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Michael Künzl

Das Ende der Hardseller

So verkaufen Sie erfolgreicher als die Konkurrenz – und das Internet

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WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA

Einführung: Die eine unter 1071

In München gibt es laut Branchenbuch 1071 Bäckereien, also gefühlt an jeder dritten Straßenecke eine. Trotzdem kaufe ich am liebsten in einer kleinen Bäckerei und nehme dafür sogar manchmal einen Umweg in Kauf. Und das kam so: Mein Vormittagstermin hatte zu lange gedauert. Es war schon nach 13:30 Uhr und meine Mitarbeiterinnen im Büro warteten auf mich. Nachdem ein Restaurantbesuch also nicht mehr infrage kam, beschloss ich, mir in besagter Bäckerei eine Kleinigkeit mitzunehmen. Ich stand also vor dem leider schon sehr geplünderten Buffet und fragte die junge Dame hinter dem Tresen, ob sie denn wohl noch etwas Deftiges hätte. Sie verwies auf ein blasses Stück Pizza und ein Weißbrotsandwich mit Käse. Meinem Gesichtsausdruck war wohl anzusehen, wie ich zu diesen beiden Offerten stand, und da kam ihre Frage:

»Das ist jetzt nicht so das, was Sie sich vorgestellt haben!?«

»Ist mir das so deutlich anzusehen?«

»Ja, schon. Ich mache ihnen aber gerne noch ein frisch belegtes Vollkornbrötchen, wenn Sie mir eine Minute geben. Was hätten Sie denn gerne drauf?«

Hier fühlte ich mich zuhause! Da komme ich gerne wieder und da kaufe ich auch gerne mehr. Denn das Ganze endete so:

»Hier ist Ihr Vollkornteilchen! Haben Sie unseren frischen Zwetschgendatschi (für die Nichtbayern: Pflaumenblechkuchen) gesehen?«

Hatte ich, und er sah leider lecker aus.

Für mich ist diese Verkäuferin eine echte »Sales Lady«. Ich bin seit fast 30 Jahren im Verkauf, seit der Ausbildung, als Verkäufer und bald darauf als Gebietsverantwortlicher einer Premiummarke im Automobilbereich, anschließend als Unternehmer in der Finanzdienstleistung. Seit zehn Jahren schule und berate ich die Vertriebsteams namhafter Unternehmen von der IT-Branche bis zu Banken und Versicherungen. Ich bin überzeugt: In einer Zeit, in der mancher schon das Aussterben der Verkäufer aus Fleisch und Blut prophezeit, weil angeblich bald fast alles online geordert wird, gehört die Zukunft in Wahrheit solchen Sales Ladys und ihren männlichen Pendants, den »Sales Gentlemen«. Wenn Sie bei diesem Stichwort an Maßhemden, Manschettenknöpfe und Bügelfalten denken, liegen Sie daneben. Sicher, es gibt Verkaufsbereiche, in denen all das empfehlenswert ist. Doch Sales Ladys und Sales Gentlemen trifft man in jeder Branche (genauso wie ungehobelte Klötze übrigens). Warum gehört die junge Frau hinter dem Tresen meiner Lieblingsbäckerei zu den Sales Ladys? Ganz einfach: Sie ist aufmerksam, zuvorkommend und überrascht mich immer wieder mit perfektem Service. Sie bietet mir einen heißen Tee an, wenn ich erkältet bin. Sie hat eine Tüte parat, wenn man einen größeren Einkauf hat, und zwar, bevor man danach fragt. Sie hält Kunden die Tür auf, wenn die beide Hände voll haben. Kein Wunder, dass der Laden brummt: Es ist einfach angenehm, dort einzukaufen.

Überlegen Sie bitte einen Moment: Wie viele angenehme Einkaufserlebnisse hatten Sie in der letzten Woche? Im letzten Monat? Im letzten halben Jahr? Wenn Ihnen da gerade gar nichts einfällt, wissen Sie, warum Kunden mehr und mehr ins Internet abwandern. Weil sie keine Lust haben auf Wartezeiten und auf gleichgültige Verkäufer. Oder auf technikkauderwelschende Beratung, mit der ihnen der aktuelle Ladenhüter schmackhaft gemacht werden soll. Oder auf lahme Pseudoberatungen nach dem Muster: »Dieses Produkt wird sehr gerne genommen.« Auf der anderen Seite ist es erstaunlich, wie sehr Kunden auftauen, sobald sie sich persönlich angesprochen fühlen, Respekt und echtes Interesse erfahren. Menschen sind soziale Wesen. Sie suchen und schätzen die persönliche Begegnung. Wenn sie diese vermeiden, stimmt etwas nicht. Das gilt auch im Verkauf.

Solange man frische Brötchen noch nicht kurzfristig übers Internet ordern kann, werden auch Bäckereien mit schlecht gelaunten Verkäuferinnen überleben. Kritisch wird es erst, wenn die Drohne als Brötchenbote zum Alltag zählt, und das kann noch etwas dauern. Anders sieht das aus in Branchen wie Finanzdienstleistung, Reisen oder im Einzelhandel. Der Umsatz über das Internet steigt hier stetig. Das Kölner IfH Institut prognostiziert dem stationären Handel für 2020 gegenüber 2013 ein Umsatzminus von 10 Prozent, während der Online-Umsatz sich bis dahin fast verdreifacht haben wird. »Bis 2025 könnten – je nach Prognose – zwischen 25 und 40 Prozent des Einzelhandelsumsatzes im Non-Food-Bereich webbasiert sein«, warnt auch Sabine Rumscheidt im ifo Schnelldienst (2018). Das gilt auch für andere Bereiche: Schon 2016 schlossen beispielsweise 4,5 Millionen Menschen eine Versicherung über das Internet ab.1 Und in einer Zeit, in der man selbst Beerdigungen im Netz buchen kann, sollte sich niemand mehr in Sicherheit wiegen. Glauben Sie nicht? Dann schauen Sie mal unter www.bestattungen.de/ratgeber/bestattung/online-bestattung.html. Selbst für den letzten Gang gibt es inzwischen Vergleichsportale.

Wenn er etwas, das er bequem vom Sofa aus über das Internet ordern könnte, im persönlichen Gespräch kaufen soll, braucht der Kunde dafür einen guten Grund. Dieser Grund sind Sie als Verkäuferin oder Verkäufer: weil Sie ein komplexes Angebot besser erklären als jede Website oder weil Sie den Verkaufsprozess für den Kunden so angenehm gestalten, dass er dafür gerne das heimische Sofa verlässt. Das gehört nicht unbedingt zu den Kernzielen des Hardsellers, der einer Verkaufsphilosophie folgt, die entstand, als der Haustürverkauf noch das Nonplusultra war und ein Preisvergleich mit drei Klicks am Computer als Science-Fiction belächelt worden wäre. Inzwischen haben natürlich auch die Hardseller verstanden, dass man Kunden nicht nur »anhauen« und »umhauen« kann, sondern dass man zwischendurch ein bisschen zuhören muss. Doch in der Praxis bleibt es häufig bei dünner Tünche über festgefahrenen Gewohnheiten. Wer Kunden wirklich begeistern will, braucht ein neues Verständnis vom Verkauf – das Verständnis eines Sales Gentleman oder einer Sales Lady. Wer diesen Zugang zum Verkauf beherrscht, muss sich um seinen Umsatz keine Sorgen machen. Die Strategien und Praxistipps dazu gibt es in diesem Buch.

Note

Teil I:
Neue Zeiten – Wie Sie verhindern, dass Sie morgen schon von gestern sind

»Es ist nicht die stärkste Spezies die überlebt,

auch nicht die intelligenteste, es ist diejenige,

die sich am ehesten dem Wandel anpassen kann.«

Charles Darwin

Was können Sie, was der Hardseller nicht kann?

Der größte Feind des Verkäufers aus Fleisch und Blut ist nicht das Internet. Sein größter Feind sind schlechte Verkaufsmethoden. Damit schafft sich der Verkäufer sozusagen selbst ab. Für diese Erkenntnis braucht es keine wissenschaftliche Studie – Alltagsbeobachtung und eigene Erfahrungen sprechen eine deutliche Sprache. Hier ein mehr oder weniger willkürlich gewähltes Beispiel aus meiner jüngeren Erfahrung als Kunde:

Wenn Sie so eine Geschichte in einer Runde von Menschen zum Besten geben, ist es wie bei Geschichten über die Deutsche Bahn: Jedem ist etwas Ähnliches, womöglich noch Ärgerlicheres passiert, und man verbringt die nächste halbe Stunde mit unterhaltsamer Jammerei über die Unbilden des Kundendaseins.

Anhauen, umhauen, abhauen? Wie man Kunden vergrault

Folgt man Verkaufsexperten, sollte die plumpe Taktik meines Zahnbürstenspezialisten eigentlich längst ausgestorben sein. Das Gabler Wirtschaftslexikon definiert »Hardselling« als »Form des persönlichen Verkaufs mit dem Ziel, potenzielle Kunden rasch zum Kauf zu bewegen, ohne weiter auf die Interessen des Kunden einzugehen« und warnt zu Recht, dieses Vorgehen könne die »langfristige Kundenbeziehung bzw. Kundenbindung gefährden«.2 Hardselling ist ein Kind der Siebziger- und Achtzigerjahre, in denen die Mangelwirtschaft der Nachkriegszeit allmählich einem großen Angebot an Waren und Dienstleistungen Platz machte. Die aus der Sicht des Anbieters komfortablen Verkäufermärkte verwandelten sich in Käufermärkte, in denen der Kunde die Qual der Wahl hatte. Um Kunden vom eigenen Angebot zu überzeugen, scheut(e) der Hardseller nicht vor zweifelhaften Verkaufstricks zurück: Suggestivfragen, Halbwahrheiten, psychologischer Druck, wie zum Beispiel durch künstliche Verknappung (»Dieses Angebot gilt nur heute!«), gehören zu seinem Repertoire. Der Blick dieses Verkäufers war fest auf den Abschluss gerichtet, im vollen Bewusstsein, dass mancher Kunde seine Entscheidung später bereuen würde. »Anhauen, umhauen, abhauen« wurde zum geflügelten Wort überzeugter Hardseller. Loriot hat dieser Verkäufergruppe mit dem Staubsaugervertreter für den »Heinzelmann«, dem Weinvertreter von Pallgruber & Söhne und einem Versicherungsvermittler, die gemeinsam die arglose Frau Hoppenstedt überrumpeln, ein satirisch überzeichnetes Denkmal gesetzt (»Weihnachten bei den Hoppenstedts«).

Dem Ansehen des Verkaufs haben solche Methoden nachhaltig geschadet. Autoverkäufer beispielsweise halten je nach Studie nur zwei bis 16 Prozent der Deutschen für vertrauenswürdig, berichtete das Magazin Brand eins (Mühlberger 2014). Und »Versicherungsvermittler« führt seit Jahren die Hitliste der unbeliebtesten Berufe an. 2018 sagten 45 Prozent der Befragten, diese Tätigkeit würden sie »auf keinen Fall« ausüben. In einigem Abstand folgten »Politiker« (für 30 Prozent unvorstellbar) oder »Reinigungskraft« (nur für 21 Prozent ein No-Go).3 Lieber putzen gehen als verkaufen? Dass der Verkauf ein derartiges Imageproblem hat, deutet darauf hin, dass die Mehrheit der Kunden auf plumpe Tricks und offensive Überrumpelungsversuche nicht (mehr) hereinfällt. Die Kunden sind heute aufgeklärter und kritischer als noch vor 30 oder 40 Jahren. Der eine oder die andere mag auch durch schlechte Erfahrung klüger geworden sein. Umso erstaunlicher ist es, dass es nach wie vor viele schlechte, zumindest aber desinteressierte und wenig kundenorientierte Verkäufer gibt. Denn das Hardselling ist ja nicht ausgestorben, auch wenn einige seiner Vertreter unter der Überschrift »neues Hardselling« dafür plädieren, stärker auf den Kunden einzugehen. Was steckt dahinter, wenn Verkäufer nach wie vor lernen, wie man Kunden qua »Salamitaktik« zum Kauf drängt (Dem Kunden viele kleine Jas entlocken, damit am Ende nahezu zwangsläufig das große Ja folgt), wie man sie durch Suggestivfragen weichklopft (»Sicher ist Ihnen wichtig, dass für Ihre Familie im Unglücksfall vorgesorgt ist?«) oder wie man sie durch Alternativfragen zur gewünschten Kaufentscheidung bringt (»Soll der Versicherungsschutz am 01.05. oder am 01.06 starten?«, »Wollen Sie das Modell lieber in Rot oder in Blau?«)? Mir fallen da drei Antworten ein:

  • mangelndes Vertrauen in den Kundennutzen des eigenen Angebots,
  • geringes Interesse an Menschen und Unwilligkeit, sich wirklich mit dem Kunden zu beschäftigten,
  • mangelnde Souveränität und kommunikative Unsicherheit, die Zuflucht zu vermeintlich »einfachen« Tricks nehmen lässt.

Wer im »Rahmenlehrplan für Ausbildungsberufe« unter »Kaufmann/Kauffrau im Einzelhandel« nachschaut, den wundert zumindest der letzte Punkt nicht mehr. Das Thema »Verkaufsgespräche kundenorientiert führen« wird dort mit 80 Stunden im ersten Ausbildungsjahr abgehandelt – 80 von insgesamt 880 Stunden.4 Nur 9 Prozent der Ausbildungszeit werden also für die alltägliche Kernaufgabe des Berufs verwendet, und selbst das dort Vermittelte scheint mancher wieder vergessen zu haben, wenn er sich am Ausbildungsende durch Themen wie Lagerwirtschaft oder Personaleinsatz geackert hat. Wer sich nicht für Menschen und ihre Wünsche interessiert, wird sich im Verkauf schwertun. Und wer ein Produkt mit fragwürdigem Kundennutzen vertreibt – die sprichwörtlichen Kühlschränke in Alaska –, sollte sich ernsthaft fragen, ob er seine Lebenszeit am richtigen Platz investiert. Ohne das Beispiel über die Gebühr strapazieren zu wollen: Die begabte Verkäuferin in meiner Lieblingsbäckerei (siehe Einführung) ist dem Hardseller in allen drei Punkten um Längen voraus: Sie steht hinter ihrem Angebot (»Haben Sie schon unseren frischen Zwetschendatschi gesehen?«), sie interessiert sich für Ihr Gegenüber (»Das ist jetzt nicht, was Sie sich vorgestellt haben?«) und sie geht gekonnt mit Kunden um (»Wenn Sie mir eine Minute Zeit geben, belege ich Ihnen gerne eine frische Vollkornsemmel!«). Ich bin überzeugt: Hätte sie ihr Lebensweg statt hinter die Theke einer Bäckerei in die IT-Beratung oder in den B2B-Vertrieb von Backautomaten geführt, wäre sie ähnlich erfolgreich. Und auch dort würde sie Kundentreue statt Kaufreue bewirken.

Verkaufen heißt verkaufen? Wie man austauschbar wird

Traditionelles Hardselling ist abschlussfixiert: Hauptsache, der Kunde hat gekauft, nach mir die Sintflut. Auch die weichere »neue« Variante des Hardselling betont den Abschluss: Der sei schließlich der eigentliche Zweck des Verkaufs und werde in anderen Verkaufsphilosophien häufig vergessen. Beratung sei ja gut und schön, aber am Ende zähle der Verkaufserfolg. Ich halte diese Gegenüberstellung von abschlussorientierten (alten wie neuen) Hardsellern und abschlussvernachlässigenden Beratungsverkäufern für künstlich. Jeder, der im Verkauf oder Vertrieb tätig ist, möchte am Ende erfolgreich verkaufen. Fehlt diese Motivation, wird er sich bald einen neuen Job suchen müssen. Die entscheidende Frage ist vielmehr: Was stelle ich als Verkäufer in den Mittelpunkt? Richte ich meine Aufmerksamkeit auf meine eigene Zielsetzung oder richte ich sie vor allem auf den Kunden, der mir gerade gegenübersitzt? Ziehe ich »mein Ding« durch, wenn auch höflich und auf der Basis einiger Fragen an den Kunden? Oder schaffe ich etwas, das uns selbst im Privatleben eher selten gelingt: eigene Urteile, Wertungen und Interessen erst einmal zurückzustellen und mich mit echtem Interesse auf den anderen zu einzulassen?

Kommt Ihnen das bekannt vor? Sie sitzen abends mit Bekannten oder Freunden zusammen. Irgendwer fragt: »Und, wie war’s im Urlaub?« Kaum haben Sie gesagt: »Ich war ja auf Saint Lucia, eine tolle Insel!«, meint der Erste: »Da war ich auch mal! Da muss man unbedingt den Nationalpark XY besuchen. Und unser Hotel – sensationell!« Der Zweite erzählt, dass er lieber Campen geht, weil die Hotels ja doch überall gleich sind, und vom Dritten erfahren Sie, dass er den Tropen nichts abgewinnen kann, weil er die Hitze nicht verträgt. Daraufhin erklärt Nummer eins, wie er selbst es mit tropischen Temperaturen hält und wie gut es gegen den Winterblues hilft, um die Weihnachtszeit richtig Sonne zu tanken. Und so weiter, und so fort. Sollten Sie tatsächlich auf die Ausgangsfrage zurückkommen und von Ihren Urlaubserlebnissen erzählen (»Tolle Natur, die Vegetation ist unglaublich«), bleiben Sie nicht selten wieder nur Stichwortgeber und erfahren, was die anderen über Palmen und Co. denken. Bis zu einem gewissen Grad sind wir alle Egozentriker, die einen mehr, die anderen weniger. Gleichzeitig (und eben deswegen) sind wir mehr als angetan, wenn sich jemand wirklich einmal auf uns konzentriert und eigene Sichtweisen für einen Moment beiseitelässt. Das ist ziemlich einzigartig, und da liegt ein Schlüssel für große Verkaufserfolge.

Wer nach der Maxime »Verkaufen heißt verkaufen« vor allem den baldigen Abschluss im Blick hat, riskiert, seinen Kunden ebenfalls zum Stichwortgeber zu degradieren. Dieser Verkäufer fragt pflichtschuldig Zahlen, Daten, Fakten ab, steuert dann aber möglichst schnell wieder auf das sicherere Gleis eigener Verkaufs- und Nutzenargumente. Das führt dazu, dass die meisten von uns als Kunden gelegentlich wirklich schlechte Verkaufserlebnisse haben (siehe Zahnbürste) und eine größere Zahl von Verkaufsgesprächen, die »irgendwie okay« und nicht weiter erwähnenswert sind. Selten bis fast nie jedoch treffen wir auf einen Verkäufer, der uns positiv überrascht und sich im Gedächtnis festhakt. Und so kommt es, dass selbst da, wo Verkäufer regelmäßig geschult werden, häufig die besondere Note fehlt, das Quäntchen mehr, das Kunden eben deshalb kaufen lässt, weil die Verkaufsabsicht nicht in jeder Zeile durchschimmert und weil der Verkäufer einen besonderen, an seine Person geknüpften Mehrwert bietet: echte Kundenorientierung, nicht nur das Lippenbekenntnis dazu. Denn das zeichnet einen Sales Gentleman oder eine Sales Lady unter anderem aus: sich nicht selbst in den Vordergrund zu drängen, sondern dem anderen Raum geben zu können. Ein guter erster Indikator dafür, ob ein Verkäufer sich wirklich auf den Kunden konzentriert und ihn in seiner Individualität anspricht, sind übrigens Redeanteile: Wenn ein Verkäufer mehr als die Hälfte der Redezeit im Verkaufsgespräch für sich beansprucht, ist er vermutlich auf dem üblichen »Verkaufen heißt Verkaufen«-Gleis unterwegs. Wie ist das eigentlich bei Ihnen?

Scheuklappen: Zielgruppe statt Individuum

Interessiert es Sie, wie ich die teuerste Mercedes S-Klasse meiner Laufbahn verkaufte? Das war eigentlich ganz einfach. »Eigentlich«, weil es einen kleinen entscheidenden Unterschied zu den übrigen Verkäufern gab.

Ich gebe es ungern zu, aber gerade in Autohäusern hat man als Kunde offenbar besonders schlechte Karten, wenn das eigene Outfit und Auftreten nicht haargenau dem Bild entsprechen, das man sich dort von seinem typischen Kunden zurechtgezimmert hat. Wer sich in Freizeitkleidung für die gehobene Mittelklasse oder gar Oberklasse interessiert, erlebt mitunter Merkwürdiges. Und vom Cowboylook reden wir da noch gar nicht. Manchmal wäre es gut, sich zu erinnern, dass einer der reichsten Männer auf diesem Planeten, Mark Zuckerberg, mit Vorliebe schlechtsitzende graue T-Shirts trägt, die aussehen wie vom Grabbeltisch eines Textildiscounters. Zuckerbergs Vermögen wird auf knapp 60 Milliarden geschätzt, 2018 belegte er Platz 6 der jährlichen Forbes-Liste der Superreichen.5 Wie hätten Sie Zuckerberg behandelt, wenn sein Foto nicht allgegenwärtig wäre und wenn er Ihren Laden als völlig Unbekannter betreten hätte?

Traditionell werden Zielgruppen bei Marktanalysen nach demografischen Faktoren wie Alter, Geschlecht, Familienstand und sozioökonomischen Merkmalen wie Einkommen und Beruf beschrieben. In den letzten Jahrzehnten sind weichere psychografische Kriterien (etwa Lebensstil, Werte und Einstellungen) hinzugekommen. Dabei bekannte das renommierte Rheingold Institut für Marktforschung schon vor etlichen Jahren Und:

Das Phänomen der Kundenvergraulung durch Zielgruppenverschätzung ist nicht auf den Automobilhandel beschränkt. In den Nobelboutiquen der teuersten Einkaufsmeilen beispielsweise oder in besonders angesagten Restaurants kann man Ähnliches erleben. Und auch in der Finanzdienstleistung zahlt es sich aus, unterschiedslos – und damit meine ich wirklich unterschiedslos! – zu jedem Kunden gleichermaßen höflich zu sein und sein Bestes zu geben. Ein eindrucksvolles Beispiel verdanke ich Hagen Grasemann, der selbstständiger Finanzberater einer großen deutschen Bank ist. Die Situation einer Schadensaufnahme beim Kunden an einem glutheißen Freitagnachmittag kann man nicht besser beschreiben als mit seinen Worten: »Herr Lehmann. Kurze rote DDR-Unterhosen, ein weißes Unterziehhemd in die Unterhose gesteckt, 190 cm groß, Bierbauch, Zigarette in der linken Hand, mit der rechten Hand am Türrahmen nach oben abgestützt.« Herr Grasemann lässt sich weder davon noch von der Bierflasche auf dem Couchtisch oder von der hanebüchenen Schilderung einer Diskothekenschlägerei von Lehmann Junior aus der Ruhe bringen. Nachdem dieser Vorgang abgeschlossen ist, mustert der Kunde ihn eindringlich, bevor er die beiden erwachsenen Kinder dazu holt, eben den Raufbold und später die Tochter. Beide erkundigen sich gezielt nach Unfall- und Berufsunfähigkeitsversicherungen. Der Nachmittag endet mit dem Abschluss von vier (!) grundsoliden Verträgen, die Herr Grasemann bis heute in seinem Bestand führt (vgl. Künzl 2014, S. 67ff.). Was zeigt uns das? Der erste Eindruck mag oft zutreffen. Er kann sich aber ebenso gut als Trugbild erweisen. Ein Sales Gentleman bleibt sich und seinen Ansprüchen an die eigene Professionalität deshalb treu und dosiert Höflichkeit und persönlichen Einsatz nicht danach, wer ihm gerade gegenübersitzt. Mit anderen Worten: Er verhält sich ganz ähnlich wie ein echter Gentleman, der einer Frau nicht nur dann die Tür aufhalten würde, wenn sie hübsch und unter 30 ist.

Zugegeben: Wir alle haben Kunden-Stereotypen im Kopf, sei es als gewonnene Erfahrungswerte, sei es durch offiziell propagierte Kundenkonzepte, die auf mehr oder weniger wackeligen Marktforschungsdaten basieren. Ob wir es diesen Stereotypen erlauben, die Regie über unser Denken zu übernehmen, oder ob wir uns unvoreingenommen auf Kunden einlassen – das haben wir selbst in der Hand. Das gilt übrigens auch für die verschiedenen Persönlichkeitsmodelle, mit denen auch im Verkauf häufig operiert wird, ob sie nun DISG, Structogram oder Reiss-Profile (Motivanalyse) heißen. All diese Modelle können zweifellos Ihren Blick für Menschen schärfen und Bewusstsein dafür schaffen, dass nicht jeder so tickt wie man selbst. Dann sind sie wertvoll und hilfreich. Doch wenn man statt des Kunden, der vor einem sitzt, nur noch einen »roten« (dominanten), »blauen« (gewissenhaften) oder »grünen« (harmonieorientierten) Typ wahrnimmt, liefern auch diese Modelle nur Scheuklappen.