Der Autor

Patrick Lencioni ist Gründer und President von The Table Group, einer Managementberatung, die sich auf Teamentwicklung von Vorständen und vergleichbaren Leitungsgremien sowie auf die Gesundheit von Organisationen spezialisiert hat. Als Consultant und Vortragsredner ist Lencioni Tausenden hochrangigen Führungskräften begegnet, die ihrerseits vom Fortune500-Giganten über Hightech-Garagenfirmen und Universitäten bis hin zu gemeinnützigen Institutionen in ganz unterschiedlichen Organisationen gearbeitet haben. Zu seinen Klienten zählen unter anderem New York Life, Southwest Airlines, Sam’s Club, Microsoft, Allstate, Visa, FedEx und die Militärakademie Westpoint, um nur einige zu nennen. Lencioni hat fünf weithin beachtete Bücher geschrieben, darunter The Five Dysfunctions of a Team (Jossey-Bass 2002; laut New York Times ein Bestseller; im Deutschen: Die 5 Dysfunktionen eines Teams.

Patrick Lencioni lebt mit seiner Frau Laura und ihren vier Söhnen Matthew, Connor, Casey und Michael in der Umgebung von San Francisco.

Mehr über Patrick Lencioni und The Table Group können Sie unter www.tablegroup.com erfahren.

Der Schock

Brian Bailey ahnte nichts.

Nach 17 Jahren im Dienst von JMJ Fitness Machines wäre er nie auf die Idee gekommen, dass er innerhalb von 19 Tagen als CEO abserviert würde. 19 Tage!

Aber so war es. Und obwohl er finanziell besser abgesichert war als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in seinem Leben, fühlte er sich so vollkommen desorientiert, als wäre er aus dem College geflogen.

Und es würde noch viel schlimmer kommen, bevor es wieder aufwärts ging.

Ideensuche

Die nächsten Tage fuhren Brian und Leslie stundenlang durch die Weinberge und überlegten, wie sie ab jetzt leben wollten.

Peu à peu kristallisierte sich heraus, was sie nicht wollten: Weder ein Boot noch ein Wohnmobil noch ein Flugzeug würden sie kaufen. So gern sie draußen in der Natur waren, sie waren weder echte Abenteurer noch Nomaden. Sie wollten ganz normal wohnen.

Leslie schlug schließlich vor, ein nettes kleines Häuschen in den Bergen rund um Lake Tahoe zu suchen. Dort könnten sie im Winter Ski fahren und im Sommer paddeln oder Golf spielen. All diese Tätigkeiten hatten ihnen viel Spaß gemacht, bevor die Kinder kamen. Sie musste nicht lange auf Brian einreden. Er sprach seit fünf Jahren davon, wie gern er sich mal wieder auf der Piste austoben würde, und außerhalb der Hochsaison zu angeln und den Schläger auf dem Green zu schwingen war ein verlockender Gedanke.

»Das machen wir«, verkündete er lächelnd. »Wer braucht schon ein Hamsterrad?«

Ich, das wäre für Brian die richtige Antwort gewesen. Es sollte nicht so arg lange dauern, bis er sich darüber klar wurde.

Kopfüber

Mit frischer Energie fuhr das Paar in der nächsten Woche kreuz und quer durch die Berge und suchte nach einem Domizil. Die Wahl fiel schließlich auf ein bescheidenes, modernes Blockhaus am Südufer des Lake Tahoe, das bereits in Nevada lag. Keine zwei Wochen später, nur gut einen Monat nach dem »Napa-Gespräch«, wie sie es intern nannten, zogen sie um und richteten sich im neuen Zuhause ein.

Brian war aufgeregter, als er es erwartet hatte. Er genoss es, den Kindern und Freunden von der neuen Hütte zu erzählen, von dem Blick auf die Pisten des Heavenly Ski Resort und das Seeufer. Er versuchte, es ihnen schmackhaft zu machen.

»Wenn ihr uns besucht, können wir je nach Jahreszeit auf den Hängen Ski fahren oder die Angel in den Lake Tahoe hängen, und alles zwölf Gehminuten von der Haustür entfernt.«

Als der erste Schneesturm im November kam, begann für Brian und Leslie die erste Skisaison – die sich als kurze, schmerzhafte Erfahrung entpuppen sollte.

Außer Gefecht

Brian war für einen 53-Jährigen gut in Form – immerhin hatte er über 15 Jahre lang ein Unternehmen geleitet, das zur Fitnessindustrie gehört. Doch man kann noch so viel auf dem Fahrrad oder dem Stepper üben, das reicht nicht, um aus dem Stand täglich acht Stunden Ski zu fahren.

Nach drei Tagen auf den verschneiten Hängen war Brian reif für einen Unfall. Er gewann zwar rasch an Sicherheit und wurde zusehends fitter, aber er war auch ziemlich erschöpft und müde. Bei der letzten Abfahrt am vierten Tag stellte er überrascht fest, dass er praktisch allein auf der Piste war. Brian fand, eine solche Gelegenheit dürfe man nicht ungenutzt verstreichen lassen. Statt in gemächlichen Schwüngen über den Schnee zu gleiten, entschied er sich für die vereiste Slalomstrecke, die für kleinere Wettrennen genutzt wurde.

Auf halbem Weg schmerzte jeder Muskel in seinen Beinen, und er hatte Mühe, sich aufrecht zu halten, während er um die Fähnchen kurvte. Im Rückblick wurde ihm klar, dass er spätestens zu diesem Zeitpunkt einfach auf die normale Piste zurückkehren und sich alle Zeit der Welt hätte nehmen sollen. Aber das Café oben am Berg war rappelvoll, und alle sahen ihm über ihrer Tasse Schokolade bei seinem privaten Olympiatraining zu. Ihn packte der Ehrgeiz.

Zwischen dem vorletzten und dem letzten Fähnchen rutschte ihm der rechte Ski weg, und das setzte eine Kettenreaktion von Ausgleichsbewegungen in Gang, die in einem extrem uneleganten Sturz endete. Bevor Brian wusste, wie ihm geschah, raste er mit dem Kopf voran den Berg hinunter, ein Ski noch immer am Fuß, ohne Stöcke und mit einer Skibrille, die sich quer zu seinem Gesicht verdreht hatte.

Und sein Knie stand in Flammen.

Hüttenfieber

Als die Ärzte ihren Job getan hatten und Brian auf Krücken aus dem Krankenhaus humpelte, war er zunächst erleichtert, dass er ohne Operation und bleibende Schäden davongekommen war. Aber das Bein musste für mehrere Wochen still gehalten werden, für ihn war die Skisaison vorbei. Und das machte ihm Sorgen. Nicht so sehr, weil ihm das Skifahren fehlen würde. Es würde ihm zwar fehlen, aber das konnte er verschmerzen. Er konnte sich auch durchaus beschäftigen, ein ganzer Stapel Bücher wartete darauf, gelesen zu werden, und die Ruhe würde ihm guttun, da war sich Brian ziemlich sicher. Aber die vielen Mußestunden würden ihn dazu verführen, an die Arbeit zu denken.

Davor hatte er Angst.

Zwei Wochen gab sich Brian alle Mühe, sich abzulenken und zufrieden zu sein.

Leslies Anwesenheit rettete ihn. Das Paar konnte sich zum ersten Mal, seit ihr Erstgeborener auf die Welt gekommen war, wieder ausführlich unterhalten, Filme anschauen und Zeit miteinander verbringen.

Aber nach einiger Zeit rutschte Brian trotzdem in eine leichte Depression ab. Zunächst schrieb er es dem Mangel an körperlicher Bewegung zu. Er hatte es nie übertrieben, war aber doch an regelmäßiges Training gewöhnt. Es war das erste Mal seit sehr langer Zeit, dass er über einen längeren Zeitraum Ruhe halten musste.

Und dann dieses Wetter! Es schneite so viel wie seit 50 Jahren nicht mehr, und die Schneemassen fesselten den Ex-Unternehmensführer ans Haus. Tagelang konnte er seine Nase höchstens für eine Viertelstunde aus dem Fenster stecken, das wars dann mit der frischen Luft ...

Brian fand nach einiger Zeit für sich die ironische Formel, sein größtes Problem sei das Bedürfnis, ein Problem zu haben. Ersehnte sich nach einer Herausforderung, nach einer beruflichen Herausforderung, wohlgemerkt.

Leslie hätte nicht mitgezogen, wenn er wieder in die Bay Area und ins Geschäftsleben zurückgewollt hätte. Das wusste er, und er gab ihr recht. Trotzdem brauchte er eine Beschäftigung, denn ohne würde er durchdrehen. Er kam sich vor wie ein Gefangener, auch wenn sein Häuschen keinerlei Ähnlichkeit mit dem Knast hatte. »Aber Knast bleibt Knast, auch wenn er mit Satelliten-TV und Panoramablick über den Lake Tahoe ausgestattet ist«, erklärte er Leslie.

Heimaturlaub

Am ersten Tag ohne Krücken klarte das Wetter plötzlich auf. Brian und Leslie nutzten die Chance, setzten sich ins Auto und fuhren eine große Spazierrunde. Auf der zweiten Schleife um den See beschlossen sie, sich fürs Abendessen etwas mitzunehmen, und wie immer setzte sich Leslie mit ihren Wünschen durch: Italienisch sollte es sein – eine Entscheidung, die sie bald bereuen sollte.

Sie fuhren bei Gene and Joe’s vorbei, einer kleinen Pizzeria, die einige Ausfahrten vor ihrer Hütte am Highway lag. Leslie rief von unterwegs an, damit sie das Essen nur noch abholen mussten. Sie hatten dort schon mehrfach Pizza und Pasta bestellt, das Lokal selbst kannten sie aber noch nicht. Es hatte offenbar nur am Abend geöffnet.

Das Gebäude war mit weißem Stuck verziert und besaß ein spanisch anmutendes Ziegeldach. Die Fassade war mit gemalten Reben und italienischen Flaggen verziert, was dem Ganzen einen altertümlichen Touch verlieh. Aber das Essen war gut, Brian und Leslie hatten schon immer ordentliche Portionen einem überkandidelten Foodstyling vorgezogen, bei dem man hungrig nach Hause fährt.

Als sie ihren Explorer, Baujahr 1993, auf dem Parkplatz abstellen wollten, sahen sie ein Drive-through-Fenster. So etwas hatten sie bei einem Italiener noch nie gesehen und beschlossen, es auf einen Versuch ankommen zu lassen.

Sie warteten einen Moment vergeblich vor dem Fenster. Brian lugte durch die Scheibe, das Restaurant war fast leer. Es war natürlich zu früh, der eigentliche Ansturm hungriger Skiläufer konnte erst gegen Abend einsetzen.

»Das erinnert mich an meinen ersten Ferienjob in der Highschool-Zeit.« In Brians Stimme schwangen zu gleichen Teilen Nostalgie und Klage mit.

»Mr. Hamburger?«

»Captain Hamburger«, korrigierte Brian.

»Muss eine ziemliche Spelunke gewesen sein.«

»Schon, aber da ging richtig die Post ab.«

»Bist du nicht einmal ausgeraubt worden?«

»Zweimal. Deswegen habe ich ja gekündigt und einen Job in der Frühschicht bei einer Kartoffelchips-Fabrik angefangen. Was schlimmer ist, als es klingt.«

Leslie kannte den Witz, kicherte aber trotzdem.

Brian fuhr fort: »Das war ein trauriger langer Sommer.«

»Aber er hatte sein Gutes.«

Brian legte die Stirn in Falten, und seine Frau erklärte: »Dadurch hast du angefangen, bei Carrows zu kellnern, und das war der beste Job, den du je hattest, da hast du nämlich mich kennengelernt.«

Brian dachte ein wenig nach. »Nein«, sagte er dann, »der bei Captain Hamburger war besser.«

Leslie boxte ihn in die Seite, aber dann wurden sie aus ihren Erinnerungen gerissen. Endlich kam jemand ans Fenster, um sie zu bedienen.

Es war zu Brians Überraschung kein junger Kerl, sondern ein Mann in mittleren Jahren, mit einem Ehering am Finger und einem Tattoo auf dem Unterarm. Auf seinem T-Shirt prangten die Bilder zweier Kahlköpfe, die wohl Gene und Joe darstellen sollten, denn ringsum lief eine rot-grüne Inschrift: »Pizza & Pasta: Here, there, everywhere!«

Warum macht ein verheirateter Mann in mittleren Jahren diese Arbeit?, fragte sich Brian unwillkürlich.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Mann tonlos.

»Ja, wir haben telefonisch bestellt, auf den Namen Leslie.«

Wortlos drehte sich der Mann um und kam kurz darauf mit einer Tüte und einer Pizzaschachtel zurück. »Macht 15,80 Dollar.«

Brian nahm das Essen durchs Fenster an, reichte dem Mann einen 20-Dollar-Schein und sagte: »Der Rest ist für Sie.«

»Danke.« Es klang nicht übertrieben dankbar.

Vier Minuten später packte das Paar die Einkäufe in seinem Blockhäuschen aus. Leslie grunzte.

»Mist, sie haben wieder meinen Salat vergessen.« Brian holte Luft. »Ich hol ihn dir.«

»Ach nein, das ist die Sache nicht wert.« Es klang nicht so richtig überzeugend.

»Das ist jetzt das zweite Mal, in zehn Minuten bin ich wieder da.«

Reingehen

Brian ging diesmal in den Gastraum. Nur ein Tisch in der Ecke war mit einem älteren Paar besetzt, das ein sehr frühes Abendessen einnahm, sonst war der Raum leer. Brian marschierte zum Tresen und wartete, dass ihn jemand bediente. Niemand war zu sehen.

Ein flüchtiger Blick machte deutlich, dass Gene and Joe’s ein müder, verlassener Ort war. Die Kasse hatte mindestens 25 Jahre auf dem Buckel. Dem Teppich waren die Hauptlaufstrecken deutlich anzusehen, an den Rändern franste er aus. Ein Schild hing an der Wand: »Wir stellen ein: Koch, Fahrer, Wochenendkräfte.« Es war mit der Hand geschrieben und die Orthografie war recht originell, statt Wochenend stand Wochenent darauf.

Der Laden ist früher bestimmt gut gelaufen und nur noch ein Schatten seiner selbst, dachte Brian und vermutete, dass die Pizzeria nur wegen der guten Lage direkt am Highway noch existierte.

Endlich kam ein junger Hispanier: »Kann ich Ihnen helfen?« Auch er vermittelte dem Gast nicht unbedingt das Gefühl, willkommen zu sein.

»Ja, ich habe gerade Essen am Drive-through-Schalter abgeholt, und da fehlte der Salat.«

Der junge Mann nickte entschuldigend, sagte aber keinen Ton zu Brian, sondern drehte sich um und brüllte: »Carl!«

Kurz darauf erschien der Mann von vorhin. »Der Mann hat seinen Salat nicht bekommen«, erklärte der Hispanier.

Wortlos verschwand Carl, kam zurück und fragte: »Die Bestellung für Sharon?«

Geduldig erklärte Brian: »Nein, für Leslie. Wir waren vor einer Viertelstunde hier.«

Der Angestellte murmelte etwas kaum Verständliches in Richtung »muss ich prüfen … gleich zurück« und verschwand.

In diesem Augenblick ging die Tür auf, Brian drehte sich um und sah einen älteren Mann, der ihm entfernt bekannt vorkam. Der Drive-through-Mann kam mit gerunzelter Stirn zurück.

»Ich finde keine Bestellung für Leslie. Sind Sie sicher …« Brian fiel ihm ins Wort, freundlich, aber inzwischen mit einer Prise Sarkasmus. »Ja, bin ich. Ich würde den Weg wohl nicht noch einmal machen, nur um Sie um einen Salat zu prellen, oder? Das ist jetzt das zweite Mal, dass das passiert.«

Der Mann hinter Brian mischte sich ein. »Ich nehme das in die Hand, Sir.«

Brian war einigermaßen irritiert, aber bevor er sich äußern konnte, fuhr der andere fort: »Ich bin der Inhaber.«

Dann wendete er sich an den Mitarbeiter. »Carl, mach einen großen Salat, und bring einen Gutschein für eine Pizza mit.«

Der ältere Mann hielt Brian die Hand hin und sagte: »Tut mir leid, wir sind ein bisschen knapp besetzt.«

Brian schätzte ihn auf 65, war sich allerdings nicht sicher, weil der andere ein braun gebranntes, faltiges Gesicht hatte, als wäre er zu viel in der Sonne gewesen. Dann merkte Brian, warum ihm der andere bekannt vorkam. Er war einer der beiden Typen auf dem T-Shirt, nur älter.

»Sie sind also Gene oder Joe?«, erkundigte sich Brian höflich. Der Mann nickte. »Ich bin Joe.«

Aus unerfindlichen Gründen musste Brian die nächste Frage stellen: »Wo ist Gene?«

»Irgendwo in Florida, nehme ich an. Er ist vor 19 Jahren ausgestiegen, aber ich habe den Namen nicht geändert. Das ist also schon öfter passiert?«

»Nur einmal, und es kann an uns gelegen haben.«

»Nein«, sagte Joe, »in der Regel liegt es an uns.«

Der Mann tat Brian leid, er ließ sich auf einen Smalltalk ein.

»Wie lange gehört Ihnen das Restaurant schon?«

»Im Februar werden es 32 Jahre. In den Siebzigern war es mal schicker«, er schämte sich offenbar ein wenig für das heruntergekommene Ambiente. »Aber als die Casinos gebaut wurden, wurde es schwieriger. Wir bieten seitdem keinen Mittagstisch mehr an und haben nur noch abends geöffnet. Und unser Publikum ist eher informell, überwiegend Skifahrer, Wanderer und Biker, wissen Sie.«

Brian nickte.

In diesem Augenblick kreuzte Carl auf. »Bitte sehr, Ihr Salat, entschuldigen Sie bitte noch mal.« Diesmal schwang in seiner Stimme Besorgnis mit, was Brian der Gegenwart des Chefs zuschrieb.

»Danke«, Brian nickte Carl und Joe zu. »Man sieht sich.«

»Hoffentlich«, der alte Mann lächelte. »Und dann wird es auch mit Ihrer Bestellung klappen.«

»Kein Problem.« Brian schüttelte ihm die Hand und ging.

Auf dem Rückweg dachte Brian über das Restaurant nach und wie es sich in Joes oder Carls Haut anfühlen musste.

Wie kommen die Leute morgens aus dem Bett?

Angefixt

Später am Abend holte Brian noch ein bisschen Obst und Gemüse. Jetzt, wo er die Krücken los war, war ihm jede Ausrede recht, um rauszukommen.

Am Ausgang blieb er an einer Schlagzeile im Wall Street Journal hängen. Widerstrebend beschloss er, die Ausgabe mit nach Hause zu nehmen, wohl wissend, dass er mit dem Feuer spielte. Leslie würde alles andere als begeistert sein, wenn er wieder einen großen Schluck aus der »Wirtschafts-Pulle« nahm.

Auf dem Weg zur Kasse zog es ihn magisch zwischen die Regale mit den Wirtschaftszeitschriften, er fischte BusinessWeek, Fortune und Fast Company heraus und legte sie auf seinen Stapel verbotener Lektüre.

Als er das Blockhaus erreichte, verstaute er die Magazine sorgfältig in den Tiefen der Gemüsetüte, damit Leslie nichts mitbekam. Nachdem sie zu Bett gegangen war, schnappte sich Brian den Stapel, machte es sich in seinem Lieblingssessel bequem und freute sich auf Nachrichten aus dem Geschäftsleben.

Kaum eine halbe Stunde später wollte Brian das Journal weglegen und ins Bett gehen, enttäuscht über den schalen Kick, den ihm sein abtrünniges Verhalten eingetragen hatte. Dann sah er einen Einspalter auf der dritten Seite der Börsenbeilage. »NikeTochter FlexPro spart bei Personal und Produkten«, hieß es in der Überschrift.

Brian vertiefte sich in die Geschichte: Nike wollte 50 Mitarbeiter im übernommenen Unternehmen entlassen und die Produktpalette halbieren. Im letzten Satz hieß es, es kursierten Gerüchte, nach denen bei den Wettbewerbern ähnliche Schritte anstünden. JMJ wurde nicht namentlich erwähnt, war aber natürlich mit gemeint.

Er wusste, dass er nicht schlafen konnte, und außerdem hatte er die Abmachung mit seiner Frau sowieso schon gebrochen.

Also setzte sich Brian an den Rechner, schob seine Schuldgefühle beiseite und klickte die neue Webseite seines früheren Arbeitgebers an: Vertrieb und Marketing sollten von Manteca an den Hauptsitz nach Chicago verlagert werden. Er schrieb den betroffenen Leitern, die aus seinem Team übernommen worden waren, E-Mails: Er sei wirklich empört, dass ihre Jobs verlagert würden.

Mit einer ordentlichen Dosis Adrenalin im Blut vertiefte sich Brian nun in die Magazine und saugte begierig alles auf, was mit Wirtschaft zu tun hatte. Er war erst seit acht Wochen im Ruhestand, aber es fühlte sich an wie jahrelange Abstinenz.

Brian schlief gegen vier Uhr morgens im Sessel ein, die Magazine um ihn herum auf dem Boden verteilt. Als Leslie einige Stunden später aufstand, sah sie ihn da schnarchen, wie ein Alkoholiker von seinen Flaschen umgeben.

Dann klingelte das Telefon, und Brian regte sich. Leslie hielt ihm das Mobilteil hin: »Rick Simpson.« Sie musste nichts weiter sagen. Brian brauchte sie nur anzuschauen und sah, was sie fühlte.

Voll entgleist

Rick reagierte telefonisch auf Brians nächtliche E-Mail.

»Hallo Kumpel, wie geht’s dir im Ruhestand?«

Brian machte nicht viel Federlesen. »Gut, danke. Du hast bestimmt meine Nachricht erhalten.« Es war keine Frage.

»Jawohl. Was machst du nachts um Viertel nach zwei noch vorm Rechner?«

»Rick, was zum Teufel geht da ab? Es war nicht vorgesehen, dass sie Abteilungen aus Manteca abziehen. Das steht im Vertrag.«

»Na ja, das stimmt nicht ganz. Sie haben zugestimmt, die Fabrik nicht zu schließen, und dass sie keine Pläne hätten, Mitarbeiter zu versetzen. Aber das ist eine Standardformulierung bei Akquisitionen, das weißt du auch.«

»Klar, aber ich habe den Leuten gesagt, sie müssten sich keine Gedanken um ihre Jobs machen.«

Rick nahm an, dass Brians Stimmung ebenso sehr von dem Übergang in den Ruhestand beeinträchtigt war wie von den Vorgängen bei JMJ. Also hielt er sich zurück.

»Hör zu, Brian. Wer jetzt Nachteile hat, bekommt eine hübsche Abfindung. Das steht im Vertrag, und den hast du wirklich toll ausgehandelt. Und im Vergleich zu dem, was Nike bei FlexPro anstellt, ist das ziemlich harmlos.«

Brian verschlug es für einen Augenblick die Sprache.

Rick redete weiter. »Ich weiß, wie sehr du an der Firma hängst, aber du hast einen fairen Deal für JMJ herausgeholt, und jetzt ist es Zeit, sich davon zu lösen, mein Freund.«

»Vielleicht.« Brian holte Luft und versuchte sich einzureden, dass Rick recht hatte. Aber es gelang ihm nicht. »Sie sind nur gerade dabei, jahrelang aufgebautes Vertrauen und Loyalität ins Klo zu kippen. Sie begreifen nicht, dass sie genau dafür bezahlt haben. Ich hab dir gesagt, du sollst einen Käufer finden, der uns versteht. Wir hätten vielleicht mehr gekriegt.«

Rick hätte am besten den Mund gehalten, aber wie immer ging es mit ihm durch, und einen Angriff auf seine Professionalität konnte er schon gar nicht auf sich sitzen lassen. »Nein, sie haben die Fabrik, den Markennamen, ein paar Patente und die Kundenliste gekauft. Und die haben sie nach wie vor. Glaub mir, niemand hätte mehr bezahlt, weil sich diese ganze Gefühlsduselei nicht auf den Gewinn auswirkt.«

Brian war jetzt hellwach – und stinksauer. »Du begreifst es einfach nicht, stimmt’s? Unsere Unternehmenskultur ist mehr als alles andere für unseren Erfolg verantwortlich. Patente? Produkte? Markenname? Das alles ist die direkte Folge von ein paar Leuten, die ihre Arbeit geliebt haben.«

»Nein«, schoss Rick zurück, und er wurde einigermaßen herablassend. »Die Leute haben ihren Job geliebt, weil sie Erfolg hatten, und Erfolg hatten sie, weil ihr die richtigen Produkte zur richtigen Zeit im richtigen Markt hattet. Der Rest ist Gesülze.« Brian war versucht, einfach aufzulegen. Zum Glück klingelte es auf der anderen Leitung, das gab ihm die Chance, die Form zu wahren. »Da kommt noch ein Anruf, ich muss auflegen.«

Er wartete nicht auf Ricks Reaktion und drückte ihn weg. Der andere Anrufer war Rob, sein ehemaliger Marketingleiter. Rob bedankte sich für die E-Mail, erklärte aber, er sei nicht verärgert über den Jobwechsel, der nun früher als erwartet gekommen sei.

»Wir sind alle davon ausgegangen, dass das früher oder später passieren wird. Ziemlich viele Leute sind schon gegangen, und die meisten haben bereits mehrere Angebote zur Auswahl. Mit der Abfindung, die du für uns ausgehandelt hast, ist das für mich mehr als in Ordnung. Es hat sich sowieso viel verändert bei JMJ.« Brian war gleichzeitig erleichtert und betrübt. »Wie geht’s den Jungs unten in der Fertigung?«

»Die gesamte Produktion bleibt hier, die haben also nichts zu befürchten. Allerdings werden die Zeiten härter, das ist auch klar. Manche werden wahrscheinlich kündigen, weil ihnen die Veränderungen nicht schmecken. Aber ihre Jobs sind relativ sicher. Es ist sogar ein Ausbau im Gespräch.«

Nach dem Telefonat frühstückte Brian mit Leslie und erzählte ihr die schäbigen Details, die er im Lauf der Nacht herausgefunden hatte. Sie riet ihm, Rick noch mal anzurufen und die Sache wieder ins Lot zu bringen.

Jovial wie immer, war an Rick offenbar alles abgeperlt. Er hörte sich Brians Entschuldigung an und unterbreitete dann einen Vorschlag. »Weißt du was, vielleicht solltest du als Berater arbeiten oder etwas in der Art.«

Brian begriff es nicht gleich. »Warum sagst du das?«

»Ich weiß nicht, es ist einfach der Eindruck, dass es dich interessiert, ob sich Menschen in ihrer Haut wohlfühlen oder nicht und dass du ihnen dabei helfen könntest. Das müsste dir eigentlich Spaß machen. Dir geht es nicht so sehr um die Zahlen, mehr um die Menschen.«

Rick wollte nett sein, das merkte Brian schon, aber er ärgerte sich schon wieder über seinen Kumpel. Er holte tief Luft. »Rick, glaubst du mir eigentlich, dass ich JMJ gern geleitet habe?«

Rick ruderte zurück: »Natürlich, klar, nur, keine Ahnung, irgendwie hast du etwas für Menschen übrig, und das könnte in einem anderen Berufsfeld besser aufgehoben sein. Mehr wollte ich nicht gesagt haben.«

Brian zwang sich zur Ruhe. Er redete bewusst langsam. »Gut, Rick. Ich versuch’s ein letztes Mal, es dir zu erklären. Mein Interesse an Menschen ist eben der Grund, warum ich gern als CEO gearbeitet habe. Und warum ich ein guter CEO war.«

Fünf unangenehme Sekunden lang herrschte Schweigen in der Leitung.

Dann sagte Rick, hörbar zweifelnd: »Vielleicht hast du recht, vielleicht liege ich falsch. Wer weiß das schon? Vielleicht erkennen wir in zwei Jahren, dass JMJ kaputt ging, weil die Mitarbeiter keinen Spaß mehr an ihrer Arbeit hatten und sich nicht mehr in ihrer Haut wohlgefühlt haben.«

Brian lächelte, als er die nächste Frage stellte. »Aber du glaubst nicht daran, stimmt’s?«

Rick lachte, und es klang wie eine Ziege: »Nein, natürlich nicht.

Aber ich kann ja auch ganz schön ätzend sein.«

Brian lachte, entschuldigte sich noch einmal für seinen Ausfall vorhin und dankte dem Freund, dass er sich die Zeit genommen hatte, sich die Frustrationen eines Ex-CEO im Ruhestand anzuhören.

Als er auflegte, war Brian seltsam entschlossen, den ehemaligen Zimmergenossen zu widerlegen. Wie, konnte er sich vorläufig nicht vorstellen. Auch nicht, was ihn im Lauf der nächsten Monate erwartete.

Dammbruch

Am nächsten Tag versprach er seiner Frau erst einmal, sich für mindestens ein Jahr auf den Ruhestand zu konzentrieren. Anschließend ging er zum Arzt.

Sein Bein war nicht so gut geheilt wie erhofft, Brian durfte weitere sechs Wochen lang höchstens spazieren gehen. An Skifahren, Wandern und selbst Radfahren auf dem Hometrainer war nicht zu denken. Immerhin waren die Krücken definitiv Vergangenheit.

Brian war nicht nur frustriert, er hatte das Gefühl, wahnsinnig zu werden.

Und dann geschah es. Leslie war einkaufen gegangen. Brian holte das Telefon und tätigte einen Anruf, der sein Leben verändern sollte und das von Leslie – Veränderungen, die sich keiner von ihnen hätte vorstellen können.

Rückruf

Eine junge Stimme, die Brian nicht wiedererkannte, war am Apparat: »Gene and Joe’s.«

»Ist Joe da?«

»Nein, ich habe ihn nicht gesehen. Vermutlich ist er montags nicht oft hier. Sie könnten es morgen noch einmal versuchen.«

»Können Sie mir eine Nummer sagen, unter der ich ihn erreichen kann?«

»Sicher, Moment mal, hier ist sie.« Der Mann las Brian die Nummer vor. »Kann ich irgendetwas für Sie tun? Ihnen etwas zu essen machen, beispielsweise?«

Brian war von dem fröhlichen, lockeren Umgangston überrascht. »Nein, danke. Sind Sie neu im Restaurant?«

»Ja, das ist mein erster Tag. Woher wissen Sie das?«

»Ich kann mich nur nicht an Sie erinnern, sonst nichts. Danke jedenfalls für die Auskunft.«

Brian wählte anschließend Joes Nummer und sprach ihm aufs Band.

An diesem Abend sahen Leslie und Brian zum 25. Mal in ihrer 28-jährigen Ehe Ist das Leben nicht schön? von Frank Capra, als das Telefon klingelte. Leslie, etwas mobiler als ihr angeschlagener Gatte, nahm das Gespräch an.

»Ja … Wer ist denn bitte am Apparat? Sicher.«

Mit einem fragenden Blick sagte sie: »Ein gewisser Joe Colombano sagt, er rufe zurück?«

Brian versuchte, möglichst desinteressiert zu wirken, so als verbände er nichts Besonderes mit Joe Colombano und sei nicht überrascht über den Anruf. »Richtig«, antwortete er sachlich.

»Wer ist das?«, fragte sie.

Brian wollte sie nicht anlügen, aber auch nicht die ganze Geschichte erzählen. »Ein netter alter Kerl, den ich bei dem Italiener getroffen habe. Ich kann ihm, glaube ich, bei einem kleinen Problem helfen.« Er nahm Leslie das Telefon ab und lief ins Nachbarzimmer.

Sie lächelte ihn an: »Nett von dir«, und fragte dann, ob sie den Film so lange anhalten sollte.

»Nein, das sollte schnell erledigt sein, ich erinnere mich schon noch an die Story.«

Sie lächelte noch einmal und konzentrierte sich wieder auf den Film.

Brian

Schon früh in seiner Laufbahn war Brian Bailey zu einem geradezu unvermeidlichen Schluss gekommen: Er war mit Leib und Seele Manager.

Jeder Aspekt dieser Tätigkeit faszinierte ihn. Ob strategische Planung, Budgetierung, Beratungen oder Leistungsbeurteilungen, Brian hatte das Gefühl, für diesen Job geboren worden zu sein. Schon in jungen Jahren war er in Führungspositionen sehr erfolgreich, und so bereute er es nicht, vom College abgegangen zu sein: Seine Kollegen mit Business-School-Abschluss hatten ihm nichts voraus.

Andererseits hatte er sowieso keine Wahl gehabt. Brian stammte aus der unteren Mittelschicht, und in den entscheidenden Jahren litt seine Familie unter den Folgen zweier Frostjahre, die die Walnussplantagen im Norden Kaliforniens schwer geschädigt hatten. Trotz des Stipendiums, das ihm vom St. Mary’s College angeboten wurde, hätte die Familie eine weitere Ausbildung kaum finanzieren können. Zumal seine Neigung für Theologie und Psychologie unter ökonomischen Gesichtspunkten nicht gerade erfolgversprechend klang.

Brian reagierte auf eine Stellenanzeige, bekam eine Stelle im Linienmanagement einer Konservenfabrik bei Del Monte. Zwei Jahre lang passte er auf, dass Tomaten, Pfirsiche und grüne Bohnen so effizient wie möglich eingedost wurden. Brian scherzte gern mit seinen Mitarbeitern, er habe schon immer eine Fruchtcocktail-Farm besichtigen wollen.

Als sich die Walnussbäume seines Vaters erholten und die finanzielle Situation der Familie sich besserte, musste Brian eine Entscheidung treffen. Er hätte wieder die Schulbank drücken und seinen Abschluss nachholen können, er konnte auch bei Del Monte bleiben, um dort rasch die Karriereleiter hochzuklettern und in nicht allzu ferner Zukunft auf die Verantwortung für eine ganze Fabrik zu hoffen. Zum Kummer seiner Eltern entschied er sich weder für die eine noch für die andere Option.

Brian gab seiner Neugier nach und nahm eine Stelle bei dem einzigen Autobauer im Umland von San Francisco an. Hier blieb er 15 Jahre und tummelte sich in den verschiedenen Unternehmensbereichen: Er arbeitete für jeweils rund fünf Jahre in der Produktion, bei Finanzen und Operations.

Und er heiratete eine Frau, die er noch in der Highschool kennengelernt hatte und die im Gegensatz zu ihm St. Mary’s absolvierte. Die beiden zogen in ein kleines, prosperierendes Örtchen mit dem passenden Namen Pleasanton und bekamen zwei Söhne und ein Töchterchen.

Mit 35 Jahren war Brian Betriebsleiter, seine Chefin war die umtriebige Kathryn Petersen. Sie war ebenfalls schon länger bei diesem Autobauer; sie mochte Brian gerade wegen der bescheidenen Verhältnisse, aus denen er kam, wegen seines Arbeitseifers und seiner Wissbegierde, und sie sorgte dafür, dass er immer neue Aufgaben bekam, solange es eben ging. Aber sie wusste, lange würde das nicht mehr gehen.