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Integrale Brücken

Entwurf, Berechnung, Ausführung, Monitoring

Roman Geier

Volkhard Angelmaier

Carl-Alexander Graubner

Jaroslav Kohoutek

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Vorwort

Seit etwa 15 Jahren sind in der D-A-CH-Region (Deutschland – Österreich – Schweiz) Rahmenbauwerke – sogenannte integrale Brücken – stärker in den Fokus von Bauherren, Planern, Prüfern und ausführenden Firmen gerückt. Folglich waren in den Normungs- und Fachausschüssen der einzelnen Länder vermehrte Aktivitäten zu verzeichnen, um für die integrale Bauweise abgesicherte Grundlagen und Regelwerke zur Verfügung stellen zu können, welche zu einer weiteren Verbreitung und Anwendung dieses Brückentyps führen sollten.

Im Zuge des internationalen Austausches dieser Arbeitsausschüsse zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz hat sich im Jahr 2011 auf Anregung des Verlags Ernst & Sohn eine internationale Gruppe von Ingenieuren formiert. Die Gemeinsamkeit dieser Personen bestand neben maßgebenden Rollen in den jeweiligen nationalen Arbeitsausschüssen darin, dass in ihrem beruflichen Wirken der integralen Bauweise sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde, da sie in der Bauweise großes Zukunftspotenzial erkennen konnten. Ziel der Verfasser war es daher, den integralen Brücken ein eigenes Fachbuch zu widmen, mit dem die bisher vorliegenden Erfahrungswerte zusammenfassend für die Ingenieurgemeinschaft aufbereitet werden sollten.

In der Konzeptphase des vorliegenden Buches war auch Prof. Dr.-Ing. Michael Pötzl Teil der Gruppe, der sich bereits in den 1990er-Jahren intensiv mit diesem Brückentyp befasste und zahlreiche, heute gebräuchliche Grundlagen erforschte und Denkansätze publizierte. Leider ist er kurz vor Fertigstellung dieses Buches im Juni 2016 unerwartet verstorben. Die integrale Bauweise hat dadurch einen sehr starken Fürsprecher verloren.

Gerade die integrale Bauweise bietet eine Vielzahl von Ansätzen, Gestaltung und Funktion in Einklang zu bringen und der Nachwelt außergewöhnliche und dauerhafte Bauwerke zu hinterlassen. Dieses Buch soll daher den praktizierenden Ingenieuren einen Denkanstoß bieten, um künftig innovative, dauerhafte und ästhetisch ansprechende Bauwerke zu entwerfen.

 

Wien, im Januar 2017
Dr.-Ing. Roman Geier

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Einführung

Die Entwicklung im Brückenbau hat durch den Einsatz neuer Berechnungs- und Baumethoden sowie neuer Werkstoffe zu architektonisch ansprechenden Bauwerken geführt, die durch schlankere und leichtere Konstruktionen sowie größere Stützweiten gekennzeichnet sind. Dieser Fortschritt ist für alle Betrachter eindeutig erkennbar. Andere Innovationen finden hingegen häufig im Verborgenen statt, beeinflussen die Technologie des Brückenbaus jedoch ebenso entscheidend.

Eine solche Innovation ist beispielsweise die Weiterentwicklung der integralen Bauweise im Brückenbau, welche auf Fugen zwischen Überbau und Unterbauten verzichtet. Im deutschen Sprachgebrauch wurden derartige Bauwerke ursprünglich als Rahmentragwerke bezeichnet. Bei kurzen Brückenlängen stoßen solche Systeme auf sehr große Akzeptanz und finden verbreitet Anwendung, da ausreichende Erfahrungswerte aus Planung, Ausführung und Erhaltung vorliegen. Größere Tragwerkslängen werden hingegen immer noch eher in Einzelfällen ausgeführt.

Die Bezeichnung „integrale Brücken“ anstelle von Rahmenbrücken wurde mit der vermehrten Anwendung dieses Brückentyps und dem Einsatz bei größeren Tragwerkslängen aus der englischen Bezeichnung „integral bridges“ in den deutschen Sprachgebrauch übernommen. Wörtlich übersetzt ist darunter unter anderem „aus einem Stück“ bzw. „fest eingebaut“ zu verstehen. Der Ursprung dieser Bezeichnung stammt aus dem Lateinischen und ist auf das Adjektiv „integralis“ mit der Bedeutung „lückenlos, komplett, vollständig“ und das Verb „tangere“ mit der Bedeutung „sich berühren“ zurückzuführen. Bei integralen Brücken bilden Unterbau und Überbau eine monolithische Einheit – sie berühren sich also lückenlos.

Integrale Brücken sind im letzten Jahrzehnt auf stetig wachsendes Interesse seitens der Bauwerkseigner gestoßen. Durch die Berücksichtigung der Lebenszykluskosten als wesentliches Entscheidungskriterium beim Entwurf eines Bauwerks müssen neben den Errichtungskosten insbesondere die Aufwände für die Instandhaltung, also für Wartung, Prüfung und Instandsetzungen, berücksichtigt werden. Erfahrungswerte der für die Bauwerkserhaltung zuständigen Fachleute zeigen, dass über den Lebenszyklus von 80 bis 100 Jahren für die laufende Instandhaltung mindestens die Herstellungskosten anfallen, d. h. diese in einer jährlichen Größenordnung von rund 1 bis 2 % der Herstellkosten liegen. Eine Verringerung dieser Ausgaben über die Lebenszeit hat daher eine sehr hohe Priorität. Ein großer Teil dieser Kosten ist auf Fugen bzw. auf Folgeschäden von über Fugen in das Bauwerk eindringendes Wasser zurückzuführen. Lager selbst sind zwar nicht so häufig die primäre Ursache für hohe Instandsetzungskosten, jedoch erfordern diese Bauteile bei Wartung und regelmäßiger Prüfung entsprechende Aufmerksamkeit und Sorgfalt, um die Gebrauchstauglichkeit, Dauerhaftigkeit und Tragfähigkeit über die Nutzungsdauer gewährleisten zu können.

Das grundlegende Prinzip der integralen Bauweise im Brückenbau ist nicht neu, sondern kann auf eine lange Geschichte verweisen. Auch die Natur hat Bauwerke hervorgebracht, die als Vorbild moderner Konstruktionen gelten und über die Bionik gezielt herangezogen werden könnten, um Phänomene der Natur auf unsere Bauwerke zu übertragen. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise der Landscape Arch im Arches National Park (Nevada, USA) anzuführen (Bild 1.1). Es handelt sich dabei um eine monolithische Struktur mit einer Stützweite von 93 m und im Aufriss leichter, bogenförmiger Krümmung. Betrachtet man diesen Steinbogen als ein von der Natur geschaffenes Bauwerk, so wirkt dieses ausgewogen und sehr ästhetisch.

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Bild 1.1 Landscape Arch mit einer Stützweite von 93 m

Natürlich kann man dieses Steinbauwerk nicht mit unseren modernen Brückenbauten vergleichen, dennoch sind einige Aspekte auch auf unsere Entwürfe übertragbar. Ein in Feldmitte schlanker Überbau mit geringem Eigengewicht, dessen „Bauhöhe“ in Richtung der Einspannung zunimmt. Bei unseren Tragwerken wird dies im Rahmeneck durch Vouten ebenfalls so realisiert. Im Aufriss weist das Tragwerk eine leichte Krümmung auf und kann so – in Kombination mit dem schlanken Überbau – Längenänderungen aufgrund von Temperaturschwankungen durch Anheben und Absenken des Überbaus zwängungsarm kompensieren.

Weitere Anleihen sind bei römischen Bauwerken der Antike möglich, die inzwischen ein Alter von mehr als 2000 Jahren aufweisen und teilweise immer noch voll funktionstüchtig sind bzw. sogar noch unter ständiger Nutzung stehen. Ausgeführte Bauwerke wie beispielsweise das Aquädukt von Segovia mit einer Länge von 813 m (Bild 1.2) oder zahlreiche andere noch bestehende Konstruktionen, die ohne Brückenlager und Fahrbahnübergangskonstruktionen auskommen, sind eindrucksvolle Nachweise für die Dauerhaftigkeit der monolithischen Bauweise. Das Tragverhalten dieser Bauwerke, die zumeist aus einzelnen, behauenen Steinblöcken bestehen und zwischen den einzelnen Steinen Fugen aufweisen, ist ebenfalls nicht direkt mit der modernen Vorstellung monolithischer Bauwerke vergleichbar. Doch beweisen diese Brücken über ihre Lebenszeit eindrucksvoll, wie dauerhaft und robust unsere Konstruktionen sein könnten, wenn empfindliche Bauwerksteile wie Fugen und Lager vermieden werden. Wird eine fein verteilte Rissbildung eines Stahlbetonüberbaus jedoch gezielt eingesetzt, kombiniert mit zahlreichen kurzen Stützweiten, kann das Tragverhalten dieser alten Steinbrücken auch auf unsere heutigen Bauwerke übertragen werden.

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Bild 1.2 Aquädukt von Segovia in Spanien

Mit der industriellen Revolution in Europa und der zunehmenden Mobilisierung von Personen und Gütern, insbesondere durch die Eisenbahn, ist auch der Bedarf an ausgebauten Verkehrswegen sehr stark angestiegen. Dies hat unter anderem dazu geführt, dass große Fortschritte im Brückenbau erzielt wurden und viele berühmte Bauwerke auf diese Epoche zurückzuführen sind. Ein großer Teil der Brücken bestand aus sogenanntem Puddeleisen (Schmiedeeisen aus dem Puddelofen) – einem Vorläufer von Stahl, doch wurden in dieser Zeit auch weiterhin große Steinbrücken errichtet. Ein solches Tragwerk ist die im sächsischen Vogtlandkreis bestehende Göltzschtalbrücke, die im Zuge der Eisenbahnstrecke zwischen Leipzig und Hof in den Jahren 1846 bis 1851 errichtet wurde. Es handelt sich dabei um die weltweit größte Ziegelbrücke mit einer Länge von 574 m, bestehend aus 29 Einzelbögen (Bild 1.3). Durch die vermörtelten Ziegelsteine hat das Tragwerk keine Fugen und weist auch keine Lager in den beiden Widerlagerachsen auf. Es handelt sich somit um eine integrale Brücke, die inzwischen seit mehr als 150 Jahren unter Verkehr steht.

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Bild 1.3 Göltzschtalbrücke

Im Zuge des Autobahnbaus in Deutschland in den 1930er-Jahren entstanden auch einige Brücken, die aus Beton und Steinblöcken vollständig monolithisch hergestellt wurden. Eines der größten Tragwerke dieser Art ist die in den Jahren 1937 bis 1939 errichtete Autobahnbrücke über die Saale in Göschwitz, welche die BAB A 4 zwischen Frankfurt am Main und Dresden überführt (Bild 1.4). Das Tragwerk weist eine Länge von 784 m auf und es wurden 95.000 m3 Beton und 46.000 t Steine verbaut [1].

Integrale Brücken in Form einfacher Rahmentragwerke wurden seit Beginn des Stahlbetonbaus ausgeführt. Die lichten Weiten der Tragwerke waren naturgemäß beschränkt und lagen etwa im Bereich von bis zu 15 m. Im Zuge des Ausbaus des deutschen Autobahnnetzes in den 1930er-Jahren wurde versucht, bei Überführungsbauwerken ohne Mittelstützen zwischen den Richtungsfahrbahnen auszukommen, wodurch fallweise Stützweiten von 25 m in Rahmenbauweise erreicht wurden.

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Bild 1.4 Autobahnbrücke über die Saale bei Göschwitz (Foto: Thorsten Grödel)

Da ab den 1940er-Jahren die Spannbetonbauweise vermehrt zur Anwendung kam und insbesondere im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg flächendeckend eingesetzt wurde, ist die monolithische Bauweise von der Forderung einer möglichst zwängungsfreien Lagerung des Überbaus stark in den Hintergrund gedrängt worden. Obwohl sich damit einhergehend die Grundregeln des Spannbetonbaus mit der Notwendigkeit von Längenänderungen in Lehre und Praxis etabliert hatten, wurden auch in dieser Zeit weiterhin fugen- und lagerlose Brücken errichtet. Diesbezüglich ist die zwischen 1955 und 1956 im Zuge der B 145 gebaute Traunbrücke in Ebensee, Österreich, anzuführen. Es handelt sich dabei um ein vorgespanntes Einfeldtragwerk ohne Fugen und Lager mit einer Stützweite von 72,0 m, einer Bauhöhe von 1,20 m in Feldmitte und der daraus resultierender Schlankheit von 60 (Bild 1.5). In der Vergangenheit durchgeführte Instandsetzungsarbeiten haben das Tragsystem der Brücke nicht betroffen und das Objekt wurde bis 2016 ohne Einschränkungen für den Verkehr genutzt. Die steigenden Lasten und sonstigen Anforderungen an das Tragwerk führten jedoch dazu, dass die Brücke aktuell durch einen Neubau ersetzt wird.

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Bild 1.5 Traunbrücke in Ebensee, Längsschnitt und Querschnitte

In den letzten Jahrzehnten sind zahlreiche besonders gelungene Bauwerke in integraler Bauweise entstanden, bei denen Form und Funktion hervorragend in Einklang gebracht und durch die neue Perspektiven im Brückenbau eröffnet wurden. Um die Möglichkeiten integraler Brücken künftig besser nutzen zu können, wird aber auch ein Umdenken der Bauingenieure erforderlich sein, da in der Praxis häufig noch Vorbehalte gegen diese Bauweise bestehen. So wird beispielsweise in Standardwerken des Spannbetonbaus – wie den Büchern von Leonhardt [2] – unter seinen „10 Geboten für den Spannbeton-Ingenieur“ für den Entwurf an oberster Stelle folgender Grundsatz definiert: „Vorspannen bedeutet Zusammendrücken des Betons. Druck entsteht nur dort, wo Verkürzung möglich ist. Sorge dafür, dass sich Dein Bauwerk in der Spannrichtung verkürzen kann.“ Der Entwurf und die Bemessung integraler Bauwerke stehen in einem diametralen Gegensatz zu dieser grundlegenden Forderung. Im Bauwerk können Zwangsschnittkräfte entstehen, die bei der Bemessung berücksichtigt werden müssen. Hinzu kommt, dass in den meisten europäischen Ländern keine fertigen Regelwerke bzw. keine ausreichenden Langzeiterfahrungen bei größeren Tragwerkslängen vorliegen. Gerade in der Ausbildung sollte daher verständlicher vermittelt werden, welche Reaktionen Zwangsbeanspruchungen im Tragwerk hervorrufen und in welchen Fällen – auch bei längeren Bauwerken – auf eine vollständig zwängungsfreie Lagerung des Überbaus verzichtet werden kann.

Das vorliegende Buch soll dazu beitragen, der integralen Bauweise im Brückenbau weiteren Zuspruch zu verleihen und über die gezeigten Zusammenhänge die Kreativität der Bauingenieure zu neuen Lösungen anzuspornen. In diesem Kontext werden gestalterische Aspekte angesprochen und Besonderheiten bei Entwurf und Bemessung sowie Konstruktionsdetails und Fragen der Bauwerkserhaltung behandelt. Zusätzlich bietet auch die beschriebene Umrüstung bestehender Tragwerke in integrale Brücken ein sehr interessantes und wirtschaftlich äußerst sinnvolles Anwendungsgebiet.