Digital Rebirth

Wie sich intelligente Unternehmen neu erfinden

Von Marius Leibold und Sven C. Voelpel

ISBN 978-3-89578-737-9 (EPUB)

Vollständige EPUB-Ausgabe von Marius Leibold und Sven C. Voelpel, Digital Rebirth

ISBN 978-3-89578-478-1 (Printausgabe)

Eine gemeinsame Publikation von Publicis Pixelpark und Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA

Publicis Pixelpark

Publicis Pixelpark, Erlangen

www.publicis-books.de

© 2018 Publicis Pixelpark Erlangen – eine Zweigniederlassung der Publicis Pixelpark GmbH

Cover


Marius Leibold

Marius Leibold ber­ät seit mehr als 20 Jahren Führungskräfte von Unternehmen in den USA, Europa, China, Asien/Australien und Afrika. Leibold ist Professor Emeritus der Stellenbosch University in Südafrika, Gastprofessor an der Universität von North Carolina, der Business School Netherlands sowie der Massey University (Neuseeland) und gilt als einer der führenden Experten bei der Beratung auf dem Weg in die digitale Zukunft.




Sven C. Voelpel

Sven C. Voelpel ist Experte für Excellence, Professor für Business Administration an der Jacobs University Bremen und Gründungspräsident der WISE Group. Er war Gastprofessor am INSEAD, in Tsinghua und St. Gallen sowie Gast­dozent an der Harvard University, hat große Erfahrung in Führungskräfte-Workshops und ist ein international anerkannter Redner.

Die „Valley-of-Death“-Kurve: Jenseits des Transformationshype zu Rebirth und neuem Leben

Die Valley-of-Death-Erfahrung

Bild 1 Die Valley-of-Death-Erfahrung 9

Es gibt viel Hype um die digitale Transformation von Unternehmen und Geschäftsmodellen und um digitale Roadmaps für Unternehmen. Die meisten etablierten Unternehmen bleiben dabei jedoch nach wie vor Gefangene ihres Geschäftsmodells. Ihre Digitalisierungsbestrebungen werden kaum ausreichen, um ihr Überleben zu sichern, was nicht nur an der Kurzsichtigkeit des Managements liegt, sondern auch an prozessbedingten Engpässen.

Ohne echten Digital Rebirth steht den meisten der bestehenden Unternehmen eine Valley-of-Death-Erfahrung bevor.

Dieses Buch zeigt, dass Unternehmen überkommene Geschäftsmodelle aufgeben und ihre Denk- und Handlungsweise radikal auf digitale Plattformen und Ökosysteme umorientieren müssen. Digitale Roadmaps ohne klare, zeitgemäße digitale Denkweise und einen funktionierenden Kompass für Zielorientierung und digitale Leistungsfähigkeit sind gefährlich unzulänglich.

Daniel Cohen, VP bei Adobe Systems, formuliert das folgendermaßen: „Ursprünglich verfolgten wir mit unserer digitalen Strategie das Ziel, unser traditionelles Modell und ein neues Abomodell parallel laufen zu lassen. Doch dann entschieden wir uns für die Strategie, die Boote hinter uns zu verbrennen, um unsere Umstellung auf das neue Modell zu beschleunigen. Es gab keinen Weg zurück in unser altes unternehmerisches Selbstverständnis, und das mussten wir unseren Beschäftigten begreiflich machen. 10

 Kapitel 10 

Fazit. Digital Rebirth als entscheidender Impulsgeber für Unternehmen

„Wo ist das Wissen, das wir in Daten verloren?
Wo ist die Weisheit, die wir im Wissen verloren?
Wo ist das Wissen, das wir in Information verloren?“
   – Frei nach T. S. Eliots „The Rock“

„Das Leben gehört den Lebendigen an, und wer lebt, muss auf Wechsel gefasst sein.“
   – Johann Wolfgang von Goethe, in „Wilhelm Meisters Wanderjahre“

Der Digital Rebirth von Unternehmen ist Realität geworden – und das aus gutem Grund. Seine Zeit ist gekommen, seine Dynamik ist im digitalen Zeitalter unverzichtbar. Inzwischen steht zweifelsfrei fest, dass viele Programme etablierter Unternehmen zur digitalen Transformation und zur Digitalisierung ihrer Geschäftsmodelle scheitern. Dringend gebraucht wird ein Rebirth der Denkweisen von Führungskräften und der Ansätze für das Geschäft in einer digitalen Welt. Für viele Unternehmen geht es um Leben oder Tod.

Dieses Vorhaben ist kein Kinderspiel, denn auch die Mehrheit der Unternehmensberater, Wissenschaftler und Unternehmenslenker denkt noch in den veralteten Kategorien des industriellen, vom Wettbewerb geprägten Zeitalters. Zudem kursieren in den Medien jede Menge Mythen, Widersprüche und Missverständnisse darüber, was die Digitalisierung in ihrer Ganzheitlichkeit tatsächlich bedeutet und welche Folgen sie hat. Zum Glück gibt es aber auch vorausschauende, mutige Unternehmenslenker, die sich auf fruchtbare Reisen zum Digital Rebirth begeben haben.

Aus den beispielhaften Erfahrungen, die einige bekannte Unternehmen und ihre Führungsteams gemacht haben, haben wir eine logische und umfassende Methode für den Digital Rebirth und fünf Treiber entwickelt, die Sie auch für Ihren Digital Rebirth nutzen können.

Branchen und Unternehmen auf der ganzen Welt verändern sich grundlegend und unwiderruflich

Digitalisierung, künstliche Intelligenz, neue Technologien, Materialien und Prozesse und obendrein die enormen Fortschritte in den Biowissenschaften verändern für sich genommen, aber auch in unterschiedlichen Kombinationen, was Unternehmen tun, und verschieben Branchengrenzen. Es ist nicht nur so, dass eine Vielzahl neuer Technologien über uns hereinbricht, sondern es kommt zu einer technologischen und kognitiven Kombiexplosion, die sich auf alle denkbaren Unternehmensformen und Führungsmethoden auswirkt.

Verbraucher ernten die Früchte dieser zahlreichen Anstrengungen, da sich auch das Echtzeit-Kundenengagement sowie die Wertgenerierung und -lieferung rapide verändern. In vielerlei Hinsicht wandelt sich B2C in C2B, da Kunden mobile, netzwerkfähige Waren und Dienstleistungen genießen, sich an der Gestaltung von Produkten und Dienstleistungen beteiligen, und Individualisierung und Vielfalt weit über die eigentlichen Produkte und Dienstleistungen hinausgehen.

Dazu kommt, dass sich auch die Spielregeln des Wettbewerbs verändern: Da zusammenhängende Netze aus Partnern, Plattformen, Kunden und Lieferanten für Wirtschaft und Gesellschaft essentiell geworden sind, erleben wir zurzeit eine Business-Ökosystemrevolution. Wenn wir dabei sagen, dass sich die Disruption der Branchen beschleunigt, bedeutet das, dass sich die fundamentalen Grundlagen der Industriestruktur in zahlreichen Branchen – die ökonomischen Grundlagen, das Machtverhältnis zwischen Käufern und Verkäufern, die Rolle der Vermögenswerte, die Art der Wettbewerber und eben auch die Branchengrenzen – schnell verschieben und neu organisieren.

Das Ausmaß dieser Veränderungen reicht von unbehaglich bis zu disruptiv, aber jede Neuerung birgt auch gute Gelegenheiten, „Seeds of Opportunity“. Wir möchten mit unserem Buch aufzeigen, dass sich den Unternehmen in der digitalen Ökonomie neue Chancen auftun, und dass es mit den Prozessen eines Digital Rebirth möglich und nötig ist, sie auf eine gänzlich andere Art und Weise für sich zu nutzen, als wenn man ein bereits vorhandenes Geschäftsmodell digitalisiert oder ein bestehendes Unternehmen mit digitalen Technologien zu transformiert.

Die Folgen der neuen kombinatorischen Technologien wie IoT oder AI und kognitiv-interaktive technologische Innovationen sprengen den Rahmen des Konzepts vom Unternehmen als Anbieter von Produkten und/oder Dienstleistungen bei Weitem. Sie definieren neu, was ein Unternehmen tut – es verändert seinen Zweck und seine Bedeutung für die Gesellschaft. In der Kfz-Branche geht es nicht mehr nur darum, Autos zu bauen. Da künstliche Intelligenz und gigantische Rechenleistung mit technisch ausgereiften Fahrzeugen und Konsumgütern kombiniert werden, denken die Unternehmen der Autobranche darüber nach, ob und wie sie „mobile Lösungen“ oder gar Versorgungslösungen entwickeln können angesichts selbstfahrender Autos, gemeinsamer Anforderungen an den Transport, kleinerer Akkus für Elektroautos, Neuführung der Verkehrsströme, Fahrsicherheit und sogar der Umgestaltung von Städten durch neue Nutzungsmöglichkeiten von Parkflächen und -plätzen. Das ist Disruption – und sonst gar nichts. Zudem wird alles immer schneller, wobei die Beteiligung der Verbraucher und ihr Anspruchsdenken die neuen technologischen Anwendungen ihrerseits vorantreiben. Digitale kombinatorische Effekte verstärken das Moore’sche Gesetz und bieten somit mehr Raum für Innovationen und die Konzeptionierung neuer Unternehmensformen, die mehr sind als Tech-Startups oder Tech-Hubs.

Führungskräften, die über Vorstellungsvermögen und Weitsicht verfügen, die mit dem schnellen Wandel mithalten können und die in der Lage sind, den Digital Rebirth ihres Unternehmens zu steuern, bieten sich Chancen wie nie zuvor. Ihnen steht quasi eine ganz neue Welt offen: Sie können eine Unternehmensplattform oder ein Ökosystem entwickeln, die Plattformen anderer Unternehmen nutzen, Innovationen in Ökosystemen orchestrieren, neue experimentelle Plattformen ins Leben rufen oder sich für eine beliebige Kombination aus diesen Möglichkeiten entscheiden. Wer sich in diesem Dickicht der Möglichkeiten zurechtfinden will, muss den Sinn und Zweck seines Unternehmens, seine Rolle(n) in künftigen Ökosystemen, seine Alleinstellungsmerkmale, Netzwerkfähigkeit und Positionierung schonungslos hinterfragen und alle Karten auf den Tisch legen, auch wenn das unter Umständen bedeutet, sein eigenes Geschäftsmodell aufzumischen oder gar zu opfern. Auf dem Spiel steht schließlich das Überleben – das Generieren, Ausschöpfen und Liefern neuer Werte im digitalen Zeitalter.

Dafür brauchen CEOs und andere Führungskräfte Mut und Beharrlichkeit, und sie müssen andere mit an Bord holen können. Die jüngste Geschichte von Unternehmen wie General Electric und Cisco Systems, die sich zu einer Digital-Rebirth-Reise entschlossen haben, veranschaulicht eindrucksvoll, mit welchen Problemen dabei zu rechnen ist. Ob sich die Mühe gelohnt hat, lässt sich bisher kaum sagen.

Weshalb Ciscos Rebirth zum Softwareunternehmen länger dauert als gedacht 118

Cisco Systems’ Entscheidung, sich als Unternehmen neu zu definieren, das in seiner vernetzten Branche weniger stark von Hardware abhängig ist, schien 2017 angesichts der Prognose, auch in dem im Juli dieses Jahres endenden Geschäftsjahrs rote Zahlen zu schreiben, mehr als fragwürdig. Und das, obwohl seine Router und Switches von einem wesentlichen Teil der Internet-Backbones genutzt werden.

Sein Rebirth beeinträchtigt sein Gesamtwachstum, und auch das Lieblingskind von CEO Chuck Robbins, Software- und Dienstleistungen, lief noch nicht, wie es sollte. Seit 2010 liegt Ciscos jährlicher Umsatzzuwachs schon unter 10 Prozent. Dass die Branche inzwischen vermehrt auf billigere softwarebasierte Netzwerke setzt, beeinträchtigt Ciscos Umsätze, die noch immer größtenteils mit hochpreisiger Hardware erwirtschaftet werden.

Die Umstellung auf Rechenleistungen in der Cloud – externe Rechenzentren bieten Dienste über das Internet an – hemmt Robbins’ Plan, den Umsatz zu steigern, da Amazon Web Services und andere Anbieter von Cloud-Diensten ihre eigene Hardware fertigen. Cisco tut sich schwer damit, sich als Softwareunternehmen neu zu definieren, denn seine Kunden haben dort in erster Linie Hardware gekauft. Robbins hofft, den Wandel beschleunigen zu können und den Umsatz mit flexiblen Switches und Routern mit einem Software-as-a-Service-Abomodell zu steigern. Er kündigte an, dass sein Unternehmen demnächst mehr innovative Produkte auf den Markt bringen will.

Und Cisco sieht auch in einem weiteren Bereich Licht am Ende des Tunnels: Das Unternehmen konnte 2017 über 50 Prozent mehr Umsatz – insgesamt an die 5 Milliarden US-Dollar – mit Software und Abomodellen erwirtschaften als im Vorjahreszeitraum. Robbins gibt sich zuversichtlich und zufrieden mit dem, was das Unternehmen bislang erreicht hat und künftig erreichen wird, auch wenn es jetzt noch stark damit beschäftigt ist, eine neue Basis für die Zukunft zu schaffen.

Dieses Beispiel führt uns zu folgenden Fragen:

Diese Fragen sollten im Kontext der Tatsache beantwortet werden, dass traditionelle Branchen vor dem Aus stehen und eine grundlegende Umgestaltung der Geschäftstätigkeit von Unternehmen unabdingbar ist:

Leadership Bardo im digitalen Zeitalter

Der Begriff „Bardo“ bezeichnet die Übergangsphase von einer bestimmten Ausgangslage in die nächste und wird häufig mit „Zwischenstation“ übersetzt, was auf den Übergang oder die Schwelle zwischen Tod und Wiedergeburt hinweist.119

Ein „Führungsbardo“ bezieht sich folglich auf die Handlungen und Herausforderungen, mit denen ein Unternehmen in der Übergangsphase von seinem alten Geschäftsmodell – samt wahrscheinlichen temporären Überbleibseln und/oder auslaufenden Elementen – hin zu seiner digitalen „Wiedergeburt“ konfrontiert ist. Gewissermaßen steht „Bardo“ aber auch für die Befreiung vom alten oder bisherigen Zustand, die durch Engagement, das richtige Gespür und entsprechende Reaktionen in der Übergangsphase eingeleitet wird.

In diesem Buch haben wir immer wieder betont, dass traditionelle Branchen mit ihren relativ festen Grenzen vom Aussterben bedroht sind und von neuen Formen der Geschäftstätigkeit abgelöst werden, die als Plattformen und Ökosysteme bezeichnet werden und sich an eindeutigen Unternehmenszwecken und Kohärenzregeln ausrichten. In diesem Kontext ist auch das allseits bekannte „Geschäftsmodellparadigma“, das noch heute in der Geschäftswelt eingesetzt wird, dem Untergang geweiht. Geschäftsmodelle mit ihren relativ unflexiblen Konfigurationen und ihrer Ausrichtung auf die Optimierung der Wertschöpfungsketten sind nicht in der Lage, sich auf konnektive digitale Plattformen, auf schnell ablaufende kreative Prozesse und Innovationen aller Stakeholder einzustellen, vor allem nicht, wenn diese als Externe nicht unmittelbar zum Unternehmen gehören. Und zu dieser Aussage stehen wir, auch wenn manche Wissenschaftler und Experten anführen, dass dem Konzept des Geschäftsmodells signifikante Dynamik innewohnt – was wir gar nicht abstreiten wollen.

Unbestreitbar ist jedoch, dass Geschäftsmodelle tief verwurzelt sind in der mechanistischen, an Produkten und der Wertschöpfungskette orientierten Denkweise, was sich in der digitalen Ökonomie aber als „Zwangsjacke“ herausstellt. Der echte Digital Rebirth eines Unternehmens beginnt mit dem Rebirth von Führung, als Folge der Erkenntnis, dass die alten Paradigmen der Geschäftstätigkeit aus der industriellen Wirtschaft schnell obsolet werden. Die größte Herausforderung der Führung etablierter Unternehmen ist es, den Übergang vom traditionellen Geschäftsmodell bis zum abgeschlossenen Digital Rebirth geschickt zu führen.

Diese Wandlung steckt voller Schwierigkeiten, wie GE jüngst erfahren musste: Zwar war der Erfolg der GE-Plattform Predix erstaunlich, doch musste das Unternehmen als Ganzes herbe Rückschläge einstecken. Zu ehrgeizige Projekte, mangelnder Fokus und nicht erfolgter Kulturwandel (weg von der Silodenkweise) verschlangen mehr Zeit als gedacht. Seit Oktober 2017, als John Flannery neuer CEO wurde, konzentriert man sich auf drei Sparten: Luftfahrt, Gesundheitswesen und Strom/Energie, wobei die Haushaltsgerätesparte an Haier verkauft wurde. Das Geschäft von GE über seine digitale Plattform gilt als vielversprechend, vor allem in den Sparten Gesundheitswesen und Luftfahrt. GE ist aber immer noch sehr methodisch und prozessorientiert, wo doch ein Digital Rebirth das Gegenteil erfordert: Schnelligkeit, Experimentierfreude, Erkenntnisse in Echtzeit, Co-Creation und Agilität auf seiner Plattform Predix. GE konzentrierte sich in den vergangenen Jahren mehr auf die Digitalisierung seiner Sparten als auf einen konzertierten Digital Rebirth. Schenkt das Unternehmen in dieser „Bardophase“ seinem neuen digitalen Unternehmenszweck und seiner digitalen Unternehmenskultur mehr Aufmerksamkeit, kann die Vision seines ehemaligen CEO Jeffrey Immelt noch immer Wirklichkeit werden. Er hat einmal gesagt, dass GE „ein 125 Jahre altes Startupunternehmen ist … ein digitales Unternehmen, das die Zukunft des Internet of Things mitbestimmt.“ 120

Es geht hier vor allem darum, dass der Digital Rebirth eine befreiende Übergangsphase (Bardo) ist, die nichts mit den Grenzen der traditionellen Industrie und der Zwangsjacke von Geschäftsmodellen am Hut hat. Die Notwendigkeit, im digitalen Zeitalter die „Systems of Record“ hinter sich zu lassen und sich stattdessen „Systems of Insight“ zuzuwenden, getrieben durch Echtzeitinformationen über Verbraucher und andere Stakeholder sowie der Co-Creativität, der Mitgestaltung, auf den digitalen Plattformen in Ökosystemen, zeigt eindrucksvoll, was ein Leadership Bardo ist. Die Herausforderungen für die Führungsriege ist nicht zu unterschätzen, aber mit den richtigen Methoden, dem in diesem Buch beschriebenen digitalen Kompass, Weitblick und Ausdauer ist es möglich. Fakt ist, dass etablierte Unternehmen keine andere Wahl haben. Sie müssen den Digital Rebirth verfolgen, wenn sie aus der Todeszone herauskommen und als neu definierte Unternehmen auferstehen wollen.

Über den umfassenden Kontext eines Digital Rebirth hinaus müssen CEOs regelmäßig konkret unter Beweis stellen, dass ihr Digital Rebirth Fortschritte macht und erfolgreich verläuft, wie es bei Cisco der Fall war, dessen CEO angab, dass das Unternehmen 2017 über 50 Prozent mehr Umsatz – insgesamt an die 5 Milliarden US-Dollar – mit Software und Abomodellen erwirtschaften konnte als im Vorjahreszeitraum.

Wir möchten noch einmal betonen, dass dieses Buch einen systematischen Weg aufzeigt, wie man sich dem digitalen Zeitalter nähert („Was passiert wirklich?“): Vom Erlernen der richtigen Denkweisen und dem Stellen der richtigen Fragen über Digitalisierung, über den Aufbau digitaler Unternehmensplattformen als Herzstück des Digital Rebirth, wie man deren Bandbreite und Tiefe mittels digitaler Ökosysteme und unter Zuhilfenahme cloudbasierter Dienste vergrößert und schließlich Digital-Rebirth-Kompetenzen im gesamten Unternehmen und seinen/m Ökosystem(en) aufbaut. All dies führt zu einer neuen „raison d’etre“ (Daseinsberechtigung) und einer neuen Unternehmensform (insbesondere bezüglich Kultur und Kompetenzen). Dabei führt die Anwendung der fünf Treiber eines erfolgreichen Digital Rebirth zu eindeutigen Ökosystem-Rollenoptionen für ein Unternehmen, mit ebenso eindeutigen Herausforderungen bei der digitalen Strategie und der Implementierung.

Keine Frage, wir leben in einer dynamischen und aufregenden Zeit. Wir sind davon überzeugt, dass ein Digital Rebirth Unternehmen neue Möglichkeiten eröffnet, Wert zu generieren, basierend auf dem Vertrauen in den Betrieb innovativer Plattformen in Ökosystemen für gemeinsame neue Innovationen. Dies bedeutet den endgültigen Bruch mit dem seit Jahrzehnten in konservativen Branchen und mechanistischen Geschäftsmodellen üblichen Prinzip „Command-and-Control“, hin zu kollaborativen Aktivitäten mit Verbrauchern, Communitys und anderen Ökosystemteilnehmern.

Die Unternehmenslenker, die diese neuen Realitäten als Chance ergreifen, mit Mut und Überzeugungskraft, werden ihre Unternehmen zu den Champions der Zukunft machen. Wir wünschen Ihnen, dass Sie dazugehören.

 Kapitel 1 

Digital Rebirth. Weil Digitale Transformation und Roadmaps nicht ausreichend sind

„Anfangs verglichen wir uns mit jungen Fintechs und mit der Startup-Welt. Das brachte uns zu der Erkenntnis, dass wir uns vollständig digitalisieren müssen – ein bisschen digitale Kosmetik ist zu wenig.“ 11
   – Piyush Gupta, CEO, DBS Bank, Singapore

Das digitale Zeitalter verändert, wie Wert geschaffen und verteilt wird

Dieses Buch zeigt, dass digitale Transformation nicht reicht. Die Voraussetzung, dass ein Unternehmen im digitalen Zeitalter überleben kann, ist Digital Rebirth – und zwar aus folgenden Gründen:

Wir möchten in diesem Buch klarstellen, dass die Digitalisierung nicht als technologisches Erweiterungsmodul bestehender Geschäftsmodelle verstanden werden darf. Vielmehr verändert das digitale Zeitalter das gesamte Wesen eines Unternehmens – ja, ganzer Branchen. Überdies hat sie tiefgreifende Auswirkungen auf die leitenden und auch alle sonstigen Beschäftigten eines Unternehmens. Wir beschreiben, wie Unternehmen einen echten Digital Rebirth, der über digitale Transformation hinausgeht, angehen und umsetzen können – und wir wollen sie dazu animieren. Wir zeigen auf, wie Führungskräfte in die falsche Richtung geraten können, weil sie zur Digitalisierung die falschen Fragen stellen. Wir verraten auch, was die richtigen Fragen sind. Eine falsche Frage ist zum Beispiel: „Wie schaffen wir in der digitalen Wirtschaft neuen Wert für unser Unternehmen?“ Die richtige Frage wäre: „Wie versetzen wir andere in die Lage, in der vernetzten digitalen Wirtschaft für sich und gemeinsam mit unserem Unternehmen Wert zu schaffen?“

Die zahllosen neuen Möglichkeiten durch die Vernetzung von Informationen gehen beispielsweise aus den Konzepten der Smart City oder der Smart Insurance (Bild 2) hervor.

Intelligente Konzepte: Smart City und Smart Insurance

Bild 2 Intelligente Konzepte: Smart City und Smart Insurance 12

Smart Insurance bedeutet

Die industrielle und die digitale Wirtschaft: von Grund auf unterschiedlich

Die digitale Wirtschaft ist eine Wirtschaft mit vernetzter Intelligenz, die versteht, dass mit den eigenen Beschäftigten vernetzte Outsider außerhalb des Unternehmens inzwischen kollektiv mehr Kreativität, mehr Ressourcen und mehr Innovation bieten können als eigene (intern) Beschäftigte und Ressourcen allein. Die Nutzung digitaler Netzwerkeffekte von Outsidern und Insidern beeinflusst Charakter, Zielsetzung, Prozesse und Innovationsfähigkeit von Unternehmen ebenso wie das Wachstum und den Nutzen für alle beteiligten Stakeholder. Kurz, traditionelle Unternehmen und Geschäftsmodelle lassen sich nicht einfach digital transformieren, sondern müssen einem Rebirth unterzogen werden, indem Zielsetzungen und Grundlagen neu definiert werden, die die Intelligenz von Verbrauchern, Zulieferern, Partnern, Vertriebsstellen, Research-Diensten und anderen Beteiligten in Echtzeit effektiv ausschöpfen. Der folgende Steckbrief zeigt, wie Under Armour das geschafft hat.

Under Armour:
Rebirth zur weltgrößten digitalen Fitness‑Plattform 13

Viele halten Under Armour (UA) für einen Sportartikelanbieter – mit spezifischen Produkten für alle möglichen Sportarten. In der heutigen digital vernetzten Welt trifft das aber nicht mehr zu. UA ist zur weltweiten Plattform für Fitness Communitys geworden – mit dem Ziel, das Leben aller Menschen so zu verändern, dass sie fitter und gesünder werden. Under Armour hat inzwischen über 200 Millionen registrierte Nutzer, und die Community wächst weiter. Das Unternehmen unterhält direkte Beziehungen zu diesen Nutzern, aber auch zu Hunderten von Zulieferern und Servicepartnern, die allesamt auf seiner Unternehmensplattform digital vernetzt und optimal eingesetzt werden. Nach Aussage von Kurt Kendall, Vice President bei UA, lag der Fokus bei der Unternehmensgründung ganz auf physischen Produkten wie Shirts, Schuhen und ähnlichen Artikeln. Heute geht es mehr um die digitale Plattform, die das Unternehmen „orchestriert“ und über die auch verwandte Produkte gebrandet werden – innovative Ideen von Kunden eingeschlossen.

Zunächst wurde eine vernetzte Fitness-Plattform eingerichtet, um im Anschluss Fitness- und Bekleidungsprodukte in das zu integrieren, was heute als „Digital Experience“ bezeichnet wird, und worin die Fitness-Produkte und Dienstleistungen einfließen. Für Under Armour sind der Schuh, das Shirt, die Mütze, das Handtuch und das Vitaminpräparat ein Produkt seiner digitalen Plattform, die eingesetzt wird, um das übergreifende Fitness-Erlebnis der Nutzer zu optimieren. Das physische Produkt ist außerhalb des Unternehmens nicht vom digitalen Produkt zu trennen. Ziel und Fokus des Unternehmens ist eine digital integrierte Nutzererfahrung, die sich durch eine Vielzahl digitalisierter Netzwerk-Interaktionen ständig weiterentwickelt und Innovationen schafft. Über all seine digitalen Plattformen ermöglicht UA weltweit bereits mehr als 10 Milliarden Interaktionen pro Jahr, die alle auf die Optimierung des Nutzererlebnisses ausgerichtet sind.

Wie unterscheidet sich dieser Ansatz von den laufenden Initiativen vieler Unternehmen zur digitalen Transformation?

Die meisten Unternehmen sind noch in den Denkstrukturen ihres bisherigen Geschäftsmodells gefangen – mit Zielmärkten, Produkten und bestehenden Wertschöpfungsketten, auf die die Digitalisierung als Effizienzmechanismus aufgesetzt wird. Das entspricht noch immer einer „One-Way-Pipeline“-Produktorientierung, bei der am einen Ende das Unternehmen steht und am anderen der Kunde. UA hat mit seinem Digital Rebirth ganz klar den Sprung geschafft – weg von einem mechanistischen eingleisigen Businessmodell zu einem holistischen, plattformbasierten Netzwerk der Wertgenerierung, Wertschöpfung und Wertentwicklung für den Kunden, indem es die Innovationskraft vieler Beteiligter dirigiert. Hätte sich UA für die Digitalisierung des Geschäftsmodells entschieden, wäre es in der traditionellen Fitnessindustrie und ihren Prozessen hängen geblieben. Stattdessen hat sich das Unternehmen ein dynamisches neuartiges Geschäft erschlossen – auf der Grundlage einer breiteren Zielsetzung und einer Plattform, die sich wegbewegt von der Fitnessindustrie, hin zur Optimierung des Wohlbefindens und des Gesundheitsökosystems ganzer Communitys.

Die übergeordnete Logik ist in diesem Zusammenhang, dass die Welt und ihre Unternehmen vom Zeitalter des industriellen Werts ins Zeitalter des digitalen Werts übergehen, was neben neuen Kapazitäten und Prozessen im Unternehmen auch ein neues Verständnis von Führung erfordert. In seinem letzten Buch, „Weltordnung“, behauptet Henry Kissinger, die Welt sei immer dann in größter Gefahr, wenn sich die internationale Ordnung von einem System auf ein anderes umstellt. Er schreibt: „Wird aber das Gleichgewicht zerstört, entfallen diese Zwänge, worauf sich das Feld für maximale Forderungen und die radikalsten Akteure öffnet. Dann herrscht so lange Chaos, bis wieder ein neues Ordnungssystem errichtet wird.“ Eine ernüchternde Warnung, die allerdings im politischen Kontext geäußert wurde. Doch auch die Umstellung vom industriellen auf ein digitales Zeitalter bedeutet, dass mit herkömmlichen, mechanistischen, linearen Managementpraktiken gebrochen werden muss, um dynamische, nichtlineare, kombinierte, konnektive Outside-Inside-Prozesse einzuführen. Einstellungen lassen sich aber nicht von heute auf morgen verändern. Durchaus verständlich also, dass viele Führungskräfte ängstlich, zögernd oder sogar desorientiert an die Digitalisierung herangehen.

Digitale Technologie allein bewirkt noch keinen Digital Rebirth

Wir hören immer wieder, wie begeistert Unternehmen aus aller Welt von ihren Initiativen zur digitalen Transformation sind. Manche entwickeln eigene Anwendungen, digitalisieren ihre Businessmodelle, analysieren oder integrieren ihre Customer Journey oder realisieren eine neue digitale Strategie für den Geschäftsverkehr. Andere entscheiden sich für den Einsatz neuer Big-Data- und Analyse-Tools. Oft werden immense Summen investiert, und stets ruhen große Hoffnungen auf dem Erfolg, etwa durch digitale Hubs, sogenannte Accelerator-Programme und Startups. Doch die angestrebten Ziele bleiben häufig unerreicht, weil der Fokus in aller Regel darauf liegt, wie die Technologie das bisherige Geschäftsmodell umgestalten kann – und nicht darauf, wie man sich die digitalen Innovationseffekte der Technologie voll und ganz zu eigen machen könnte.

Allzu oft errichten traditionelle Unternehmen eine Art digitale Fassade, die dem Kunden den Eindruck einer digitalen Erfahrung vermittelt. In Wirklichkeit wird das alte Businessmodell aber nur abgewandelt. Echter Digital Rebirth verlangt, sich komplett von seinen überkommenen Einstellungen, Zielen und Organisationsprozessen zu lösen und sich voll und ganz auf gemeinsam erzielte Ergebnisse auszurichten, statt lediglich auf effizientere oder agilere Infrastruktur und Technologien.

So kann eine Bank über ihre interaktive Handy-App (als digitale konnektive Anwendung) Informationen vom Kunden schneller erhalten als früher. Wenn es aber aufgrund unveränderter administrativer Prozesse weiterhin Wochen dauert, einen Kreditantrag anzunehmen oder abzulehnen, so bringt das keinen echten Vorteil. Auf der Suche nach einer digitalen Welt, in der alles automatisch und sofort funktioniert, wird sich der Kunde unweigerlich für einen Mitbewerber entscheiden, der auf seine persönlichen Bedürfnisse eingeht, einen individuell auf ihn zugeschnittenen Kredit in Echtzeit übermittelt und so eine längerfristige Kundenbeziehung begründet und positive Erfahrungen vermittelt.

In den vergangenen zehn Jahren haben das exponentielle Wachstum und die Möglichkeiten digitaler Technik faszinierende Chancen eröffnet. Maschinen unterhalten sich mit Hilfe von Computeralgorithmen. Am anderen Ende stehen digital vernetzte Menschen, die die Big-Data-Explosion verfolgen, analysieren und darauf reagieren. Ärzte nutzen Algorithmen, die anhand der Krankengeschichte und genetischer Informationen in Echtzeit Symptome erkennen und Diagnosen stellen – Therapieempfehlungen und Präventionsmaßnahmen inklusive. Autos werden mit datengesteuerter Präzision so programmiert, dass sie dem Fahrer die optimale Strecke und Ausweichrouten zu seinem Fahrziel vorgeben. Selbst digitale Ersatzteilbibliotheken für 3D-Drucker wachsen rasch. Möglicherweise sind die Geräte schon bald so weit, dass sie alles ausdrucken können, was wir brauchen. Dann mutieren sie vielleicht zu 4D-Druckern, die sich selbst replizieren.

Angesichts der rasanten Entwicklung des Spektrums und der Leistung neuer digitaler Technologien und der Konnektivität ist der Trugschluss verbreitet, dass auch die Produktivität entsprechend steigt. Einem von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 2017 veröffentlichten Bericht zufolge ist das aber nicht der Fall.14 Die meisten Industrie- und Schwellenländer verzeichnen sogar rückläufige Raten, und zwar in fast allen Sektoren und bei großen und kleinen Unternehmen gleichermaßen. Noch aufschlussreicher ist allerdings die Feststellung der OECD, dass dieser Trend auch solche Bereiche betrifft, in denen die digitale Innovation erwartungsgemäß den Informationsaustausch, die Kommunikation und die Finanzierung verbessern sollte.

Zwar haben fast 5 Milliarden Menschen auf unserem Planeten jederzeit Zugriff auf einen Computer (also ein internetfähiges mobiles Endgerät wie ein Smartphone), doch offenbar hat sich unsere Digitalisierung nicht in Produktivitätssteigerungen bei den Unternehmen übersetzt. Die Ursache: Die Unternehmen verändern ihre Einstellungen, Herangehensweisen und Prozesse nicht so, dass das Potential der Technologie voll ausgeschöpft werden kann. Sie halten die digitale Transformation ihrer Businessmodelle für ausreichend, bräuchten aber einen Digital Rebirth. Sich breiter und schneller zu vernetzen, ist eine Sache. Das in der Gesellschaft gezielter und effektiver zu nutzen, eine ganz andere.

Die folgende Box verdeutlicht den Unterschied zwischen linear konzipierter digitaler Transformation und auf exponentiellem Denken beruhendem Digital Rebirth.

Digital Rebirth: Revolution statt Transformation 15

Ist die Annahme realistisch, dass eine weitere wirtschaftliche Umwälzung schwerwiegendere Konsequenzen haben könnte als seinerzeit die landwirtschaftliche und die industrielle Revolution? Von deren nachhaltiger Wirkung ist nicht jeder überzeugt: Douglas Engelbard, der Erfinder der Computermaus, hat sogar prophezeit, die digitale Revolution werde letztlich weit bedeutsamer sein als die Schrift, der Buchdruck oder die Automatisierung von Landwirtschaft und Fertigung.

Jonathan Becher, Chief Digital Officer bei SAP, betont, dass es sich bei der digitalen Revolution tatsächlich um eine Revolution handelt, nicht um eine Transformation. Die Agrarrevolution veränderte das Leben der Menschen, die industrielle Revolution ihre Arbeitswelt. Die digitale Entwicklung dagegen verändert gleichzeitig, wie die Menschen leben und arbeiten. Beispiele dafür sind selbstfahrende Autos, Drohnen, 3D-Druck, künstliche Intelligenz, die viele Arbeitsplätze überflüssig macht, und virtuelle Realität, wie sie zum Beispiel im Baugewerbe, in der Modeindustrie und im Wohnumfeld Anwendung findet.

Früher gab es nur wenig Disruption, sodass erfolgreiche Businessmodellstrukturen, Unternehmensstrategien, wiederholbare Prozesse, Top-down-Planung und hierarchisch gesteuerte Tätigkeiten in aller Regel Skaleneffekte hervorriefen. Die digitale Revolution unterscheidet sich aber grundlegend von vorausgegangenen Umwälzungen. Sie wirkt vor allem exponentiell und kann Kreativität ganz anders nutzen. Ein Beispiel dafür sind die Entwicklungen in der BIotechnologie: Mendels Buch über Genetik erschien 1866. Heute, keine 200 Jahre später, wird das Genom-Editing-Tool CRISPR für Menschen, die an genetisch bedingten Erkrankungen leiden, schon bald von immensem Nutzen sein.

Aus jeder Revolution gehen reaktionäre und proaktive Unternehmen hervor. Engelbard zufolge ist es fast unmöglich, mit dem exponentiellen Wachstum im neuen digitalen Zeitalter Schritt zu halten, während man die Revolutionäre in einer linearen Welt durchaus einholen konnte. Evangelos Simoudis, Gründer von Synapse Partners, vertritt die Überzeugung, dass große Unternehmen lernen sollten, sich wie Startups zu verhalten, indem sie einen Teil ihrer „erbrüteten“ Ideen Beschäftigten überlassen, die nicht ihren Forschungs- und Entwicklungsstrukturen angehören. Dass soll keinesfalls heißen, Startups wären stabiler als größere Unternehmen, sondern lediglich, dass Turbulenzen in der digitalen Entwicklung von Unternehmen unvermeidlich sind – und dass man ihnen mit Digital-Rebirth-Denkweisen und -prozessen begegnen sollte.

Selbst Digital Natives wie digitale Startups müssen bevorstehende Veränderungen vorwegnehmen und ausloten, denn einmalige Innovation ist keine endgültige oder Dauerlösung. Engelbard gibt zu bedenken: „Revolutionen und die damit einhergehenden Veränderungen können Angst machen. Untätig zu bleiben, ist dennoch definitiv die schlechteste Entscheidung, die man treffen kann.“

Von der besseren Mausefalle zur besseren Mäusefangplattform

Für viele Topmanager treten deren Unternehmen im Wettbewerb mit physischen Produkten und Dienstleistungen an – mit der sprichwörtlichen „besseren Mausefalle“ – und mit den dafür nötigen eigenen (oder steuerbaren) Ressourcen, die ihnen genau das immer wieder ermöglichen. Doch im Zeitalter der Netzwerk-Konnektivität findet Wettbewerb zunehmend über Plattformen statt, nicht über konkrete Produkte: Wer die bessere Plattform aufbaut, verschafft sich klare Konkurrenzvorteile. Stellen Sie sich beispielsweise eine intelligente Mausefalle vor, mit Sensoren, die drahtlos mit einem cloudbasierten Mäusefangdienst kommunizieren. Hausbesitzer und Kammerjäger könnten den Fallenstatus mit ihren Smartphones über eine Plattform-App überwachen und würden per SMS informiert, wenn Köder nachgelegt oder Fallen überprüft werden müssen. Dieser Vergleich gilt für alle Unternehmen in allen Branchen, nicht nur für die bekannten Unternehmen der Sharing Economy wie Uber, Lyft, Airbnb, Google und Amazon. Die Umstellung von Produkten auf Plattformen fokussiert sich auf die Mitgestaltung von Produkten und Dienstleistungen, die es jedem Besitzer einer intelligenten Falle ermöglichen, sich in Echtzeit mit einer intelligenten Plattform zu vernetzen und mit ihr zu kommunizieren. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Verbraucher, der über Echtzeit-Mitwirkung auf der digitalen Plattform nun ebenfalls zum Mitgestalter von Produkten und Dienstleistungen wird.

Heute steht jedes Unternehmen früher oder später vor der grundlegenden Frage: Wie kann ich andere (externe Stakeholder, inklusive Verbrauchern) und uns (die Mitarbeiter und Lieferanten) gemeinsam in die Lage versetzen, für uns und unsere Aktionäre Wert zu schaffen – und auch für die Stakeholder selbst und deren Aktionäre? Wenn Sie eine bessere Mausefalle bauen, rennt Ihnen der Rest der Welt nicht automatisch die Türe ein. Mit der richtigen Plattform haben Sie aber auf jeden Fall die besseren Karten. Es ist also schwierig, die Unternehmer in ihrer Denkweise von ausschließlich physischen Produkten (zum Beispiel Autos) und Dienstleistungen (zum Beispiel Hausärzte) abzubringen, doch unbedingt notwendig, sich eine neue Mentalität anzueignen, um nicht in die Falle der Flickschusterei zu tappen – in Gestalt einer unzulänglichen digitalen Transformation. Sowohl die Autoindustrie als auch die Hausärzte laufen Gefahr auszusterben, wenn Software die Welt erobert und physische Produkte und Dienstleistungen an Bedeutung verlieren gegenüber der nichtphysischen digital-konnektiven Intelligenz, die über die gemeinsame Nutzung dieser physischen Objekte und Leistungen im Netzwerk bestimmt. Der Digital Rebirth ist daher für alle bestehenden Unternehmen – für die „etablierten, traditionellen Altunternehmen“ und ebenso für ihre traditionellen Branchen – keine Option, sondern eine Notwendigkeit.

Den Digital Rebirth anzunehmen, ist nicht so einfach, wie folgender Steckbrief der Autoindustrie deutlich macht.

Warum sich Autobauer nach wie vor auf die Autoindustrie fokussieren 16

Autos voller Elektronik, die ihren Fahrern Verkehrsinformationen geben, erfüllen den durchschnittlichen Fahrer bereits mit Ehrfurcht. Wie es scheint, haben dabei Hersteller von Premiumfahrzeugen in jeder Hinsicht die Nase vorn.

Andrew Shipilov, Strategieprofessor bei INSEAD, ist da anderer Ansicht. Seines Erachtens gehen Hersteller physischer Produkte den Digital Rebirth ihrer Businessmodelle nicht gründlich und auch nicht kreativ genug an. Sie haben noch nicht begriffen, dass „der physische Vermögenswert selbst erst der Anfang ist. Der eigentliche Wert liegt in dem breiteren Wertpotential konnektiver Intelligenz für die Kunden.“

Als Beispiel führt er BMW an. Jeder BMW wird mit einer Plattform (Connected Drive) geliefert, die dem Käufer ermöglicht, Apps zu erwerben, über die er Verkehrsinformationen beziehen, Nachrichten senden und empfangen und den Motor fernstarten kann. Allerdings muss der BMW-Besitzer mehrere Hundert Euro zahlen, damit er die Apps auf diese Plattform laden kann.

Ebenso ermöglicht die Fahrzeugelektronik dem Fahrer, zwischen verschiedenen Fahrmodi zu wählen. Zwar sind alle BMW-Modelle der 3er-Reihe mit dem gleichen Vierzylindermotor ausgestattet, doch die Elektronik des billigeren Modells lässt nur eine geringere PS-Zahl zu. Shipilov fragt sich, warum Autobauer ihren Käufern nicht gestatten, Motorleistung zu mieten, oder ihnen Upgrade-Optionen anbieten. Dann könnten sie sich je nach Bedarf unterschiedliche Fahrerlebnisse verschaffen. Der Hauptgrund dafür ist nach Shipilovs Erfahrung, dass solche Unternehmen wollen, dass die Konsumenten ihr altes Fahrzeug verkaufen und sich ein neues, besseres anschaffen. Shipilov räumt ein, dass dies dem traditionellen Geschäftsmodell zufolge zwar nachvollziehbar sei, der Anbieter dadurch jedoch zurzeit nicht nur keine Neukunden gewinne, sondern auch auf neue Einnahmequellen verzichte.

Er führt Tesla als Beispiel für ein Unternehmen an, das ein Modus-Upgrade anbietet, durch das sich die Beschleunigungszeit eines Fahrzeugs um 10 Prozent verringern lässt, ohne dass man sich ein neues Modell anschaffen muss. Dieses Upgrade kann man aber nicht mieten, obwohl das technisch möglich wäre, sondern man muss dafür rund 10.000 US-Dollar zahlen!

Als Gegenbild verweist Shipilov auf das Businessmodell von Apple, das Geld mit Begleitprodukten verdient und seine Apps recht günstig oder gar kostenlos anbietet. Seiner Ansicht nach lässt sich daraus lernen, dass man Kunden stets kostenfreien Zutritt in einen digitalen Shop gewähren, dann aber geringe Beträge für die Produkte berechnen sollte, die sie dort kaufen.

Die Hersteller physischer Produkte (wie Fahrzeuge, Kühlschränke oder Küchenherde) haben ganz offensichtlich verstanden, dass digitale Konvergenz die Zukunft ist. Dessen ungeachtet fehlt ihnen für einen durchdachten Digital Rebirth häufig die dafür erforderliche ganzheitliche Perspektive oder zumindest der richtige kreative Blick auf die digital transformierten Geschäftsmodelle. Der physische Vermögenswert an sich ist erst der Anfang. Der eigentliche Wert liegt in dem breiteren Wertpotential konnektiver Intelligenz für die Kunden, mit neuen Wertgenerierungsprozessen, neuen Wertschöpfungsmechanismen und neuen Methoden, dem Kunden Wert zur Verfügung zu stellen.

Aus diesen Beispielen wird eine ganze Reihe unternehmensinterner Barrieren für den Digital Rebirth deutlich. Dazu gehören:

Der entscheidende Punkt: Diese Barrieren sind durch Bestrebungen zur digitalen Transformation von Geschäftsmodellen nicht zu überwinden, da diese inkrementell, linear, partiell und mechanistisch bleiben, und dabei oft auch langsam. Nötig ist dagegen eine entschlossene Abkehr von überkommenen Businessmodellen und deren Praktiken – ein Rebirth. Dieser ist auch ohne größere Beeinträchtigung der aktuellen Umsatzströme möglich.

Fazit

Unternehmen kämpfen mit dem Digital Rebirth – zum einen, weil traditionelle Paradigmen und Einstellungen des industriellen Zeitalters Barrieren darstellen, zum anderen schlicht deshalb, weil Berater und Wissenschaftler, die in dieser überkommenen Mentalität verwurzelt sind, kurzsichtige Ratschläge erteilen. Dieses Phänomen wird häufig als „Pfadabhängigkeit“ bezeichnet, also als Bindung an Verfahren, die bisher gut funktioniert haben oder noch gut funktionieren, deren Effektivität aber rasch abnimmt.

In diesem Kapitel wurde dargelegt, dass Unternehmen und ganze Branchen im Zuge des aufgehenden digitalen Zeitalters vor drastischen Veränderungen stehen – nicht nur infolge des technischen Fortschritts, sondern vor allem aufgrund seiner Umwälzungseffekte auf Geschäftspraktiken und Führung. Unternehmen brauchen den Digital Rebirth. Digitale Transformation reicht nicht aus.

Die folgenden Kapitel zeigen, vor welchen Hindernissen und Herausforderungen etablierte Unternehmen stehen und wie sie diese in der Praxis überwinden und auf den Digital Rebirth setzen können, bevor es zu spät ist. Die Fenster der Möglichkeiten für den Rebirth von Unternehmen werden sich in den nächsten Jahren rasch schließen. Viele Digital-Native-Startups drängen bereits auf den Markt und sichern sich einflussreiche Positionen. Sich mit Startups zusammenzutun oder eigene Startup-Hubs oder technologische Accelerator-Programme einzurichten, ist nicht genug – das liefe auf die Aufrechterhaltung bestehender Businessmodelle mit allen ihren Defiziten hinaus, nicht auf den eigentlich notwendigen Digital Rebirth von Unternehmen.

Workshop 1 (Fallbeispiel)