufgaben vor und wollen diese erfüllen, wir häufen materielle Mittel an und unternehmen alles, um diese zu behalten oder wir leben von der Hand in den Mund und haben genau aus diesem Grund Stress, eben weil unser Dasein dann einem Überlebenskampf gleichkommt. Das ist die erste Erkenntnis: Stress ist Teil unserer Existenz.

Die zweite Erkenntnis besteht darin, Stress nicht ausschließlich als einen negativen Faktor zu betrachten. So besitzt Stress viele positive Eigenschaften, denn er sorgt für eine erhöhte Leistungsbereitschaft, er steigert unsere Leistungsfähigkeit und er verleiht uns die nötige Energie, um das Beste aus uns herauszuholen! An dieser Stelle sollten wir also dem Stress auch mal danken, dass es ihn gibt. Danke, lieber Stress!

Das funktioniert jedoch nur bis zu einem gewissen Scheitelpunkt, nämlich dem Leistungsoptimum. Überschreiten wir diesen Scheitelpunkt, dann erzielen wir trotz mehr Leistung letztlich sogar weniger Produktivität. Das bedeutet auch, wenn wir ständig über unser Leistungsoptimum arbeiten, führt das am Ende beinahe zwangläufig zu Erschöpfungszuständen, die zu Erkrankungen wie Burn-out führen können.

Dieses Phänomen entdeckten die beiden Psychologen Robert Yerkes und John Dodson bereits im Jahre 1908 und entwickelten daraus die gleichnamige Yerkes-Dodson-Kurve (siehe Abbildung E.1).1

image

Abbildung E.1: Yerkes-Dodson-Scheitelpunkt

Smartes Arbeiten

Die Yerkes-Dodson-Kurve zeigt gleichzeitig auf sehr anschauliche Weise, wie das sogenannte »smarte Arbeiten« funktioniert und welche Bedeutung sich dahinter verbirgt, möchte ich Ihnen an folgendem Beispiel verdeutlichen:

Nehmen wir an, bei einem Marathonlauf für Amateure bekommt der Sieger eine Prämie von 5 000 Euro, der Zweite nur noch 2 500 Euro. Die Siegerzeit des Gewinners betrug 3 Stunden und 35 Minuten, während der nächste Läufer nur vier Minuten länger für die Marathondistanz benötigte. Jetzt erhält der Sieger also doppelt so viel Preisgeld wie der Zweitplatzierte, obwohl lediglich wenige Minuten die beiden voneinander trennten. Das bedeutet also, der Sieger musste nicht doppelt so schnell laufen, trotzdem bekam er ein doppelt so hohes Preisgeld wie der zweitschnellste Läufer des Wettbewerbes.

Im Umkehrschluss verbirgt sich hinter dieser Erkenntnis die Annahme, dass die Effizienz der Mittel den Sieg bringt und nicht der Einsatz!

Smartes Arbeiten bedeutet daher, es kommt nicht darauf an, wie viel wir leisten, sondern nur, welche Ergebnisse wir erbringen.

So verhält es sich schließlich auch mit der täglichen Arbeit: Nicht wie viel wir arbeiten ist entscheidend, sondern wie und mit welchen Energie-Ritualen wir unseren Alltag gestalten entscheidet darüber, wie gut wir uns fühlen und über wie viel Energie wir verfügen können.

Befinden wir uns also in einer gesunden Stressbalance - den Wechsel von Anspannung und Entspannung - bleiben wir auf Dauer heldenhaft und stark. Selbst wenn es im Job zwischendurch mal hoch hergeht.

Was genau ist eigentlich Stress?

Über viele Jahre hinweg galt die Unterteilung in den sogenannten Distress und Eustress, also den »negativen« und »nützlichen« oder »positiven« Stress. Von dieser Form der Klassifizierung weichen immer mehr Wissenschaftler ab, nachdem Forscher feststellten, dass vielmehr unser Erregungsniveau im Nervensystem wesentlich mehr dazu beiträgt, Stress zu empfinden oder eben nicht. Der Begriff dafür lautet »Arousal« und je höher dieses Erregungsniveau schwingt, umso belastender empfinden wir eine Situation.2 Sie kennen vielleicht den Ausdruck: »Jemand steht unter Strom.« Damit wird sehr bildhaft beschrieben, wie unser Körper reagiert, wenn diese Nervenschwingung auf ein hohes Maß ansteigt. Handelt es sich dabei dann um einen dauerhaften Zustand, kann es zu Burn-out und anderen Erkrankungen führen. Liegt das Arousal jedoch im mittleren Bereich – vergleichbar mit einer Waage, an deren Enden sich die Waagschalen befinden – fühlen wir uns gelassen, voll positiver Tatenlust und sind motiviert. Befindet sich die Nervenspannung in einem sehr niedrigen Bereich, dann neigt sich diese Waage auch einem Ungleichgewicht entgegen und auch das belastet wieder unseren Körper. Deswegen kann Langeweile ebenso zu Stress führen, wie eine zu hohe Belastung.

Ursprünglich kommt der Begriff »Stress« aus der Materialforschung. »Material wird gestresst«, ist dort eine durchaus gängige Bezeichnung, wenn ein bestimmtes Material unter Druck gesetzt und belastet wird, bis es bricht. Deshalb bedeutet Stress auch Belastung. Wenn also jemand über sich sagt: »Ich bin gestresst«, dann meint er auch gleichzeitig: »Ich bin belastet«.

Aus medizinischer Sicht bedeutet Stress auch Spannung und vegetatives Erregungsniveau, auch Arousal genannt. Darunter wird der Grad der Aktivierung des zentralen Nervensystems verstanden.3 Das bedeutet, je mehr Aufregung unserem Körper widerfährt, umso höher fällt das Erregungsniveau aus. Sozusagen die »Drehzahl« im Körper, vergleichbar mit einem Automotor: Je höher die Drehzahl, desto höher die Belastung und der Verschleiß. Wenn wir also beispielsweise schlafen, dann fällt das Arousal-Level niedrig aus; sollten wir unter hoher Anspannung, Schmerzen oder Fieber leiden, dann steigt dieser Wert entsprechend an.

Was stresst uns – Stressoren erkennen

Als »Stressoren« bezeichnet man die äußeren Ursachen von Stress. Darunter fallen also alle Anforderungen, Aufgaben und Belastungen unserer Umwelt, die uns beanspruchen können, also beispielsweise zu viel Arbeit, zu hohe Leistungsanforderungen und Zeitdruck, aber auch zwischenmenschliche Konflikte, Trennungen und zudem auch andere Einflüsse wie Lärm, Schlafmangel oder ein Überangebot an Reizen, wie es bei der Verwendung von Smartphone und Internet der Fall ist.

Vor allem aber stresst uns unser Denken. Wenn wir uns ärgern oder bei anderen negativen Emotionen läuft die gleiche Stressreaktion im Körper ab wie beim bereits erwähnten Zeitdruck oder Lärm.

image

Abbildung E.2: Typische Stressoren

Dabei fällt jedoch die Wahrnehmung von belastenden Situationen – also ab wann wir etwas als stressig empfinden - sehr unterschiedlich aus. Die Stressdosis selbst wird nämlich durch unsere individuelle Bewertung bestimmt, also durch die Häufigkeit, Vielfalt, die Dauer und die Intensität, mit der ein Stressor auf unseren Organismus einwirkt.

Während die eine Person nur wenige Sekunden benötigt, um stressbedingt vollkommen auszurasten, bleibt die andere in der gleichen Situation völlig gelassen. Das bedeutet, es sind also nicht die Stressoren selbst, die bestimmte Reaktionen bei uns hervorrufen, sondern unsere persönlichen Stressmuster. Das bedeutet, jeder Mensch bewertet Situationen völlig unterschiedlich und geht auch dementsprechend anders mit ihnen um.

Wann entsteht so ein Stressmuster überhaupt?

Im Wesentlichen sind zwei Aspekte dafür verantwortlich, nämlich zunächst einmal unsere eigene Konstitution, also unsere erworbene Stresstoleranz, die in erster Linie genetisch bedingt ist. Das bedeutet, der eine reagiert nun mal weniger heftig auf einen Stressor als der andere. Der Grund dafür liegt dann weder in der Erziehung noch in seinem Umfeld. Diese Stresstoleranz befindet sich bereits in seinen Genen, gehört also gewissermaßen zu seinem persönlichen Gepäck, das er bereits mit seiner Geburt als Ausstattung erhielt.

Der andere Aspekt lautet »Biografie« und darunter werden wiederum erlernte Stresstoleranzen verstanden. Wenn jemand beispielsweise bereits jahrelang als DJ in einem Club arbeitet, wird er bei lauter Musik aus der Nachbarschaft möglicherweise nicht so schnell gestresst reagieren, wie andere. Vermutlich wird ein Polizist bei einem herannahenden Konflikt vermutlich gelassener reagieren, als ein Buchhalter, der noch immer im elterlichen Heim wohnt. Das bedeutet, Erfahrungen helfen uns, mit bestimmten Umständen (Stressoren) besser zurechtzukommen, wodurch wir weniger Stress entwickeln.

Die erworbene und die erlernte Stresstoleranz formen zusammen das Bild von unserem Umfeld, also von anderen Menschen sowie von der Welt insgesamt. Unser persönliches Stressmuster entscheidet darüber, ob und was wir als Stressor werten und wie wir damit umgehen. Daraus entsteht die individuelle Stressreaktion.

Stress ist demnach per se nicht »schlecht«. Er fördert unsere Weiterentwicklung und spornt uns zu Leistungen an, die wir ohne entsprechende Stressreaktionen nicht erreichen würden. Jede körperliche oder geistige Anstrengung, jede Problemlösung benötigt ein gewisses Maß an Erregung. So sind wir Menschen bei mittlerem Stress bzw. Erregungsniveau am leistungsfähigsten. Nimmt diese Belastung jedoch zu, dann folgen Leistungseinbrüche bis hin zur Handlungsunfähigkeit. Gleiches gilt natürlich auch für zu wenig Stress oder Erregung, denn auch hier kommt es zu einer Handlungsunfähigkeit, wenn die Belastung zu gering wird.

Wie so oft im Leben ist es also die »goldene Mitte«, die für uns am besten funktioniert.

Was passiert bei Stress im Körper?

Stress ist aus evolutionärer Sicht ein sehr alter Mechanismus, der auch heute noch wirkt und sich bei kurzfristiger Belastung aktiviert und dabei sogar überlebenswichtig sein kann. Sobald eine stressige Situation eintritt, vollziehen unser Körper und unser Geist gewissermaßen einen Turbostart: In Sekundenschnelle wechseln wir aus einem Zustand der Ruhe in die Bereitschaft für Kampf oder Flucht. Somit wird der Organismus in eine erhöhte Alarm– und Handlungsbereitschaft versetzt und das wirkt sich wiederum unter anderem auf die Muskulatur, Atmung und den Kreislauf aus, aber auch die Verarbeitung von Informationen im Gehirn verändert sich. Das bedeutet, durch diesen Stress richtet sich alles im Körper auf Überleben aus.

Da jetzt das Überleben an erster Stelle steht, reduziert unser Körper alles, was er nicht dafür benötigt, auf ein Minimum, wie etwa die Durchblutung der Verdauungsorgane. Gleichzeitig schüttet der Körper einen wahren Hormoncocktail aus, der Organismus beginnt verstärkt Energie in Form von Zucker und Fetten zu produzieren, um kurzfristig leistungsfähiger zu sein. Dadurch erklärt sich dann auch der Heißhunger nach Süßem, den wir verspüren, wenn wir gestresst sind. Dabei schüttet die Bauchspeicheldrüse verstärkt Insulin aus, um den Zucker in die Zellen zu transportieren.

Des Weiteren steigen Blutdruck und Herzfrequenz an, die Atmung beschleunigt sich und das Blut wird mit mehr Sauerstoff angereichert und zu den Muskeln umgeleitet. Somit wird kurzfristig mehr Energie erzeugt, denn wir stellen uns ja entweder auf einen Kampf oder auf Flucht ein und in beiden Fällen benötigen wir dafür unsere Muskelkraft. Aus diesem Grund verspannen sich übrigens Ihre Muskeln, wenn Sie von Termin zu Termin hetzen oder ein schwieriges Gespräch führen.

Bei Dauerstress kommt es dann natürlich zu Muskelverspannungen, die sich beispielsweise in Rückenproblemen ausdrücken.

Stress hat jedoch auf unser Gehirn Einfluss, denn auch dort reduziert unser Körper alle Bereiche, die er nicht zwingend für den bevorstehenden Kampf oder die unvermeidliche Flucht benötigt. Zunächst einmal nimmt das Denk- und Erinnerungsvermögen zu, während gleichzeitig das Schmerzempfinden sinkt. Auch der Bereich des Lern- und Erinnerungsvermögens wird aktiviert. Tritt jedoch keine Entspannungsphase ein und wir befinden uns im Dauerstress, dann führt dies zur Minderung unserer Leistungsfähigkeit und unseres Denkvermögens.

Warum empfinden viele Menschen Stress als negativ?

Der moderne Mensch befindet sich praktisch immer auf der Flucht vor dem Säbelzahntiger. Daran hat sich seit tausenden von Generationen nichts geändert. Der Unterschied besteht nur darin, dass unsere heutigen Säbelzahntiger in Form von Zeitdruck, Multitasking und nicht mehr als das Raubtier von damals in Erscheinung treten. Damit hat es sich jedoch auch schon wieder mit den Unterschieden. Wir befinden uns also in einem ständigen Reiz-Reaktions-Schema, in dem permanent – ohne die eigentlich notwendigen Pausen – zu viele Reize auf uns einströmen. Der innere Pegel der Anspannung wird dabei ständig nach oben gefahren und das empfinden Menschen als unangenehm, sogar als eine Art Stressgefängnis.

Schwierige Aspekte des Stress-Systems

Unser eingebautes Überlebensprogramm hat sich bei der Erhaltung unserer Art als sehr erfolgreich erwiesen, denn als in der frühgeschichtlichen Epoche der Menschheit tatsächlich Raubtiere (oder andere Menschen) unser Leben aktiv bedrohten, mussten wir in der Lage sein, sofort und angemessen zu reagieren und der Stress sorgte dafür, dass wir dazu auch bereit waren. Die meisten Menschen leben jedoch nicht mehr in diesem lebensbedrohlichen Umfeld und die Raubtiere von damals treten heute in anderer Form zutage. Unser Körper ist jedoch (noch) nicht in der Lage, zwischen einer Bedrohung eines Säbelzahntigers und einer belastenden Aufgabe zu unterscheiden: Die Reaktion darauf ist immer noch dieselbe, weshalb das zu folgenden unangenehmen Konsequenzen für uns führen kann:

  1. Keine Bewegung – kein Adrenalinabbau:

    Da es heute weniger möglich ist, Stresshormone durch Bewegung abzubauen, bleiben wir im wahrsten Sinne des Wortes darauf sitzen – was dauerhaft zu psychischen und physischen Problemen führt

  2. Bedrohungen, die keine sind:

    Wie bereits erwähnt, war ursprünglich unser inneres Stressprogramm dafür gedacht, unsere Spezies vor realen Bedrohungen (zum Beispiel vor wilden Tieren) zu schützen. Wir sind zwar heute kaum noch realen Bedrohungen ausgesetzt, doch in unserem Gehirn findet keine Unterscheidung statt.

  3. Keine Entspannungsphasen:

    Der moderne Mensch befindet sich permanent im Aktivitätsmodus, das bedeutet gleichzeitig, es gibt keine Erholungsphasen. Während unsere Vorfahren nach einer Aktvierung des Stresssystems ausreichend Zeit zur Regeneration hatten, werden wir ständig den gefühlten Stressoren ausgesetzt. Unser Stresssystem war immer nur für Notfälle und für einen Zeitraum von Minuten bis wenigen Stunden gedacht, doch durch unsere moderne Lebensweise muss es beinahe ständig arbeiten. Dafür ist unser Organismus schlicht einfach nicht geschaffen.

  4. Langfristige Folgen durch Stress:

    Die Folgen der Stressreaktion lassen also normalerweise schnell nach und der Körper schaltet danach recht zügig in den Normalbetrieb zurück. Dieses Umschalten bleibt mitunter aus, wenn wir uns langfristig und dauerhaft unter Stress fühlen. Dann kann Stress ernsthafte körperliche Erkrankungen auslösen. Typische Beispiele für körperliche Erkrankungen durch Stress sind:

    • Herz-Kreislauferkrankungen,
    • Magen- und Darmprobleme,
    • Verdauungsbeschwerden, wie Durchfall, Sodbrennen, Übelkeit und Erbrechen,
    • erhöhte Infektanfälligkeit durch ein geschwächtes Immunsystem (Abwehrschwäche),
    • Schlafstörungen,
    • Kopfschmerzen, wie Migräne und Spannungskopfschmerzen,
    • Viruserkrankungen wie Lippenherpes und Gürtelrose,
    • Hauterkrankungen wie Neurodermitis und Psoriasis sowie Allergien oder Asthma können durch Stress verstärkt werden.
    • Auch bisher nicht diagnostizierte (aber vorhandene) Stoffwechselstörungen wie Diabetes oder Schilddrüsenüberfunktion können durch Stress erstmals Symptome zeigen.

Stress schadet auch der Seele

Dauerhafter und als Belastung erlebter Stress löst nicht nur körperliche Erkrankungen aus, sondern er schadet auch der Seele. Beispiele für psychische Erkrankungen durch Stress oder durch Stress begünstigte Erkrankungen sind:

  • Burnout,
  • Angst und Angststörungen,
  • Tinnitus,
  • Depressionen,
  • Nervosität, Unruhe,
  • Konzentrationsstörungen,
  • ADS und ADHS.

Wie Sie erkennen können, handelt es sich also keinesfalls um Bagatellen, die länger anhaltender Stress bei uns auslösen kann und deshalb ist es wichtig, frühzeitig im Alltag auf Stresssymptome – wie sie in Abbildung E.3 dargestellt werden - zu achten.

Vergleichbar mit den gelben Symbolen im Cockpit unseres Autos informieren uns diese Symptome über mögliche Gefahren in unserem Körper. »Bitte unternimm etwas dagegen«, lautet sinngemäß die Botschaft, wenn sich die in Abbildung E.3 dargestellten Stresssymptome bemerkbar machen. Hand aufs Herz: Wenn bei Ihrem Auto die gelbe Tankanzeige aufleuchtet, reagieren Sie sicherlich relativ zügig und steuern die nächstbeste Tankstelle an. Seltsamerweise neigen die meisten Menschen dazu, die nahezu gleichen Warnsignale zu ignorieren, wenn es um die eigene Gesundheit geht. Ich empfehle Ihnen daher: Hören Sie rechtzeitig auf Ihre Symptome!

image

Abbildung E.3: Typische Stresssymptome

Es stellt sich also nicht die Frage, wie Sie den Stress managen sollten, sondern vielmehr, wie Sie Ihre Energie richtig einsetzen. Das bedeutet auch, haben Sie keine Angst vor Stress! Er ist unsere wichtigste Energiequelle, sofern wir ihn klug nutzen. Und gerade weil sich uns in dieser modernen Welt so viele stressige Säbelzahntiger entgegenstrecken, hatten wir noch nie so gute Chancen für tägliches Heldentum. Seien Sie ein Held!

Note