cover.eps

Title page image

Vorwort

Können Sie sich vorstellen, dass der Beruf des Verkäufers von einem auf den anderen Tag ausstirbt? Sozusagen wegrationalisiert wird, weil völlig neue Technologien diese Berufsgruppe ersetzen? Beispielsweise künstliche Intelligenzen, Roboter, die in naher Zukunft die Fähigkeiten besitzen, Kundenwünsche in rasender Geschwindigkeit zu erkennen und sofort mit den passenden Angeboten darauf zu reagieren?

Ich denke, von diesem Horrorszenario befinden wir uns noch ein gewaltiges Stück entfernt. Schließlich legen noch immer die meisten Kunden Wert auf einen persönlichen Ansprechpartner aus Fleisch und Blut, jemanden, der sympathisch, ehrlich, kompetent ist und zwischendurch ein nettes Lächeln auf seine Lippen legt. Eben den – mehr oder weniger – idealen Verkäufer.

Trotzdem befindet sich dieser Beruf im Umbruch, nicht zuletzt durch die rasende Entwicklung von Internet, Alexa, Siri und Co.

Die digitalen Technologien sind ein Segen, denn sie ermöglichen uns eine schnelle Kommunikation. Wir bleiben permanent erreichbar. Selbst wenn wir unterwegs sind, können wir über Tablet oder Smartphone jederzeit auf alle Informationen zugreifen, die wir brauchen. Mails abrufen, Nachrichtendienste nutzen oder Social-Media-Plattformen, all das ist in unserer modernen Welt fortwährend und an jedem Ort möglich.

Jedoch verändert sich dadurch auch die Vertriebssituation weitgehend und damit das Kundenverhalten.

Ich durfte, während ich an diesem Buch arbeitete, ein interessantes Gespräch mit Herrn Prof. Dr. Jan Wieseke, Universitätsprofessor für Sales Management und Lehrstuhlinhaber am Sales & Marketing Department der Ruhr-Universität Bochum, einem der führenden Vertriebsexperten weltweit, führen. Er beschreibt dieses neue Kundenverhalten folgendermaßen: »Je nachdem welche Produktbereiche wir betrachten, verlagert sich das ganze Geschäft stärker online. Manche Bereiche bleiben aber sehr stark offline. Und einiges dazwischen ist mittlerweile extrem multikanalorientiert. Alle drei Bereiche, online, multikanalorientiert oder offline, stellen eine besondere Herausforderung dar. Wenn ich jetzt den mittleren Bereich aufgreife, dort, wo ich die Multikanäle beherrschen muss, stellt das Anforderungen an das Vertriebsmanagement, die völlig neu sind. Das stellt aber auch vollkommen neue Anforderungen an die Vertriebsmitarbeiter. Vor allem muss es dazu eine Bereitschaft geben, sich darauf einzulassen.«

Schließlich verfügen Kunden über die exakt gleichen technischen Möglichkeiten wie ihre Lieferanten. Der Kunde von heute verfügt über eine riesige Shopping-Kompetenz. Der Endverbraucher recherchiert inzwischen im Internet auf verschiedenen Portalen seine bevorzugten Produkte und das, während er an der Bushaltestelle auf den Bus wartet. Dabei ist der Kunde von heute auch nicht auf das erstbeste Angebot eines Anbieters angewiesen, sondern kann mit einem einzigen Klick unzählige Preisvergleiche anstellen und jederzeit erfahren, wo das gewünschte Produkt zu den günstigsten Konditionen bezogen werden kann. Das betrifft selbstverständlich auch den hochprofessionellen Einkäufer, der mit einigen E-Mails in der Lage ist, eine weltweite Preisabfrage bei ausgewählten Lieferanten durchzuführen. Höchstwahrscheinlich von seinem Büro aus und nicht an der Bushaltestelle, doch selbst das muss heute nicht mehr unbedingt der Fall sein. Fest steht: Nicht nur im Endkundengeschäft, sogar im Bereich der Geschäfts- und Industriekunden verändert sich der Markt durch digitale Technologien radikal. Willkommen in der schönen, neuen VUCA-Welt.

Der Kunde von heute ist ein anderer als noch vor fünfzehn Jahren: Er ist informiert, er kennt die technischen Details seines Wunschprodukts, er informiert sich ausgiebig über die Preisunterschiede und er besitzt viel mehr Ansprüche.

Gleichzeitig drängen, und das ist ebenfalls den neuen Technologien geschuldet, zahlreiche neue Unternehmen auf den Markt, wodurch untereinander ein ernstzunehmender Konkurrenzkampf herrscht.

Der Kunde von heute verfügt über eine Beschaffungskompetenz, die vor dieser rasanten technologischen Entwicklung der letzten Jahre überhaupt nicht vorstellbar war. Diese Entwicklung stellt jedes Unternehmen in der heutigen Zeit vor komplett neue Herausforderungen, der am Ende nur mit entsprechender Anpassung begegnet werden kann.

Mehr Kundenwert, geringere Kosten, vor allem aber ein ganz neues Konzept muss her, und genau aus dieser Notwendigkeit heraus entstand das Grundkonzept zu diesem Buch. Ich werde mit Ihnen über agile Methoden und daran angepasste Verkaufsstrategien sprechen. Über neue Interaktionsmodelle mit Kunden, neue Anforderungen an die Kompetenzen der Verkäufer, die auf die Beschaffungskompetenzen der Kunden von heute abgestimmt sein müssen. Ich erzähle Ihnen aber auch über zusätzliche Ressourcen und Vertriebskanäle, die sich für Sie ergeben, und vielleicht ahnen Sie es bereits: Erfreulicherweise besitzt die Tatsache, dass neue Risiken gleichzeitig neue Chancen beinhalten, eine gewissermaßen befriedigende Beständigkeit.

In vielerlei Hinsicht handelt dieses Buch von Vereinfachung und Verschlankung. Vom Erkennen der richtigen Zusammenhänge in einer immer komplexer werdenden Welt, und darum, Wettbewerbsvorteile auf- und auszubauen, sie nachhaltig zu nutzen und sich dadurch wichtige Marktanteile zu sichern.

Der Kunde steht im Mittelpunkt, denn wir finden in vielen Märkten einen Käufermarkt vor, der den Kunden eine Menge Macht verleiht. Daher müssen wir agil werden, um diesen veränderten Umständen, die noch immer einer großen Dynamik unterliegen, adäquat zu begegnen.

Was erwartet Sie in den folgenden Kapiteln?

Zu Beginn – in den Kapiteln eins und zwei – erfahren Sie, warum wir Menschen immer stärker nach Dynamik streben, während wir gleichzeitig Veränderungen ablehnen. Wie es zu diesen zwei Herzen kommt, die in unserer Brust schlagen. Dieser Teil beschäftigt sich also mit den Ursachen, die zur Notwendigkeit einer agilen Unternehmensführung und damit zum agilen Vertrieb geführt haben.

Falls Sie direkt mit agilen Methoden einsteigen möchten, sollten Sie gleich zu Kapitel drei blättern. Dort stelle ich Ihnen die Grundprinzipien vor und Sie erfahren einiges über die Bedeutung von Begriffen wie Scrum oder Kanban.

Das vierte Kapitel beschreibt die möglichen Unterschiede zwischen klassischen und agilen Verkäufern. Es handelt vom sogenannten »Mindset«. Also der inneren Haltung, die der Verkaufsmitarbeiter von morgen benötigt, und dort beschreibe ich Ihnen auch die mysteriöse VUCA-Welt, die ich bereits eingangs kurz erwähnte.

Die Kapitel fünf bis sieben beinhalten in erster Linie Werkzeuge, die agile Verkäufer benutzen und die Sie dabei unterstützen, künftig einen Weg aus dem Dschungel der Unsicherheiten zu finden.

Die technische Umsetzung, wie Sie also diese Werkzeuge idealerweise einsetzen, beschreibe ich in den Kapiteln acht bis zehn. Dort erfahren Sie, welche Entwicklung Sie und Ihr Unternehmen einschlagen werden, wenn Sie diesen Weg konsequent gehen, oder einfach ausgedrückt: was passieren wird, nachdem Sie alles aus diesem Buch umsetzen. Hier gebe ich Ihnen einen Ausblick auf Ihre Zukunft als Verkäufer.

Ich selbst brenne für das Thema »Agiles Arbeiten« und freue mich, wenn ich die Flamme auch in Ihnen entzünden kann. Auf meiner Webseite finden Sie übrigens zahlreiche Grafiken und Dokumente zum Download und nicht zuletzt dürfen Sie mich natürlich gerne über meine offizielle Homepage kontaktieren. Nun aber wünsche ich Ihnen erst einmal sehr viele Aha-Effekte, die Ihnen ganz bestimmt in Ihren Arbeitsprozessen nützlich sein werden.

Ihre Halina Maier

 

 

 

 

 

 

PS: Dieses Buch richtet sich übrigens im Hinblick auf bessere Lesbarkeit in der Anrede immer an Leserinnen und Leser gleichermaßen, auch wenn ich entweder die weibliche oder die männliche Form verwende.

1.
Warum Agilität keine Probleme löst, sondern diese erst sichtbar macht

»Es ist nicht die stärkste Spezies, die überlebt, auch nicht die intelligenteste, sondern eher diejenige, die am ehesten bereit ist, sich zu verändern.«

Charles Darwin

Stopp, stopp und nochmal stopp! Bevor Sie sich auf dieses Buch stürzen und es – hoffentlich – mit großer Leidenschaft zu verschlingen planen, stellen Sie sich bitte ganz kurz die folgende Frage: »Warum lese ich dieses Buch?«

Selbstverständlich haben Sie sich etwas dabei gedacht, als Sie das Buch gekauft haben. Hat Sie vielleicht der Buchtitel in einer Buchhandlung angesprochen? Womöglich wurde es Ihnen bei einer Google-Recherche empfohlen, oder es handelte sich um ein Geschenk?

Mit Sicherheit gab es einen Auslöser und an dieser Stelle bleibt es letztlich unerheblich, ob Ihnen dieser nun bewusst ist oder ob Ihr Unterbewusstsein diese Entscheidung getroffen hat. Ich bitte Sie jetzt ausdrücklich darum, sich einmal für ein paar Minuten ganz gezielt auf diese Frage zu konzentrieren: »Warum investiere ich jetzt meine Zeit, um dieses Buch zu lesen?«

Es wäre mir eine Freude, Sie nun dahingehend zu ermuntern, indem ich Ihnen sage, dass es sich dabei lediglich um eine gute Übung handelt. Dass es keine falschen Antworten auf diese Frage gibt. Aber das kann ich nicht tun. Sich selbst zu hinterfragen, seine Handlungsweisen und die eigene Motivation, etwas zu tun oder nicht zu tun, ist nicht einfach nur eine gute Übung, sondern eine unabdingbare Notwendigkeit in allen Bereichen des Lebens, ein absolutes Muss. Sie investieren gerade Zeit, und Zeit ist wertvoll. Aus meiner Sicht ein unheimlich kostbarer Rohstoff, der nur begrenzt vorhanden ist. Es liegt an Ihnen, wie Sie diesen Rohstoff bearbeiten, also ob Sie daraus einen Edelstein erschaffen. Oder eben nicht. Interessanterweise hängt dieses Ergebnis – welches jeweilige Endprodukt wir aus dem Rohstoff Zeit gewonnen haben – immer nur von unserer individuellen Bewertung ab.

Wenn ich bei Google den Begriff »Wettbewerbsfähigkeit« eingebe, bekomme ich 3 340 000 Ergebnisse angezeigt.

»Ach?«, fragen Sie sich möglicherweise. »Und was verbindet die Wettbewerbsfähigkeit mit der soeben gestellten Frage der Autorin?«

Eine ganze Menge, so viel kann ich Ihnen bereits jetzt verraten. Sie werden in diesem Buch von einigen Unternehmen lesen, die seit vielen Jahren, sogar seit Jahrzehnten, ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten konnten. Eine Leistung, die angesichts der neuen Technologien und der rasanten Veränderungen, die unsere Zeit mit sich bringt, durchaus als stolze Leistung zu betrachten ist. Wie haben diese Unternehmen das geschafft? Ein ausgesprochen gewichtiger Grund liegt darin, dass sich diese Unternehmen – also deren Unternehmenslenker - permanent selbst hinterfragen und das in allen Punkten. Sie hinterfragen die Qualität ihrer Produkte, ihrer Firmenstruktur, ihrer Vertriebsorganisation. Sie forschen, sie entwickeln, und nicht alle Punkte fließen immer in neue Produkte ein. Immer auf Zack, stets am Puls der Zeit. Nur so schafft es ein Unternehmen in der heutigen Zeit, beständig am Markt präsent zu sein.

Zurück zu Ihnen, denn ich hatte mir ja erlaubt, Ihnen eine Frage zu stellen. Die Antworten darauf können natürlich unterschiedlich ausfallen und beispielsweise könnten Sie zu folgenden Ergebnissen kommen:

Weil ich neugierig bin. Weil ich mich mit agilen Methoden beschäftigen muss. Weil ich in meiner täglichen Verkaufsarbeit besser werden will. Weil ich neue Impulse erwarte. Weil ich gerne Sachbücher lese. Weil mir dieses Buch geschenkt wurde, und ich keinen blassen Schimmer habe, was sich meine Lieben dabei gedacht haben.

Habe ich richtig geraten? Ist Ihre Antwort dabei? Es handelt sich übrigens in allen Fällen um richtige Antworten, und jetzt werden Sie möglicherweise erfahren wollen, welche Antworten die Falschen wären.

Eine falsche Antwort wäre zum Beispiel, dass dieses Buch Ihnen helfen soll, besser zu werden. Dass es Ihnen innovative Impulse liefern soll. Oder neue Methoden, die mal ordentlich Schwung in Ihre Arbeit bringen sollen.

Merken Sie den Unterschied zwischen richtigen und falschen Antworten? Bei den richtigen Antworten stehen SIE im Fokus. SIE setzen um. SIE handeln. Dieses Buch ist lediglich ein Werkzeug in Ihrer Hand, das SIE mit Ihrem Verstand nutzen können. Dieses Buch, die agilen Methoden, sind der Kompass, der Ihnen den Weg weisen wird. Dieses Buch, alle hier beschriebenen Methoden, können Sie dabei unterstützen, etwas Neues zu erschaffen. Es ist eine Landkarte der Veränderung – Ihrer Veränderung.

Der Begriff »Agilität« oder »agile Methoden« gilt im Jahre 2017 als das Buzzword schlechthin.1 Alle wollen jetzt agil werden, alle reden darüber. Leider aber verstehen nur wenige, welche Bedeutung sich dahinter verbirgt. Was also überhaupt damit gemeint ist, was Agilität denn nun verändert und bewegt, obwohl die Werte und die Prinzipien, nach denen agile Methoden funktionieren, keinesfalls neu sind. Und, das muss man auch anmerken, es meisterten inzwischen bereits einige Unternehmen, Vertriebsorganisationen und Verkäufer so einige Krisen, und zwar ohne agile Methoden einzusetzen. Die Frage ist nur, wie anstrengend war das, und hätte man - unter Einsatz agiler Methoden - vielleicht noch bessere Ergebnisse erzielen können?

Zu diesem Thema führte ich ein hochinteressantes Gespräch mit dem Agile Coach Uwe Linke aus Berlin, dessen Inhalte ich Ihnen nicht vorenthalten möchte.

»Manche Menschen«, so sagt Uwe Linke, »verstehen unter ›agil‹, dass sie schnell reagieren, aber das alleine genügt natürlich nicht. Die Erfinder des Agilen Manifestes2 hatten überlegt, es nicht ›agil‹ zu nennen, sondern ›adaptiv‹, denn das trifft es besser: adaptives Vorgehen. Meine Definition von agil lautet, dass das erst einmal eine Antwort auf eine veränderte Situation ist. Früher hatte man sehr viele komplizierte Situationen, da musste man langfristig planen. Da war das auch noch möglich. Man wollte irgendwohin, hat sich Ziele gesetzt. Der Horizont war zu sehen und die Richtung, in die es gehen sollte, war auch klar. Ebenso klar war, dass man auf ein paar Hindernisse stoßen wird, und die musste man in seinem Masterplan mit einkalkulieren.«

Auf meine Frage hin, was er damit exakt ausdrücken möchte, führte Linke weiter aus: »Ja, der Masterplan. Bis zur Digitalisierung mag er funktioniert haben, aber dann war damit weitgehend Schluss. Das Internet verbreitete sich in rasanter Geschwindigkeit, der Mauerfall wurde zu einem Synonym für die Globalisierung. Unsere heutige Welt ist nur noch in wenigen Bereichen kompliziert, sie ist jetzt eher komplex. Mit ›kompliziert‹ ist in diesem Zusammenhang gemeint, dass das Business früher sehr vielschichtig war. Man brauchte diesen langfristigen Masterplan. Doch heute? Heute ist alles eher komplex, statt kompliziert, und das bedeutet, alles ist miteinander verbunden, verwoben und verflochten.3

Sicher werden Sie mir zustimmen, wenn ich Ihnen nun sage, dass in einer komplizierten Welt eine langfristige Planung natürlich sehr sinnvoll ist. Wenn Dinge kompliziert sind, kann man in seiner Planung bis ins kleinste Detail gehen, und jedes noch so kleine Hindernis, das auf dem Weg zur Zielgeraden liegen könnte, berücksichtigen. Aber in einer komplexen Welt ist eine langfristige Planung in etwa so sinnvoll wie die Wetterprognose für den ganzen nächsten Monat, weil man das Wetter bestenfalls für die nächsten Tage einigermaßen voraussagen kann. Alles was darüber hinausgeht, können wir gar nicht einschätzen. Mit einem eventuellen Hoch und einem voraussichtlichen Tief in der Wetterlage besitzen wir ja bereits mindestens zwei Einflussfaktoren. Man weiß letztlich nicht einmal genau, was am folgenden Tag passiert.«

Uwe Linke meint, und da stimme ich ihm zu, dass man diesen Vergleich durchaus auch auf das heutige Geschäftsleben anwenden kann. Aus seiner Sicht schmieden wir Pläne, wir entwickeln Planungswerkzeuge und investieren viel, sehr viel Zeit in einen Businessplan, weil man das in unserer Zeit so macht – und all das ist natürlich langfristige Planung. Bei den meisten Businessplänen sieht man es dann auch, wenn man sie sich ein paar Monate später noch mal anschaut: Es hat sich sowieso alles ganz anders entwickelt, als man ursprünglich dachte, als man eine Situation so eingeschätzt hat, wie sie zu dieser Zeit eben gewesen ist. Das ist ja der Punkt: Wir planen sorgfältig, aber schon einen Moment später passiert irgendwas, alles kommt völlig anders und dann regiert das Chaos.

Auf meine Frage hin, wie wir diesem Chaos grundsätzlich begegnen sollten, antwortete Uwe Linke: »Darin liegt der Grund, aus dem sich diese Softwareentwickler getroffen haben und das Agile Manifest aufsetzten. Die langfristige Projektplanung ist totaler Bullshit. Es kostet Nerven, es ist frustrierend und es ist eine Change-Request-Schlacht. Es ist doch total sinnlos, drei Monate lang zu planen, wenn schon am ersten Tag der Umsetzung alles vollkommen anders abläuft, als man dachte.«

Kommt Ihnen dieses Thema vielleicht aus Ihrer Vertriebsarbeit bekannt vor?

»Man versuchte also, eine Definition zu finden«, erläutert der Coach weiter, »und kam über die ›Iteration‹ auf das adaptive Vorgehen. Statt planlos zu handeln, planen wir unterschiedliche Dinge für kurze Zeiträume – und dann schauen wir, was passiert und reagieren darauf. So funktioniert Evolution! Es gibt immer verschiedene Varianten, verschiedene Wege, verschiedene Herangehensweisen, und man kann nie wissen, welche davon funktionieren. Man probiert es eben in kurzen Abständen aus und findet es darüber heraus. So arbeiten alle agilen Methoden. Allerdings ist das nichts Neues. Vor der Industrialisierung waren Überraschungen an der Tagesordnung, denn täglich passierte etwas Neues, Aufregendes, Spannendes. Etwas, das vieles veränderte und weitere Veränderungen mit sich brachte. Ähnlich ist es heute, in unserer Zeit, fast 200 Jahre später.«

»Und in jedem Augenblick«, meint Uwe Linke, »haben wir Leute um uns herum, die uns helfen, die Dinge zu korrigieren, wenn wir plötzlich auf ein unüberwindbares Hindernis stoßen. Die Industrialisierung hat alles planbar gemacht.«

Er erinnert an Taylor4 , der das Management erfunden hat, als die Industrialisierung ihr absolutes Hoch erlebte, ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. »Taylor sagte: ›Wir trennen das Denken und das Planen vom Handeln.‹ Die Manager sind es, die das Denken und Planen übernehmen, und all die anderen führen diese Pläne aus. Vor der Industrialisierung gab es auch, so wie heute, ein hohes Maß an Unsicherheit. Wir mussten erst das Feuer zähmen, das Rad erfinden, Amerika entdecken, uns ein neues Bild von der Welt machen, die Dampfmaschine erfinden. Mit jeder Entdeckung bereiteten wir den Weg für die nächste Erfindung, und ab der Industrialisierung machten wir uns die Welt in bestimmten Bereichen untertan. Inzwischen waren wir sogar auf dem Mond.

Und trotzdem war alles – bis zum digitalen Zeitalter – nicht komplex, sondern eher kompliziert. Es haben sich Firmengebilde geformt, und die haben wie Maschinen funktioniert. Sie haben Teile dieser Welt erobert, vollkommen unbeeinflusst von Konkurrenzsituationen oder einer Globalisierung. Große Unternehmen hatten Monopolstellungen, man denke dabei nur an das Telefon. Es gab doch nur diesen einen Anbieter und der hatte nichts zu fürchten. Er hatte Planungssicherheit, denn es war klar, dass die Anzahl der Telefone in den privaten Haushalten stetig zunehmen würde. Jeder wollte ein Telefon haben. In den sechziger Jahren war es noch etwas Besonderes, in den siebziger Jahren hatte bereits jeder Haushalt ein Telefon, und es war klar, dass junge Erwachsene, die einen eigenen Hausstand gründen, auch einen Telefonanschluss beantragen werden. Der Anbieter konnte planen, vom Material bis zu den Personalressourcen, mit Wachstum rechnen, sogar die Überschüsse kalkulieren. Um den Vertrieb musste man sich keine Gedanken machen, der Kunde stellte ganz von selbst einen Antrag auf einen Telefonanschluss. Mit den Streichhölzern verhielt es sich ähnlich, jahrzehntelang gab es nur einen einzigen Anbieter für Streichhölzer. So ein kleines Streichholz, eine raffinierte Erfindung, so einfach und doch so begehrt – jeder braucht Streichhölzer, die verkaufen sich von alleine! Von einer sehr hohen Ungewissheit vor der Industrialisierung kamen wir also irgendwann zu einem hohen Maß an Sicherheit und Planbarkeit. Ein schöner Zustand, in dem sich bestimmt ein Großteil der Menschen entspannt zurücklehnte und genoss, denn Sicherheit und Planbarkeit sind angenehme und bequeme Zeitgenossen. Aber etwa um das Jahr 1990 herum war damit Schluss. Sollte man das bedauern oder beklatschen?«

Eine wahrscheinlich interessante Frage. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Uwe Linke spricht diesbezüglich vom »Schmetterlingseffekt« als Schlagwort: »Nun gab es nämlich verschiedene, dominierende Einflussfaktoren. Dinge passieren sehr schnell, völlig unvorhergesehen, total ungeplant. Damit haben wir also wieder ein hohes Maß an Unsicherheit erreicht.

Geht Ihnen die Sicherheit verloren, können Sie nichts mehr planen und davon ausgehen, dass dieses oder jenes eintreffen wird. Ganz im Gegenteil, Ursache und Wirkung hängen gar nicht mehr so unbedingt zusammen. Sie können irre viel Energie in ein Projekt investieren, alles sorgsam planen, sehr fleißig sein, aber das garantiert Ihnen trotzdem keinen Erfolg, denn irgendwo sitzt vielleicht jemand in einer Garage und bastelt etwas, was Ihr ganzes Projekt total unnötig macht.«

Wir brauchen also neue Werkzeuge und Vorgehensweisen, neue Denkweisen.

Uwe Linke erinnert an den US-amerikanischen Wirtschaftstheoretiker William Edwards Deming.5 Dieser fiel in den USA Ende der dreißiger Jahre mit seinen Theorien zur Qualitätssicherung in Prozessen auf, und so wurde er gebeten, auch in Japan Vorträge zu halten. Aus einer Theorie mit einem Dreiklang hat er einen Vierklang gemacht. Er sagte damals: »Plane kurz!«, oder vielmehr »Plan to check!« Er meinte damit, dass man die Dinge planen soll, ausbauen soll und dann einfach schauen, wie die Wirkung ist – und darauf soll man dann reagieren. Allerdings sprach er da nicht von dem, was wir hier in Deutschland gewohnt sind, diese klassische, langfristige Planung, sondern ein sich ständig anpassendes System.

image

Abbildung 1.1: Deming Kreis

Uwe Linke fiel dazu in unserem Gespräch ein tolles Beispiel ein: der Segway. Kennen Sie das? Es handelt sich um ein elektrisch angetriebenes Transportmittel für eine Einzelperson. Der Segway selbst ist natürlich stabil, aber insgesamt ist es eigentlich ein labiles Gleichgewicht, denn es fällt dauernd um. Man könnte nun also sagen, wenn es nach vorne kippt, müssen wir nach hinten gegensteuern. Kippt es nach hinten, müssen wir nach vorne steuern. Es ist also stabil, wenn man es unter den Aspekten des Deming Circle betrachtet. Sie können planen, solange Sie steuern können.

Und nun kommt Linke auf ein anderes Beispiel, eines, das wir uns alle recht gut vorstellen können. Denken Sie einfach mal an eine große Einkaufsmeile. Sie sehen da 100 Leute und planen, dass diese 100 Leute die Straße entlanglaufen. Sie glauben zu wissen, dass sie dann am Ende der Straße in die nächste Einkaufsstraße abbiegen. Doch können Sie das wirklich vorausberechnen? Wohl kaum, denn der Mensch ist von seiner Natur her ein adaptives Wesen. Vielleicht verfolgten all diese Menschen tatsächlich den Plan, einfach nur diese Einkaufsstraße entlangzugehen und in die nächste abzubiegen. Aber dann haben einige von ihnen ein paar interessante Schaufensterauslagen gesehen, sind in das Geschäft reingegangen, haben etwas gekauft – und müssen jetzt gar nicht mehr in die nächste Einkaufsstraße gehen, weil sie längst gefunden haben, was sie eigentlich gar nicht gesucht haben. Sie kehren also um und fahren mit dem nächsten Bus wieder nach Hause. Damit so ein Plan aufgehen kann, müsste man jeden einzelnen dieser Menschen mit einem Programm ausstatten, das dafür sorgt, dass sie genau das tun, was wir geplant haben. Das geht aber nicht, und Menschen sind individuell, handeln im Affekt, treffen Entscheidungen, werfen sie wieder um. Besser ist es also, einfach zu beobachten, was passiert, und dann darauf zu reagieren. Vorhersagen treffen niemals ein, schon gar nicht, wenn Menschen im Spiel sind. Und das ist ja in fast allen Bereichen unserer komplexen Welt der Fall.

Und obwohl es sich bei uns Menschen um adaptive Wesen handelt, sind wir gleichzeitig immer noch auf diesen Taylorismus konditioniert, auch wenn dieser bereits ein Alter von über 150 Jahren auf dem Buckel hat. Wir sehen, was reingeht, was rausgeht, und denken, es kommt schon so, wie wir es geplant haben.

Aber die Zeiten haben sich geändert, und die Umstände sowieso. Dieses Denken führt dazu, dass wir nicht alles einsetzen, was wir haben. Dass wir Probleme nicht lösen, obwohl wir sie erkennen, weil wir strikt irgendeinem Masterplan folgen, und das auch nur, weil den irgendwann mal irgendjemand gemacht hat. Und das ist in unserer Zeit einer der häufigsten Gründe für Misserfolg. Man könnte es schon fast als Naturgesetz bezeichnen.

Uwe Linke bringt außerdem ein schönes Beispiel für eine Gegenbewegung, nämlich den »Brexit«. Brexit bedeutet entkoppeln, entschleunigen, etwas wieder in einen Zustand zu bringen, in dem es weniger einflussnehmende Faktoren gibt. Die Menschen, die den Brexit befürworten, wollen wieder zurück zu einer Welt, die planbarer ist, und das ist nur durch Entkoppeln und Entschleunigen zu erreichen. Wenn es weniger Einflussfaktoren gibt, mindert das die Geschwindigkeit. Allerdings kann man dann von Großbritannien auch als abgekapselte Domäne sprechen, die dann, insgesamt und global betrachtet, einer geringeren Dynamik unterliegt. Dafür ist aber wieder mehr Planbarkeit in den wirtschaftlichen Abläufen möglich. Natürlich entsteht dadurch ein Risiko, denn die Folgen für die Wirtschaft in Großbritannien könnten auch verheerend sein.

Uwe Linke erzählte mir in unserem Gespräch von einer Theorie, die er verfolgte: »Der Mensch ist im Prinzip ein zwiegespaltenes Wesen. Er hätte gerne mehr Sicherheit. Keine Sicherheit zu besitzen, entspricht einer Art Kränkung für uns Menschen. Wenn jemand sagt: Lass uns adaptives Vorgehen einführen, ertönt im Unterbewusstsein des anderen diese kleine, leise Stimme, die sagt, dass wir die Kontrolle verloren haben. Die Kontrolle zu verlieren, entspricht jedoch auch so einer Kränkung für die Menschen, denn dann müssen sie zugeben, dass sie die Welt nicht mehr im Griff haben.«

Ich habe dieses Phänomen bereits in vielen Workshops innerhalb von Vertriebsorganisationen kennengelernt. Sobald ich damit beginne, notwendige Veränderungen anzusprechen, kommt als Erstes meistens folgende Frage: »Haben wir es denn vorher falsch gemacht, denn warum sollen wir unser Verhalten sonst ändern?«

Der Punkt dabei ist für mich die dahinterliegende Haltung: Die meisten Personen gehen davon aus, wenn sie etwas verändern, müssen sie gleichzeitig zugeben, vorher Fehler begangen zu haben, und das tut natürlich weh.

Adaptive Menschen sind ein ganz besonderer Schlag. Das sind jene Menschen, die einfach lebenslang offen sind für Neues, die immer lebendig bleiben wollen, die zwar erwachsen werden, aber nie ihren Pioniergeist verlieren.

Ich möchte an dieser Stelle nochmals Uwe Linke zitieren: »Wer in der heutigen Zeit etwas bewahren will, muss bereit sein zu experimentieren, damit nicht alles verloren geht. Doch was tun wir? Wir folgen generell den Dingen, die im Augenblick erfolgreich sind, und vermeiden damit Unsicherheit. Wir sichern dadurch unsere Zukunft.«

Im Nachgang erwähnte er in unserem Gespräch den guten alten Charles Darwin, der irgendwann einmal behauptete, auch der Mensch sei letztlich nur ein Tier. Selbst wenn wir Menschen uns immer als etwas Besonderes betrachten, sollte man ruhig mal ein bisschen Zeit damit verbringen, Tiere zu beobachten, denn man kann viel von ihnen lernen. Zum Beispiel die Tatsache, dass Tiere Veränderungen hassen, denn diese kosten viel Energie. Und verhält es sich bei uns Menschen nicht genauso?

Risiken bestimmen unser Leben

Denken Sie doch mal an Ihr Fahrzeug. Sie haben sich an das Auto gewöhnt, weil Sie es wahrscheinlich schon etwas länger fahren. Sie wissen, wo sich alle Knöpfe und Schalter befinden, Sie kennen die Reaktionsgeschwindigkeit, das Fahrgefühl, die Schaltung, einfach alles. Beim Fahren denken Sie schon lange nicht mehr über das Fahren mit diesem Auto nach, sondern Sie fahren einfach, hören dabei Musik, achten auf die Landschaft, unterhalten sich mit Ihrem Beifahrer oder überdenken noch mal das letzte Meeting in der Firma. Sie fahren irgendwie völlig automatisch, ohne darüber nachzudenken. Ihr Unterbewusstsein hat sich eine Kompetenz angeeignet, die nun irgendwo ganz tief in Ihnen gespeichert ist.

So verhält sich das mit allem im Leben. Was wir einmal gelernt haben, steckt in uns, wir denken nicht mehr darüber nach, wir tun es einfach. Unser Unterbewusstsein übernimmt die Steuerung.

Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie bekommen ein ganz neues Auto. Sie müssen erst mal herausfinden, wie man die Sitze einstellt, wo die ganzen Knöpfe sind, für was Sie welchen Schalter drücken müssen, die Schaltung funktioniert anders, der Wagen beschleunigt und bremst völlig anders als Ihr altes Auto. Das bedeutet jetzt zwar vielleicht eine Menge Spaß für Sie, diesen schicken Wagen auszuprobieren, aber es bedeutet auch Stress. Sie fahren jetzt nämlich nicht automatisch, sondern müssen sich total konzentrieren. Während Sie die Verkehrssituationen meistern müssen, sucht Ihre Hand möglicherweise die Schaltung, weil Ihr Unterbewusstsein sich noch nicht daran gewöhnt hat, dass Sie jetzt in einem Wagen mit Automatikgetriebe sitzen. Das ist Stress. Stress kostet viel Energie. Etwas Neues auszuprobieren erzeugt Stress und kostet viel Energie.

Auch wenn Sie ein erfahrener Autofahrer sind, ein unbekanntes, neues Auto ist einfach erst einmal etwas, was Sie kennenlernen müssen. Das ist stressig, denn es verlangt Ihnen viel Aufmerksamkeit und Konzentration ab. Mit dem alten Wagen würden Sie diesen Stress nicht haben, aber es sollte ja ein neuer her. Sie gingen also an dieser Stelle ein Risiko ein, denn Sie haben eine Veränderung in Angriff genommen, die Ihnen viel Energie abverlangt, obwohl Sie das Ergebnis nicht kennen. Vielleicht stellen Sie nach einer längeren Fahrt mit dem neuen Wagen fest, dass Sie in diesen Sitzen nach einer längeren Fahrt Rückenschmerzen bekommen, oder dass der Wagen keine gute Straßenlage besitzt, dass die Stoßdämpfer viel zu hart sind, auch wenn er, zugegeben, total schnittig ist.

Sie sind mit dem neuen Wagen ein Risiko eingegangen, haben viel Energie investiert und stellen nun fest, dass Sie Ihre Situation nicht verbessern konnten. Das Experiment »Auto« ist also gescheitert. Und so verhält es sich mit vielen neuen Dingen im Leben. Man muss sehr selektiv vorgehen, wenn man Neues in Angriff nimmt, denn Sie können scheitern. Es kann sein, dass Sie die Dinge nicht verbessern. Vielleicht wird die Situation dadurch sogar noch schlimmer als sie es vorher war – oder es hat sich einfach überhaupt nichts verändert. Dann ist die gesamte Energie im Universum verpufft.

Was uns antreibt, kann man im Grunde auf die Suche nach Nahrung runterbrechen, und dafür suchen wir ökonomische Zustände: Es soll bitteschön alles so einfach wie nur möglich sein. Unser Überleben hängt davon ab, dass wir genug Nahrung finden, und das bitte mit möglichst wenig Energie. Ein zu hoher Energieverbrauch schadet uns also, daher versuchen wir, so viel wie möglich zu automatisieren.

Ich komme noch mal auf den Vergleich mit den Tieren zurück. Ja, bei einer sehr stark reduzierten Betrachtung handelt es sich auch bei uns lediglich um Tiere, nichts anderes. Bei Tieren verhält es sich so, sie haben ihre Mechanismen und sie agieren nach den Programmen ihres Unterbewusstseins. In der Regel verspüren sie überhaupt keinen Druck, irgendwas zu verändern, solange sich ihre Umgebung nicht drastisch verändert.

Nehmen Sie einen Löwen in freier Wildbahn. Er hat sein Revier, in dem er jagt. Er hat sein Rudel und innerhalb dieses Rudels befindet sich sein Platz in der Hierarchie. Der Löwe besitzt seinen ganz eigenen Lebensrhythmus, während er instinktiv jagt, schläft und frisst. Was immer ein Löwe in freier Wildbahn unternimmt, mitten in Afrika, er denkt einfach nicht darüber nach und im Prinzip läuft sein Leben nicht besonders stressig ab. Behaupte ich mal.

Falls er müde wird, legt er sich hin und schläft. Aber wenn sich die Umgebung um ihn herum verändert, muss auch er in Bewegung kommen. Vielleicht wird eine Stadt gebaut, genau da, wo sich sein Revier befindet. In diesem Fall bleibt dem Löwen nichts anderes übrig, als sich ein neues Revier zu suchen, und dabei begegnet er wahrscheinlich anderen Löwen, die ihre Gebiete natürlich verteidigen. Jetzt hat der Löwe Stress. Er handelt möglicherweise immer noch instinktiv, aber er muss jetzt wachsam sein, sich konzentrieren, auf kleinste Details achten, weil überall Gefahren lauern. Das ist purer Stress und kostet ihn jede Menge Energie. Könnte der Löwe sprechen, würde er uns dazu mit Sicherheit sagen: »Das ist verdammt anstrengend, ich bin fix und fertig und will wieder zur Ruhe kommen!«

Wir Menschen verhalten uns nicht viel anders. Vielleicht nicht alle, denn wir hatten ja gerade von »adaptiven« Menschen gesprochen. Menschen, die lebenslang lernen, sich entwickeln, die bis zu ihrem letzten Tag auf Erden offen sind für Neues. Viele aber laufen auf Autopilot und das beinahe permanent. Die Dinge funktionieren einigermaßen gut, sie verspüren keinen Druck, etwas zu verändern, und probieren deswegen auch nichts Neues aus.

Zurück zu unserem Thema »Agilität«: Warum sollten Sie sich damit beschäftigen? Und warum beschäftige ich mich so intensiv damit?

Die Antwort darauf lautet: weil sich die Revierlandschaft von Verkäufern gravierend verändert hat. Und weil agile Methoden in diesem neuen und noch »feindlichen« Revier mit Internet, vielen Mitbewerbern aus der ganzen Welt und einigen anderen Gefahren so viele Dinge so viel einfacher machen.

Das »Agile Manifest«

Nun habe ich es schon mehrere Male erwähnt, und ich bin sicher, es ist Ihnen ein Begriff. Der Ordnung halber fange ich jedoch mal ganz von vorne an.

Es fing alles im Jahr 2001 an, als sich etwa zwanzig IT-Fachleute in den Rocky Mountains trafen und dort ihr »Agiles Manifest« niederschrieben.6

»Wir entdecken bessere Wege, Software zu entwickeln, indem wir Software entwickeln und anderen dabei helfen. Durch diese Arbeit bewerten wir

Die Dinge auf der rechten Seite besitzen einen Wert, wir bewerten die auf der linken Seite aber höher.«7

Seit diesem denkwürdigen Tag im Jahr 2001 wurden einige Formulierungen entwickelt, mit denen versucht wurde, Agilität zu definieren. Aus meiner Sicht sind sie jedoch alle unzureichend. Agilität unterliegt sehr einfachen Regeln und Prinzipien. Alle agilen Methoden weisen – mehr oder weniger – drei Eigenschaften auf: Sie sind iterativ, inkrementell und empirisch.

Bei »Iteration« handelt es sich um einen Begriff mit unterschiedlichen Bedeutungen, je nachdem, in welchem Bereich er Anwendung findet. In den Sprachwissenschaften bezeichnet die Iteration die Wiederholung von Wortteilen. In der Mathematik bedeutet Iteration die wiederholte Anwendung desselben Verfahrens, um dadurch der Lösung eines Problems schrittweise näherzukommen: »Die Ergebnisse eines Schrittes werden als Ausgangswerte des jeweils nächsten Schrittes genommen.«8

In der Philosophie bezeichnet die Iteration die Wiederholung eines Begriffs im philosophischen und gesellschaftlichen Diskurs.

Im Management wird Iteration genutzt, um mit den Ungewissheiten und all den Überraschungen in komplexen Situationen umzugehen.

»Empirie« oder der hier als Adjektiv genutzte Begriff »empirisch« bedeutet, systematisch Informationen und Erfahrungen zu sammeln.

Wikipedia sagt dazu Folgendes: »Im Spätmittelalter und in der Frühneuzeit erhoben Naturforscher den Anspruch, dass sie aufgrund ihres empirischen Forschens zu neuen Einsichten gelangt seien. Der Empirismus ist eine im 17. Jahrhundert entstandene, ursprünglich auf Francis Bacon und David Hume zurückgehende, philosophische Strömung, die die generelle Abhängigkeit allen Wissens von der Erfahrung betont. Der Anspruch war oft mit Polemik gegen andere Forscher verbunden, denen unterstellt wurde, dass sie sich auf überlieferte und kirchlich sanktionierte Autoritäten wie zum Beispiel Aristoteles verließen, also auf die Tradition.«9

Inkrementell bzw. eine inkrementelle Vorgehensweise bedeutet »ständige Verbesserung«. Wikis, wie wir sie zu allen möglichen Themen kennen, arbeiten nach dem inkrementellen Prinzip. Crowdwriting ist auch inkrementell. Das Projekt entwickelt sich organisch und das Endergebnis steht in der Regel noch nicht fest.

Viele Unternehmen beginnen relativ zügig, in kurzen Zyklen zu arbeiten, also »iterativ«. Auf den ersten Blick scheint dies fortschrittlich, dass es ja der bereits getroffenen Erkenntnis entspricht, dass lange Planungsprozesse in unserer Zeit kaum noch Sinn ergeben. Sie arbeiten in kurzen Zyklen, weil es am einfachsten geht. Durch regelmäßige Meetings wird der Schein von Agilität erzeugt. Man spricht da auch von den »Quick Wins«, also von »schnellen Gewinnen«. Wie werden wir schnell agil? Wir machen einfach täglich 15 Minuten Stand-Ups.10 Das bringt jedoch leider gar nichts, weil dadurch kein wirklicher Mehrwert entsteht. Dieser entsteht nur dann, wenn empirisch und inkrementell gearbeitet wird.

Das bedeutet, wir müssen nach jeder Iteration empirisch vorgehen und uns fragen: Was haben wir gelernt? Wie gehen wir mit unseren Erkenntnissen im nächsten Arbeitszyklus um?

Um die Prozesse wirklich agil zu gestalten und einen Mehrwert daraus zu gewinnen, muss der Dreiklang der drei Prinzipien von Agilität gegeben sein, denn sie machen Probleme und Erfolge automatisch sichtbar. Das wiederum bedeutet, dass es permanent Veränderungen gibt. Und Veränderungen muss es in unseren Vorgehensweisen geben, weil sich das gesamte Umfeld verändert hat. Denken Sie an den Löwen in der afrikanischen Steppe.