Candidate Profiling

Wie Sie Bewerber identifizieren und erreichen.
Berichte aus dem wirklichen Leben.

Von Bernhard Schelenz und Oliver Gerrits

ISBN 978-3-89578-735-5 (EPUB)

Vollständige EPUB-Ausgabe von Bernhard Schelenz und Oliver Gerrits „Candidate Profiling“

ISBN 978-3-89578-475-0 (Printausgabe)

Publicis Pixelpark

Publicis Publishing, Erlangen, Germany

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Cover

6 Los geht’s

Um den künftigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf die Spur zu kommen, ist detektivischer Spürsinn gefragt. Profiling hilft – im Sinne eines „Erkennungsdienstes“ –, Kandidaten sichtbarer zu machen. Wer weiß, wo sich die Zielgruppe aufhält, auf welche Muster sie reagiert und wie deren Lebenswelt aussieht, kann seine Arbeit­geberkommunikation und das Recruiting zielgerichtet und passgenau ausrichten. Candidate Profiling sollte daher im Personalmarketing prozessual mitgedacht werden.

Die im vorangegangenen Kapitel gezeigten Beispiele haben die Vorgehensweise des Candidate Profiling deutlich gemacht. Zusammengefasst lauten die wichtigsten Schritte:

Für spätere Suchen ist es wichtig, wenn das Vorgehen beim Profiling und die Art des Erfolgs festgehalten wird. Auch wenn jede Suche ein neues Profiling-Projekt darstellt, lassen sich damit doch Redundanzen vermeiden. Und mit der Zeit sammeln sich Best Practices an, auf die das Recruiting bei Folgesuchen zurückgreifen kann. Denn Candidate Profiling ist ein dauerhaft angelegtes Projekt, das einen langen Atem erfordert. Durchhalter sind hier gefragt. Aber wer durchhalten will, muss erst einmal anfangen.

Candidate Profiling kostet den Profiler Freizeit. Denn es ist klar geworden: Die Kandidatensuche darf nicht am Rande des Schreibtischs enden und sich erst recht nicht auf die Zeit zwischen 9.00 Uhr und 17.00 Uhr – zu den üblichen Wochentagen – beschränken. Profiler sind selbstverständlich auch am Abend und an den Wochenenden im Einsatz.

Menschen gehen Wege. Und Arbeitgeber tun gut daran, diese Wege mitzugehen. Gehen Sie dorthin, wo sich das wirkliche Leben abspielt. Verlassen Sie die Perspektive des eigenen Schreibtischs. Schaffen Sie im Unternehmen Kapazitäten für Researcher, die als Profiler wirken und mit ihrer Arbeit wichtige Voraussetzungen schaffen, damit das operative Recruiting erfolgreich ist.

Schließlich kommt es auf die kenntnisreiche Interpretation der gewonnenen Profiling-Ergebnisse an und den kreativen Umgang damit, dann erst gelingen Arbeitgeberkommunikation und Bewerberansprache.

Candidate Profiling wird das Recruiting einen großen Schritt nach vorne bringen, davon sind die Autoren dieser Publikation überzeugt. Wer raus will aus dem „Club der Gleichen“, dem bleibt gar nichts anderes übrig, als sich auf dieses Konzept einzulassen.

Bernhard Schelenz

Bernhard Schelenz ist geschäftsführender Gesellschafter der gleichnamigen Kommunikationsberatung für Arbeit­geber in Großkarlbach an der Weinstraße, Fachbuchautor und Herausgeber. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Personal- und Arbeitgeberkommunikation, Projekte im Umfeld von Employer Reputation und HR Brand. Als ausgewiesener Experte im Personal­geschäft hat er es sich zur Aufgabe gemacht, Trends aufzuspüren und HR Managern kreative Ansätze für deren Arbeit zu vermitteln.

Oliver Gerrits

Oliver Gerrits ist seit 2004 Leiter Marketing und Kommunikation der MEWA Textil-Service AG & Co. Management OHG in Wiesbaden. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist der Auf- und Ausbau der Kommunikation rund um die interne und externe Arbeitgebermarke des Unternehmens. Dafür wurde MEWA 2013 mit dem HR Excellence Award ausgezeichnet, 2017 erwarb MEWA das Siegel „Deutschlands beste Jobs mit Zukunft“. Die Methode „Profiling“ bedeutet für ihn zugleich Kreativleistung und Differenzierungsstrategie.




Hinweise

Zahlen und Fakten, auf die wir im Buch verwiesen haben, sind im Internet oder in Fachpublikationen recherchiert und gelten zum großen Teil als eine Art „fachspezifisches Allgemeinwissen“. Da sie in etlichen Quellen auftauchen und immer wieder zitiert werden, haben wir bewusst auf detailliertere Quellenangaben verzichtet.

In diesem Buch wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit vorwiegend die männliche grammatikalische Form benutzt.

5 Beispiele für Suchstrategien

Nun zu den im Untertitel dieses Buches versprochenen „Berichten aus dem wirklichen Leben“. Um Recruitern und Recruiterinnen das Konzept Candidate Profiling in seiner praktischen Ausgestaltung vorzustellen und damit anschaulich und greifbar zu machen, haben wir zwölf Berufsgruppen ausgewählt, in denen zum Teil ein extremer Fachkräftemangel herrscht. Dabei wollen wir gemeinsam in die Lebenswelten von Zielgruppen eintauchen. Umfassend kann das im Rahmen dieser Publikation sicher nicht geschehen – und soll auch nicht, denn jede Personalsuche, jedes Profiling hat ihre eigenen Besonderheiten – Unternehmen X braucht andere IT-Experten als Unternehmen Y und bietet ein völlig anderes Arbeitsumfeld. Deshalb wollen wir ausschnittsweise für unterschiedlichste Berufe ein Gefühl vermitteln, wie die Methode Candidate Profiling zu verstehen ist. Es liegt an Ihnen, diese Beispiele kreativ als Ausgangspunkt oder als Inspiration für Ihr eigenes Candidate Profiling zu nutzen, sie zu imitieren, verfeinern, verändern oder Elemente daraus auf Ihre spezielle Zielgruppen zu übertragen.

Jeder der im Folgenden gesuchten Berufsgruppe geht ein fiktives Stellenangebot voraus, aus dem die gesuchte Zielgruppe hervorgeht.

Fachkräfte in der Gastronomie

Sie lieben Service?
Dann werden unsere Gäste Sie lieben!

Für unser Brauhaus mitten im Herzen Münchens suchen wir ab sofort eine Servicekraft (m/w) auf Vollzeitjobbasis.

Da unsere Gäste gehobenes Niveau gewohnt sind, erwarten wir gute Kenntnisse durch eine fundierte gastronomische Ausbildung und idealerweise einige Jahre Berufserfahrung. Lernbereitschaft, Motivation sowie Zuverlässigkeit und Stressresistenz setzen wir voraus. Der Arbeitseinsatz erfolgt in Absprache. Wir bieten ein angenehmes Arbeitsklima mit viel Teamgeist, eine attraktive Bezahlung, vergünstigte Personalverpflegung und nicht zuletzt einen sicheren Arbeitsplatz.

Die Herausforderung

Die Filmwelt kann wunderbar heil sein. Wie zu Mutters Zeiten „Im Weißen Rössl“ am Wolfgangsee. Der stets gut gelaunte Chefkellner Peter Alexander alias Leopold versteht es immer wieder, die ungeduldigen Gäste mit seinem Gesang glücklich zu machen. Ganz anders Charlie Chaplin in „Modern Times“, wo der Protagonist nicht nur zwischen Zahnräder, sondern als Kellner auch von der vielbeinigen Kundschaft in die Enge getrieben wird.

Während Alexander in den 50er Jahren mit der Gute-Laune-Gießkanne über deutsche Kinoleinwände zog und die bösen Geister der Kriegszeit vertreiben sollte, nahm Chaplin 20 Jahre zuvor den durch die Industrialisierung hervorgerufenen Verlust der Individualität aufs Korn. Monotone Arbeitsabläufe wirken sich auch auf das Freizeitverhalten der Menschen aus. Der Kellner wird von gleichgültigen Gästen fast erdrückt. Sein Chef denkt nur an den Umsatz; von Hilfe oder Verständnis kann keine Rede sein.

Solch „schlechte Behandlung der Mitarbeiter kann sich kein Hotel mehr leisten“, betont Eduard Singer, Vizepräsident beim Deutschen Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga). Was für Singer die Forderung nach „bedarfsorientierten Arbeitszeiten“ ist, was bei starker Nachfrage auch schon mal zehn Stunden Arbeit am Stück bedeutet, grenzt für Peter-Martin Cox, Geschäftsführer der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), an Ausbeutung. „Statt den Arbeitsdruck weiter zu erhöhen, ist es Zeit, mehr Menschen einzustellen und die Leistung der Beschäftigten stärker anzuerkennen“, sagte er im August 2017 der Neuen Nassauischen Presse.

Tatsächlich hat sich der Fachkräftemangel bei Köchen, Restaurantfachleuten und Servicekräften derart zugespitzt, dass die Zumutbarkeitsgrenze sowohl für Gastronomen wie für deren Mitarbeiter zuweilen überschritten wird. Den Deutschen geht es wirtschaftlich gut, bei stabilen Löhnen muss der Bürger nicht auf jeden Cent achten. Gut leben ist für viele gleichbedeutend mit gutem Essen und Trinken. In den Gaststätten aber fehlt häufig das Fachpersonal, damit Wirte, Restaurantbesitzer und Hotelier die verheißungsvolle Situation in bare Münze verwandeln können. Eine Umfrage des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahre 2017 ergab, dass sich 20 Prozent aller Gastronomen stark oder sehr stark vom Fachkräftemangel betroffen fühlen.

Dies gilt nicht für die statusträchtigen und vergleichsweise gut bezahlten Jobs im Management eines Hotels oder gar einer internationalen Hotelkette. Diese Tätigkeiten setzen in der Regel eine (fach-)akademische Vorbildung voraus. Längst hat hier der Bachelor Revenue Management oder F&B (Food & Beverage) der klassischen Hotelfachschule den Rang abgelaufen, und auch die Masterprogramme an renommierten Schulen sind stark nachgefragt und entsprechend teuer.

Dieses Berufsfeld kennt traditionell keine Ländergrenzen, weshalb man hier das weltweite Arbeitsangebot mit der weltweiten Arbeitsnachfrage vergleichen und feststellen muss: Es ist ziemlich ausgeglichen. Insbesondere aus den Schwellenländern drängen viele junge Fachkräfte auf den ganz besonderen Arbeitsmarkt, bei dem weltweites Jobhopping nicht als Karrierebremse, sondern im Gegenteil als Karriereturbo gilt. Oberstes Ziel aufstrebender Hoteljungmanager und -managerinnen ist es, bei möglichst vielen „Ersten Adressen“ in möglichst vielen Metropolen oder First-Class-Urlaubsdestinationen in Lohn und Brot gestanden zu haben. Dies gilt im Übrigen auch für ambitionierte Köche, die eines Tages einer Küchenbrigade vorstehen oder ein eigenes Restaurant eröffnen wolle. Nach Abschluss der Ausbildung heißt es: In möglichst viele fremde Töpfe schauen. Entsprechend großes Verständnis haben die Arbeitgeber selbst für sehr kurzzeitige Engagements ihrer ebenso dienst- wie aufstiegsorientierten Mitarbeiter. Niemand legt es einem jungen F&B-Manager oder einem passionierten Saucier zu seinem Nachteil aus, wenn er in drei Jahren sechs Mal die Stelle gewechselt hat.

Doch das ist die Crème des Berufsstandes. Wir reden hier über Tätigkeiten, die mit Stress und wechselnden Arbeitszeiten verbunden, körperlich fordernd und überdies leider nicht sonderlich gut bezahlt sind. Mit der (psycho-)logischen Konsequenz, dass die Knochenarbeit in Restaurants, Cafés und Gaststätten wenig Anziehungskraft auf junge Menschen ausübt. Die Statistiker des Bundesamts in Wiesbaden schreiben, der Mangel spiegele sich „in dem vergleichsweise hohen Anteil unbesetzter Ausbildungsplätze in der Gastronomie wider“. Der Dehoga ergänzt: „Der mit dem Mindestlohn verbundene bürokratische Aufwand und die Gewinnung von fachlich geeignetem Personal stellen für die gastronomischen Betriebe zurzeit die größte Herausforderung dar.“

In die Lebenswelt der Zielgruppe eintauchen

Wo aber trifft man die seltene Spezies der wechselwilligen Servicekräfte, Rezeptionisten, Hausdamen und Köche? Die Antwort liegt auf der Hand: an ihrer Arbeitsstelle. Im öffentlichen Raum, dort, wo Menschen Geselligkeit finden, ist es nicht verboten, ja sogar gang und gäbe, mit dem Personal zu reden. Allerdings verbietet der Anstand, mit der Tür ins Haus zu fallen. Denn welcher Hotel-, Bar- oder Restaurantbesitzer sieht es schon gerne, wenn seine Mitarbeiter skrupellos abgeworben werden? Und dann noch während der Arbeitszeit – sichere Reaktion: „Frechheit!“ Profiler, die zurückhaltend und dezent auftreten, zeigen nicht nur gutes Benehmen, sie machen die Kandidatin oder den Kandidaten mit eher knapp bemessenen Informationen und einer hingeschobenen Visitenkarte auch neugierig. Die Chance auf eine Rückmeldung sollte groß sein.

Glückliche Verbindungen werden heute kaum noch Auge in Auge geknüpft. Heute kontaktiert man sich digital. Aber wenn es noch umfassende und gut informierte Netzwerke aus richtigen Menschen gibt, dann stehen dafür die Servicekräfte im Gastgewerbe. In Kneipen und Cafés streitet der Manager mit dem Sozialpädagogen, ob die Aufstellung oder die Taktik Schuld an der Niederlage ihrer Lieblingself war, die Hausfrau klagt der befreundeten Krankenschwester, dass ihre Tochter trotz Nachhilfe in Mathematik voraussichtlich nicht versetzt wird. Mittendrin stehen, laufen, servieren die Restaurantfachkräfte, vulgo: Kellner und Kellnerin. In Ermangelung vertrauenswürdiger Alternativen, weil der Alkohol die Zunge löst oder einfach nur, weil sie sympathisch sind, klagt man den dienstbaren Geistern gern sein Leid. Barkeeper kennen oft mehr dunkle Geheimnisse als die Lebenspartnerinnen. Eine Servicekraft hat – ob sie will oder nicht – mehr als nur zwei Ohren. Als sozialer Knotenpunkt weiß sie, was im Viertel „abgeht“, wer Arbeit sucht, wer zuverlässig ist und wer eben nicht. Vielleicht weiß sie von jemand, der jemanden kennt. Oder will vielleicht selbst gern den Arbeitgeber wechseln, wenn das Angebot attraktiv ist.

Wer sich aus verständlichen Gründen scheut, die interessant wirkende Fachkraft an ihrem Arbeitsplatz anzusprechen, muss andere Wege finden. Dafür muss der versierte Profiler nicht die Lokalität wechseln.

Versetzen wir uns in die Rolle der Umworbenen, Restaurantfachkraft, Koch oder Barkeeper. Was machen Menschen, die acht bis zehn Stunden lang hart gearbeitet haben? Sie fallen halbtot ins Bett?

Falsch. Wer permanent hin und her gewuselt ist, kann nicht von jetzt auf gleich den Schalter umlegen. Servicekräfte wollen genau wie andere Arbeitnehmer erst einmal zeitliche und räumliche Distanz zwischen Arbeit und Freizeit legen, sie wollen abschalten.

Und ähnlich wie andere Fachkräfte auch, kennt man sich in der Szene. Mit zwei grundlegenden Unterschieden zu anderen Berufsgruppen. Erstens: Gastronomiebetriebe machen es leicht, die Kollegen an deren Arbeitsplatz und während ihrer Arbeitszeit zu besuchen. So nimmt beispielsweise Kellner Maier in der Kneipe des befreundeten Kellners Müller hin und wieder gern noch ein hochverdientes Feierabendbier. Zweitens: Er gönnt sich den leckeren Tropfen zu später und spätester Stunde, nicht wie andere Arbeitnehmer am späten Nachmittag oder frühen Abend. Ins Gespräch mit der Zielgruppe kommen Profiler daher vorzugsweise um die Mitternachtsstunde. Hier hat ausnahmsweise Abendstund‘ Gold im Mund.

Ingenieure/Ingenieurinnen

Mittelständisches Unternehmen für Regelungstechnik in Oberfranken sucht zum nächstmöglichen Zeitpunkt einen Entwicklungsingenieur (m/w) Leistungselektronik.

Sie arbeiten eigenverantwortlich und selbstständig an der Spezifikation und Entwicklung komplexer elektronischer Schaltungen und Systeme. Zu Ihren Aufgaben gehört die Entwicklung und Simulation von Leistungselektronik (Schalt-/Netzteile) sowie von analogen und digitalen Schaltungen. Wir erwarten ein abgeschlossenes Hochschulstudium im Bereich Elektrotechnik, Elektronik oder vergleichbarer Studienrichtungen. Neben den fachlichen Kompetenzen legen wir Wert auf Leistungsbereitschaft, Flexibilität und ein hohes Maß an Selbstständigkeit und Eigenverantwortung. Gute Deutsch- und Englischkenntnisse in Wort und Schrift sind wichtige Voraussetzungen.

Bei uns stehen Ihnen sämtliche Karrierewege offen. Nehmen Sie uns beim Wort. Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung!

Ingenieurmangel – Mythos oder Realität?

Gibt es nun den Fachkräftemangel unter Ingenieuren oder gibt es ihn nicht? Die Arbeitsmarktexperten sind geteilter Meinung. Selbst für den Fall einer nachlassenden Konjunktur, die den Bedarf an Ingenieuren erheblich zurückgehen ließe und gleichzeitig auf deutlich mehr Absolventen der ingenieurwissenschaftlichen Studiengänge träfe, werde die Nachfrage das Angebot an Ingenieuren Jahr für Jahr übertreffen, prophezeien der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) und das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. In ihrer Studie aus dem Jahre 2015 heißt es, bis 2029 würden dem Arbeitsmarkt insgesamt 84.000 Ingenieure fehlen. Um dem Mangel an technischen Akademikern zu begegnen, sei eine jährliche Nettozuwanderung von mindestens 15.000 Ingenieuren nötig. Berufstätige und vor allem arbeitslose Ingenieure reizen diese Zahlen zum Lachen. Inzwischen gestehen auch VDI und IW ein, dass der Bedarf längst nicht in allen Branchen, in allen Ingenieurfachrichtungen und in allen Landesteilen gleich hoch ist.

Arbeitsmarktforscher Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hält den Fachkräftemangel unter Ingenieuren für eine „Fata Morgana“ – ein Trugbild, mit dem personalkostenbewusste Unternehmen und Fachverbände nur das Arbeitsangebot ausweiten wollten. „In einigen Jahren werden wir zu viele Ingenieure haben und die jungen Leute Probleme bekommen, einen Job zu finden“, sagt er und erklärt den sozialen Mechanismus: „Die Unternehmen klagen über Ingenieurmangel, die Abiturienten orientieren sich daran und stürmen diese Studienfächer.“ Mehr Absolventen halten die Personalkosten stabil. „Die simpelsten Knappheitsindikatoren in der Ökonomie sind Preise und Löhne“, sagt Brenke. „Bei einem Fachkräftemangel müssten die Löhne also in die Höhe schießen – ist bei den Ingenieuren aber nicht geschehen.“

Die Bundesagentur für Arbeit bestätigt Wirtschaftsforscher Brenke. Auf 100 gemeldete offene Ingenieursstellen kamen Ende 2016 exakt 174 arbeitslose Experten der Maschinen- und Fahrzeugtechnik. Ingenieurmangel? Welcher Ingenieurmangel? Im von der Bundesagentur herausgegebenem „Blickpunkt Arbeitsmarkt: Ingenieure und Ingenieurinnen“ vom April 2017 heißt es wörtlich: „Steigende Absolventenzahlen haben zum Beispiel im Bereich des Maschinenbaus und der Elektrotechnik dazu geführt, dass kein Fachkräftemangel mehr erkennbar ist. Die stark gewachsenen Studierendenzahlen dürften den noch vorhandenen Engpässen zunehmend entgegenwirken und zur Bewältigung des anstehenden Generationenwechsels beitragen.“