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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Einleitung: Beurteilung historischer Tragwerke

2 Der gemauerte Bogen

2.1 Form und Konstruktion historischer Bogentragwerke

2.2 Materialeigenschaften historischen Bogen- und Gewölbemauerwerks

2.3 Tragverhalten biegebeanspruchter gemauerter Bögen

2.4 Berechnungsmethoden für Bögen

2.5 Bogenkonstruktionen und Tragverhalten

3 Das Gewölbe

3.1 Material, Form und Herstellungsverfahren historischer Gewölbe

3.2 Das Tonnengewölbe

3.3 Das Kreuzgewölbe und die Ausführung auf Schalung oder in freihändiger Mauerung

3.4 Das Kreuzrippengewölbe und der Spitzbogen

3.5 Das Sterngewölbe

3.6 Tonnengewölbe mit Stichkappen

3.7 Neugotische Gewölbe

4 Beurteilung des Tragverhaltens der Kreuzgewölbe und Stichkappentonnen

4.1 Beobachtungen am Bauwerk

4.2 Grenzzustandsbetrachtungen an gerissenen Schiffswölbungen mit Kreuzgewölben oder Stichkappentonnen

4.3 Einordnung einer Schiffswölbung in das Gesamtsystem des Gewölbebaus und Ertüchtigung

5 Kuppeln und kuppelige Gewölbe

5.1 Form und Konstruktion

5.2 Tragverhalten der Kuppel

6 Die stützenden Bauteile: Wände, Pfeiler und Fundamente

6.1 Form und Konstruktion

6.2 Berechnung historischer Wand- und Pfeilerkonstruktionen

7 Literatur

Stichwortverzeichnis

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Für Petra, Caroline und Melanie

Vorwort

Der Verfasser hält seit etlichen Jahren an der Universität der Bundeswehr München im Vertiefungsstudium (Masterstudium) eine Wahlpflichtvorlesung „Beurteilung und Ertüchtigung historischer Tragwerke“, die getreu dem Leibniz’schen Motto „Theoria cum Praxi“ den Bogen von der In-situ-Untersuchung eines Bauwerks bis zu seiner rechnerischen Analyse schlägt und sich nicht zuletzt deswegen großer Beliebtheit erfreut. Diese Vorlesung ist etwa hälftig dem Tragverhalten historischer Wölbkonstruktionen und der Analyse historischer Holztragwerke gewidmet. Sie ist unmittelbarer Ausdruck der aktuellen Forschungsschwerpunkte und Praxistätigkeiten des Autors. Besonderes Gewicht hat die Gewölbestatik in den Lehr- und Forschungsarbeiten des Verfassers gewonnen, seit es die 2011 erstmals durchgeführte „Erste Europäische Sommerschule zur Bautechnikgeschichte“ vorzubereiten galt, die damals in Cambridge ebenfalls zum Thema der Gewölbe abgehalten worden ist. Hinzu kamen Kurse zum Thema „Gewölbe“ für Tragwerksplaner in der Fortbildungseinrichtung Propstei Johannesberg bei Fulda. In allen diesen Lehrveranstaltungen und in Gutachten zu realen Objekten konnte eine Fülle von Informationen und Erkenntnissen gesammelt werden, die hier verarbeitet sind.

In letzter Zeit ist – ausgelöst nicht zuletzt durch die „Richtlinie für die Überwachung der Verkehrssicherheit von baulichen Anlagen des Bundes“ (2008) – eine verstärkte Aktivität bei der Beurteilung und Ertüchtigung historischer Tragwerke zu beobachten. Der Aufgabe, eine historische Konstruktion aus zimmermannsmäßigem Holztragwerk und gemauerter, ggf. gewölbter Unterkonstruktion zu analysieren, hat die Lehre der letzten Jahrzehnte im Bauingenieurwesen nicht viel gegenüberzustellen; entsprechend unsicher ist sich manch ein Tragwerksplaner und im schlimmsten Fall sind unangemessene Ertüchtigungsmaßnahmen die Folge. Ein aktuelles Lehrbuch zu historischen Tragwerken existiert in deutscher Sprache nicht und auch die Lehrbücher aus dem benachbarten Ausland helfen zum Teil nur wenig weiter. Dafür existiert eine im Verlauf von mehr als zweihundert Jahren angewachsene, unüberschaubare Fülle an Spezial-Fachliteratur vor allem zur Gewölbestatik. Im vorliegenden Buch ist der Versuch unternommen worden, diese Spezialliteratur in englischer, italienischer, französischer und deutscher Sprache zusammenzufassen, weiterzuentwickeln und wieder für die praktische Anwendung zu erschließen.

Beurteilung und Ertüchtigung historischer Tragwerke folgen dem Prinzip „Erst genau hinschauen und verstehen, dann rechnen, dann erst ertüchtigen“. Besonderes Gewicht wird hier den ersten beiden Schritten zugemessen. In der heutigen Praxis steht allzu oft die durchzuführende Maßnahme schon fest, ehe auch nur eine brauchbare Bau- und Zustandsaufnahme stattgefunden hat. So wird man einem historischen Bauwerk aber nicht gerecht. Manch eine Beobachtung, die zunächst übersehen worden ist, hilft später, die Bau-, Schadens- und Reparaturgeschichte aufzuklären und macht andere, ins Auge fallende „Schäden“ verständlich oder relativiert sie gar völlig. Kein historisches Gewölbe ist ungerissen. Dem heutigen Bauingenieur ist dies aber viel weniger bewusst als die Tatsache, dass auch beim modernen Stahlbeton Risse zwingend zum Tragverhalten dazugehören. Manche Abweichungen historischer Gewölbe von der erwarteten Form sind schon Jahrhunderte alt, andere akut. Hier richtig zu urteilen, ist essentiell. Ein richtiges Urteil kann aber nur abgeben, wer über entsprechendes Hintergrundwissen verfügt. Dieses Hintergrundwissen zu vermitteln, ist Ziel des Buches. Es will kein Handbuch zum Nachweis nach Norm sein, sondern eine Anleitung zum Hinsehen, Denken, Verstehen.

Nunmehr liegt endlich der von vielen lange erwartete erste Band zum Mauerwerk vor. Schwerpunktmäßig behandelt der Band gewölbte Strukturen. Wände, Strebepfeiler und Fundamente werden gewissermaßen nur als „Unterbau“ der gewölbten Raumdecke behandelt. Die Kürze des entsprechenden Kapitels resultiert aus der schmalen Informationsbasis, auf die man bei Wänden und Fundamenten beim realen Objekt üblicherweise zurückgreifen kann. Auch gibt es zur Theorie des Tragverhaltens mehrschaliger Wände nur wenige Vorarbeiten.

Im vorliegenden Buch ist soweit wie irgend möglich originales, neues Bildmaterial verwendet worden. Diagramme, Zeichnungen und Fotos wurden fast ausnahmslos entweder selbst angefertigt oder aus originalen, bauzeitlichen Quellen entnommen. Grafiken aus zweiter Hand wurden vermieden. Einem aussagekräftigen Foto eines Befundes wurde der Vorzug vor einer Skizze gegeben, um dem Leser die Chance zu geben, sich selbst ein Bild zu machen. Risse wurden daher in Fotos nicht von Hand nachgezeichnet. Angesichts der Schwierigkeit, von Rissen und ähnlichen Befunden aussagekräftige Fotos anzufertigen, wurde manchmal auch auf etwas entlegene Bauwerke zurückgegriffen.

Dieselbe Bemühung um originale, neue Informationen, die die Auswahl des Bildmaterials des vorliegenden Buches kennzeichnet, ist auch den vorgestellten Ansätzen der Analyse zuteil geworden. Keine Formel oder Aussage aus der Literatur ist einfach ungeprüft übernommen worden. Manches Neue hat dem Wissensstand wohl hinzugefügt werden können. Zu hoffen ist, dass das reiche Material, das hier präsentiert wird, einer möglichst großen Zahl von Lesern zu einem schonenden und verständnisvollen Umgang mit historischen Tragwerken verhelfen wird. Sollten Fehler gefunden werden oder Korrekturen nötig sein, sind entsprechende Hinweise sehr willkommen.

Gedankt sei den künftigen Lesern, vor allem aber auch dem Verlag Ernst & Sohn und in besonderer Weise Frau Claudia Ozimek für die fast unendliche Geduld, mit der man auf das Werk gewartet und auch dessen Anwachsen zu einem zweibändigen Opus toleriert, wenn nicht gar unterstützt hat. Auch Ermunterung zwischendurch war nötig und ist gewährt worden.

Unendliche Geduld hat auch meine Familie aufbringen müssen, die selbst auf den Urlaubsreisen stets noch meine Jagd auf Risse, Schäden an Gewölberippen oder interessante Beobachtungen in Dachräumen historischer Großbauten erduldet hat. Reiserouten wurden gezielt an solchen Punkten orientiert und der Großteil der gemeinsamen Freizeit zuhause und unterwegs ist in den vergangenen Jahren der das ganze Berufs- und Privatleben ergreifenden Leidenschaft für die historische Konstruktion zum Opfer gefallen. Meiner Frau und meinen Töchtern sowie allen Mitarbeitern, Kollegen und Freunden, die zum Entstehen des Werkes passiv und aktiv ihren Beitrag geleistet haben, danke ich an dieser Stelle ganz herzlich.

München, im Mai 2013

Stefan M. Holzer

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Einleitung: Beurteilung historischer Tragwerke

In der Ausbildung des Bauingenieurs nimmt der Entwurf von Tragwerken breiten Raum ein. Konstruktion und Standsicherheitsnachweis sind eng verzahnt. Das Tragwerk wird so entworfen, dass es ein klares Tragverhalten aufweist und eindeutig berechnet werden kann. Klare Tragsysteme ermöglichen die Wahl wirtschaftlicher Querschnitts- und Anschlussdimensionen. Auf Grundlage der gewählten Konstruktion und Abmessungen wird der Standsicherheitsnachweis geführt. Er hat das Ziel, Belastung und Beanspruchung des Tragwerks für die gesamte geplante Lebensdauer vorherzusagen und die durchgängige Einhaltung eines vorgegebenen Sicherheitsniveaus zu erreichen. Normen und Vorschriften fixieren den Stand der Technik und bieten in der Regel Handlungssicherheit. Gebaut wird im Idealfall genau das, was zuvor berechnet worden ist, Modell und Wirklichkeit stimmen also mindestens theoretisch so gut wie möglich überein.

Eine von der Aufgabenstellung des Neubaus grundsätzlich verschiedene Aufgabe ist diejenige, eine bereits vorhandene Konstruktion zu untersuchen und gegebenenfalls zu reparieren oder zu verstärken. Das historische Tragwerk ist oftmals redundant, der Lastabtrag unklar und durch Schäden beeinträchtigt. Zu ein und demselben Tragwerk können unterschiedliche Lastabtragsmodelle entwickelt werden. Ziel ist es, das vorhandene Tragverhalten, das sich gewissermaßen von selbst eingestellt hat, möglichst realistisch abzubilden. Die Qualität der Modellierung kann sofort durch einen Abgleich der Beobachtungen am Bauwerk selbst mit den Berechnungsergebnissen überprüft werden.

Bevor man ans Rechnen geht, ist es erforderlich, sich Klarheit über das konzeptionelle Vorgehen zu verschaffen. Bei der Beurteilung eines historischen Tragwerkes steht natürlich das gesamte Methodenarsenal des modernen Bauingenieurwesens zur Verfügung, von einfachen Handrechnungen oder linear elastischen Stabwerksberechnungen bis hin zu nichtlinearen, dreidimensionalen Finite-Elemente-Modellen. Die kompliziertere Rechnung ist jedoch keineswegs notwendigerweise auch die bessere. Die beste Analyse ist vielmehr diejenige, die den vorhandenen Tragwerkszustand möglichst einfach, jedoch schlüssig und vollständig erklären kann. Der beste Planer am Denkmal ist derjenige, der aufgrund einer gewissenhaften Untersuchung und Analyse ein schlüssiges Bild vom Tragwerk gewonnen hat. Für ein Gesamtbild ist zuallererst eine genaue Kenntnis des Objektes, seiner Geschichte und seines Zustands unabdingbar. Bedauerlicherweise werden Ertüchtigungen sehr oft voreilig anhand grob vereinfachter Bauaufnahmen und lückenhaft erhobener Befunde geplant und die Bauwerksuntersuchung selbst erfolgt dann schon gezielt im Hinblick auf die schon von vornherein feststehende Maßnahme. Dies stellt eine Umkehrung der logischen Abfolge der Beurteilung eines historischen Tragwerks dar, die leider durch die finanziellen Randbedingungen gefördert wird: Geld gibt es für eine konkrete Maßnahme, nicht für eine Voruntersuchung, die möglicherweise eine derartige Maßnahme komplett erspart. Auch der Tragwerksplaner selbst nimmt sich mit einer derartigen Voruntersuchung möglicherweise den eigenen lukrativen Auftrag weg, weil er nach der Höhe der Bausumme entlohnt wird. Hier ist im Denkmal-Kontext ein Umdenken angesagt.

Leider wird die Untersuchung historischer Tragwerke, die durchaus auch mit dem Kriechen und Klettern im Staub der Jahrhunderte verbunden ist, gern delegiert. Weder der Denkmalpfleger noch der Bauherr noch der Tragwerksplaner haben ausgeprägte Lust zu dieser mühsamen, manchmal sogar gesundheitsgefährdenden Arbeit. Man lässt sich einen Plan zeichnen und Befunde kartieren. Das unangenehme und zeitraubende Arbeiten vor Ort wird so vermieden. Im schlimmsten Fall findet sodann die Diskussion über vorzunehmende Ertüchtigungen am grünen Tisch unter lauter Planungsbeteiligten statt, von denen kein einziger eine persönliche, genaue Kenntnis des Objektes hat. Bei einem historischen Tragwerk, das auch noch denkmalpflegerischen Randbedingungen unterliegt, muss ein solches Vorgehen als verantwortungslos bezeichnet werden, und es führt auch in aller Regel zu unangemessenen Maßnahmen. Nur der eigene Augenschein vermittelt ein zuverlässiges Gesamtbild des historischen Tragwerks. Allein auf Grundlage einer intensiven Kenntnis des realen Objektes können verantwortungsvolle Entscheidungen getroffen werden. Besprechungen bei der Gelegenheit eines Ortstermins sind deshalb unendlich wertvoller als Diskussionen im Besprechungszimmer, weitab vom Objekt. Tragwerksplaner und ggf. Prüfstatiker müssen das Objekt auf jeden Fall aus erster Hand kennen. Man mag dies für eine Binsenweisheit halten – die Praxis sieht leider oft anders aus! Der Zeitaufwand zum Kennenlernen eines Objektes mittlerer Größenordnung ist auf jeden Fall mit mindestens einem halben Tag zu veranschlagen. Viele Kleinigkeiten sieht man erst nach längerem Aufenthalt im Objekt oder gar beim wiederholten Besuch. Gerade beim Denkmal ist auch eine gewisse Liebe zum historischen Objekt und Detail nötig.

Manchmal hört man das Argument, ein Tragwerk, das schon Jahrhunderte überdauert hat, habe allein durch diese lange Standzeit seine Sicherheit bereits experimentell nachgewiesen. Auf der anderen Seite weiß jeder, der sich schon einmal mit einem historischen Tragwerk beschäftigt hat, dass es meist sehr einfach ist, das historische Tragwerk „totzurechnen“: Anhand eines willkürlich gewählten statischen Berechnungsmodells lassen sich meist ganz schnell lokale Überschreitungen der nach Norm zulässigen Spannungen feststellen, so dass die Standsicherheit des historischen Tragwerks fragwürdig erscheint.

Beide Herangehensweisen werden dem historischen Tragwerk in keiner Weise gerecht. Zum einen zeigt die Tatsache, dass das historische Tragwerk noch steht, dass es einen Lastabtragungsmechanismus geben muss, der wenigstens noch einigermaßen funktioniert. Wenn der Tragwerksplaner auftritt und anhand einer kleinen Rechnung behauptet, das Tragwerk „müsste eigentlich längst eingestürzt sein“ – eine Aussage, die man gar nicht so selten hört! –, so disqualifiziert er sich selbst. Es mag sein, dass das historische Tragwerk nur noch einen minimalen Sicherheitsabstand zum Einsturz aufweist, aber eine Rechnung, die ergibt, dass das Tragwerk schon versagt haben müsste, beruht offenkundig auf übermäßigen Vereinfachungen oder fehlerhaften Annahmen und ist daher als Diskussionsgrundlage ungeeignet. In vielen Fällen ist es wesentlich einfacher, das vermeintliche Versagen der Struktur zu berechnen, als einen Lastabtragungspfad aufzuzeigen, der wenigstens „gerade noch“ funktioniert. Dieses „gerade noch“ stellt aber dennoch die Messlatte dar, an der sich jede Strukturanalyse eines historischen Tragwerks messen lassen muss. Andererseits ist der Umstand, dass das Tragwerk noch steht, keineswegs ein Beweis für dessen Standsicherheit. Schon morgen könnte das historische Tragwerk eingestürzt sein. Spektakuläre Spontaneinstürze wie jener der achthundert Jahre alten Torre Civica von Pavia im Jahre 1989 kommen vor, sind aber glücklicherweise sehr selten.

Typischerweise verhalten sich historische Tragwerke duktil, d. h. ein bevorstehendes Versagen kündigt sich durch große Verformungen an. Die Duktilität des Tragwerks ist dabei nicht der Duktilität der Materialien zuzuschreiben (Holz und Mauerwerk versagen je nach Beanspruchung eher spröde), sondern den redundanten Tragsystemen. Selbst stark geschädigte historische Tragwerke bleiben daher oft noch lange stehen, während ein nach den Gesichtspunkten der Wirtschaftlichkeit konzipiertes modernes, ingenieurmäßiges optimiertes Tragsystem sofort in Gefahr gerät, wenn es Schäden aufweist. Bei einem statisch bestimmten System bewirkt ein Schaden eines einzigen Elementes ein Tragwerksversagen. Ein statisch unbestimmtes System kann auch mit erheblichen Schäden noch die Jahrhunderte überdauern. In ihrer vermeintlichen „Überdimensionierung“ oder Redundanz sind historische Tragwerke Musterbeispiele der heute so gern bemühten „Nachhaltigkeit“, und jede Maßnahme zur Verlängerung der Lebensdauer eines historischen Tragwerks ist auch ein Beitrag zur „Nachhaltigkeit“.

Auslöser für die Beurteilung eines historischen Tragwerks sind entweder akute Ereignisse – typischerweise der von der Decke fallende Putz – oder geplante Neuoder Umnutzungen. Hinzu kommt insbesondere seit 2008 die „regelmäßige Überwachung baulicher Anlagen“ nach Maßgabe der „Richtlinie für die Überwachung der Verkehrssicherheit von baulichen Anlagen des Bundes“ [RÜV 2008, S. 3]. Dort heißt es: „Werden bei der Untersuchung Schäden festgestellt, die die Stand- oder Verkehrssicherheit beeinträchtigen können, ist im Zweifel ein Sachverständiger hinzuzuziehen.“ [RÜV 2008, S. 5]. Dieser Sachverständige ist in der Regel Tragwerksplaner. Für die Aufgabe der Analyse eines historischen Tragwerks ist er jedoch in seinem Bauingenieurstudium nur wenig vorbereitet worden, und einschlägige Lehrbücher fehlen. Weder kann vorausgesetzt werden, dass ein Bauingenieur von heute die typischen historischen Konstruktionsarten kennt, noch, dass er deren Tragverhalten durchschaut. Diese Lücke möchte das vorliegende Werk schließen.

Jedes historische Tragwerk hat eine lange Geschichte des Lastabtrags hinter sich. Abweichungen vom erwarteten Regelzustand, die wir heute beobachten, können unterschiedlichste Ursachen und Entstehungszeiten aufweisen. Die zeitliche Evolution der Verformungen eines historischen Tragwerks (Bild 1.1) beginnt mit einer in der Regel erheblichen Anfangsverformung. Historische Traggerüste waren weniger steif als moderne, historische Werkstoffe ebenfalls. Kalkmörtel erhärtet langsam, Zementmörtel vergleichsweise nahezu sofort. Im weiteren Verlauf der Standzeit eines historischen Tragwerks haben sich meist einzelne Schadensereignisse eingestellt, die eine ruckartige Vergrößerung der Verformungen ausgelöst haben – zeitweise ist Wasser eingedrungen, Anbauten, Aufstockungen oder Wegnahme von stützenden Bauteilen haben plötzliche Lasterhöhungen mit sich gebracht, Umnutzungen haben die Beanspruchungen erhöht. Solche punktuellen Ereignisse haben sich auf das historische Tragwerk meist stärker ausgewirkt als die allgemeine zeitabhängige Materialdegradation. Historische Tragwerke weisen oft reichlich bemessene Dimensionen auf, so dass die Spannungen in weiten Teilen des Bauwerks gering bleiben, Ermüdung also keine dominante Rolle spielt. Auch der chemische und biologische Angriff auf Konstruktionsteile aus Holz oder Mauerwerk bleibt dank kompakter Bauteilproportionen oft an der Oberfläche. Häufig sind Schäden, die wir heute sehen, schon lange vorhanden, vielfach schon kurz nach Erbauung aufgetreten. Es gibt sogar Abweichungen vom erwarteten Zustand, die überhaupt nicht als Schäden anzusprechen sind, sondern einfach Spuren der Baugeschichte oder eines bestimmten historischen Bauverfahrens sind (z. B. Risse, die sich als unverzahnte Fugen zwischen Bauteilen unterschiedlicher Entstehungszeit herausstellen). Manchmal ist es möglich, vorhandene Verformungen im Rahmen einer Ertüchtigung vorsichtig etwas zurückzuführen (z. B. Sicherung eines Gewölbes mit vorgespannten Ankern). Dies ist jedoch nicht vorrangiger Zweck einer Maßnahme.

Bild 1.1 Schematische Darstellung der Verformungsgeschichte eines historischen Tragwerks.

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Die Ertüchtigung hat das Ziel, falls notwendig die Standsicherheit des bestehenden Tragwerks zu erhöhen. In der Regel geht die Ertüchtigung von einem akuten Schadensereignis aus (Bild 1.2). Ziel der Maßnahme ist es nicht, ein perfektes Tragwerk herzustellen. Ziel ist es auch nicht, ein historisches Tragwerk mit unklarem Lastabtrag in ein modernes, vermeintlich folgerichtiges Tragwerk zu verwandeln.

Die Planung einer Reparatur oder Ertüchtigung setzt zunächst voraus, dass der Zustand des Tragwerks umfassend untersucht worden ist und die Ursachen der Schäden eindeutig identifiziert sind. Noch aktive Schadensursachen müssen natürlich sofort abgestellt werden, und bei Verdacht auf mangelnde Standsicherheit müssen sofortige Betretungsverbote und Notsicherungen veranlasst werden. Nach der dann durchgeführten Zustandsaufnahme kann eine Bewertung der Schäden erfolgen.

Bild 1.2 Schematische Darstellung der zeitlichen Evolution des Tragwerkswiderstands einer historischen Struktur.

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Schäden, die die Standsicherheit beeinträchtigen, sollten repariert werden. Es ist aber keineswegs immer notwendig und sinnvoll, alle Abweichungen von einem angenommenen Idealzustand zu reparieren. Manche Schäden liegen schon seit Jahrhunderten vor und das Bauwerk hat auch mit ihnen überlebt. Eine Korrektur solcher Schäden (z. B. statisch unbedenkliche Risse in Gewölben oder Wänden) führt notwendigerweise zu einer Umlagerung des Lastabtrags und kann zu unerwarteten neuen Schäden andernorts führen. Zwar ist es erfahrungsgemäß schwierig, einem Bauherrn zu vermitteln, dass das Gebäude nach der „Sanierung“ immer noch dieselben, offen zutage tretenden Risse aufweisen wird wie vorher. Einem Baudenkmal wird mit einer solchen Maßnahme aber eher ein Dienst erwiesen als mit einem eingreifenden Umbau. Für die Bewertung eines Schadens ist dessen zeitliche Evolution wichtig. Ein Schaden, der sich nicht tendenziell verschlimmert, ist weniger bedenklich als ein kontinuierlich zunehmender. Aufschluss über die Schadensevolution bieten weniger die beliebten Gipsplomben als vielmehr eine Analyse der Bau- und Reparaturgeschichte des Tragwerks, ggf. ein Langzeit-Monitoring mit geodätischen Methoden.

Zu den Standardsätzen in Festschriften zur Wiedereröffnung historischer Baudenkmäler gehören Aussagen, man habe nun endlich – nach einer Reihe nutzloser oder gar schädlicher älterer Reparaturen – eine wirksame und nachhaltige Sanierung durchgeführt. Die Beobachtung, dass wenige Jahrzehnte zurückliegende Maßnahmen heute im Rückblick oft schon wieder als schädlich betrachtet werden (z. B. „High-Tech“-Sanierungen der 1970er Jahre), sollte zu Bescheidenheit mahnen und niemand sollte derartige Sätze von sich geben: In wenigen Jahrzehnten wird unweigerlich auch das, was heute vielleicht eine gepriesene Sanierungslösung ist, seine Schattenseiten zeigen. Im Rückblick wird dann bedauert werden, wie viel historische Substanz durch den Sanierungseingriff verlorengegangen ist. Die optimale Maßnahme ist diejenige, die am wenigsten in die historische Substanz eines Baudenkmals eingreift. Ein Eingriff, der über das zur Herstellung der Standsicherheit Erforderliche hinausgeht, ist im Kontext eines historischen Baudenkmals unangemessen. Ein nicht ganz dringender Eingriff kann künftigen, besser informierten Generationen überlassen werden.

Jeder ältere Eingriff in ein Baudenkmal ist ebenfalls Teil von dessen Geschichte; Reparaturen legen ebenso wie Neukonstruktionen Zeugnis ab von dem zeitgenössischen Stand von Bautechnik und Bauwissenschaft. Daher sind auch ältere Reparaturen als Teil des Tragwerks unbedingt zu respektieren und in situ zu belassen, soweit sie nicht nachgewiesenermaßen schädigende Wirkung haben. In vielen Fällen sind historische Reparaturen zwar nicht voll wirksam, können aber dennoch ihren Beitrag zu einem sicheren Gesamtsystem leisten. Im schlimmsten Fall kann eine definitiv schädliche historische Konstruktion außer Funktion gesetzt werden, jedoch materiell im Bauwerk verbleiben (z. B. Unterbrechung des kraftschlüssigen Anschlusses).

Das Arbeiten am historischen Tragwerk stellt für den Ingenieur eine unkonventionelle, zur Neuplanung nicht konforme und manchmal auch schwierige Aufgabe dar. Sie ist aber auch besonders reizvoll, weil sie individuelle und lokale Lösungen fordert und keine Anwendung billiger Rezepte und „Regeldetails“ zulässt. Sie fordert vom Tragwerksplaner historisches Bewusstsein, Verantwortung und Respekt. Die Analyse und Sicherung historischer Tragwerke ist so alt ist wie das Bauwesen selbst. Aus dem 18. Jh. sind die ersten Diskussionen derartiger Maßnahmen in der Literatur überliefert. Bild 1.3 zeigt als Beispiel die Notsicherung eines Gewölbes der mittelalterlichen Brücke über die Loire bei Orléans. Diese Sicherung mutet durchaus modern an und zeugt von einem guten Verständnis der Mechanik des Brückengewölbes. Im Gegensatz zu modernen denkmalpflegerischen Sicherungen war diese Maßnahme allerdings nur zu Erhaltung der Brücke bis zur Fertigstellung eines daneben entstehenden Neubaus bestimmt. Bekannt sind auch die im 18. Jh. durchgeführten, auf Dauer bestimmten Ertüchtigungen an den Kuppeln des Petersdoms in Rom und des Panthéons in Paris.

Bild 1.3 Sicherung der mittelalterlichen Loire-Brücke von Orléans im 18. Jh. [Pitrou 1756].

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Für bedeutende, ingenieurtechnisch anspruchsvolle Sicherungsarbeiten an denkmalgeschützten, historischen Bauwerken im frühen 20. Jh. steht der Name Georg Rüth (1880–1945). Rüth machte sich insbesondere mit der Unterfangung der Fundamente und mit der Sicherung der Vierungskuppeln des Mainzer Domes einen Namen. In einem zusammenfassenden Aufsatz zu diesen Arbeiten formulierte Rüth Leitsätze, die noch heute unverändert Gültigkeit haben: „Interessant ist die Verschiedenartigkeit der Ursachen, die bei alten Bauwerken zu Schäden und Zerstörungen führen. […] Es ist deshalb in erster Linie wichtig und notwendig, sämtliche Schadensursachen aufzuklären. Die Feststellungen in dieser Art können erst dann als vollkommen bezeichnet werden, wenn sämtliche Erscheinungen und Beobachtungen an den gefährdeten Bauwerken sich restlos erklären lassen.“ [Rüth 1929, S. 249].

Nach dem Zweiten Weltkrieg erwarb sich Klaus Pieper große Verdienste bei der Notsicherung und dem Wiederaufbau kriegszerstörter historischer Tragwerke. Pieper fasste seine Erkenntnisse und Erfahrungen 1983 in seinem Buch über die „Sicherung historischer Bauten“ zusammen [Pieper 1983]. Piepers Buch wird auch heute noch gern zitiert und ist zu einem Referenzwerk geworden, obwohl sein Autor selbst es nicht als solches konzipiert hatte. Gegenüber Piepers Zeit hat sich freilich die Bauaufgabe am historischen Tragwerk heute wieder deutlich verändert: Nicht der Wiederaufbau, die Rekonstruktion des äußeren Erscheinungsbildes, gegebenenfalls auch mit modernen Techniken, sondern die möglichst wenig in die Substanz eingreifende Bestandssicherung und Ertüchtigung steht im Vordergrund. Manche denkmalpflegerischen Grundsätze, die damals beim Wiederaufbau eines kriegszerstörten Monumentes nur eine zweitrangige Bedeutung haben konnten, sind heute prominent: Sicherungen sollen möglichst wenig originale Substanz wegnehmen, sollen das vorgefundene, historische Tragwerk wieder in seine ursprünglich intendierte Wirkung zurückversetzen und sollen möglichst reversibel sein. In manchen Fällen führt die letztgenannte Forderung zur Herstellung von additiven Tragwerken, die die historische Struktur entlasten („Subsidiärtragwerke“).

Das vorliegende Buch versteht sich als Anleitung zur Analyse historischer Tragwerke. Um historische Tragwerke überhaupt vernünftig aufnehmen und beurteilen zu können, muss man zunächst die üblichen Konstruktionen kennen. Im diesem Werk werden daher typische historische Tragwerksformen vorgestellt. Oftmals hat die historische Entwicklung von einfach auszuführenden Entwürfen zu komplexeren Systemen geführt. Auch das Tragverhalten zeigt häufig eine entsprechende Entwicklung vom einfach zu durchschauenden System zum unübersichtlichen statisch unbestimmten System. Mauerwerks- und Holzkonstruktionen (in Band 2) werden in aufsteigender Komplexität präsentiert, was meist einer Besprechung in historischer Entwicklungsreihenfolge gleichkommt. Bei der Besprechung der Tragwerksformen wird auf typische Schwachpunkte hingewiesen, denen bei der Inspektion des Tragwerkes besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Historische Bauvorgänge werden erläutert, soweit sie für das Tragverhalten der Konstruktion von Bedeutung sein können. Es schließen sich Vorschläge zur statischen Modellbildung an. Dabei wurde Wert darauf gelegt, konkrete, direkt in der Praxis anwendbare Hinweise zu geben, aber auch deren theoretische Begründung mitzuteilen. Auf die vollständige Darlegung unübersichtlicher, komplett durchgerechneter Praxisbeispiele wurde zugunsten der exemplarischen Analyse typischer Einzelpunkte und Einzelfragen verzichtet, weil jedes historische Tragwerk als Ganzes ohnehin ein Spezialfall ist, der eine individuelle Betrachtung erfordert, während sich Einzelelemente historischer Tragwerke oft wiederholen und in einem Lehrbuch wie dem vorliegenden nachgeschlagen werden können. Die Praxis zeigt, dass recht einfache Tragwerksmodelle historischer Strukturen oft schon durch wenige, leicht umzusetzende Modifikationen wesentlich besser an die Realität angepasst werden können. Was solche Modellanpassungen in der Praxis oft verhindert, ist das Fehlen nachschlagbarer Zahlenwerte. Diese werden im diesem Buch geliefert.

Das vorliegende Werk ist keine Anleitung zum Nachweis einer Ertüchtigung nach geltenden Normen. Eine Ertüchtigung ist eine moderne Konstruktion und wird nach den üblichen Regeln für Neubauten geplant und nachgewiesen. Ergänzende Hinweise zur Anwendung der jeweils aktuellen Normen auf Bestandsbauten findet man in [ARGEBAU 2008]. Die wenigsten Tragwerksplaner werden damit Schwierigkeiten haben. Schwierigkeiten bereitet es vielmehr, sich in ein existierendes Tragwerk und dessen Tragverhalten hineinzudenken und die Spuren korrekt zu lesen. Dieses Buch will diese Schwierigkeiten ansprechen und somit primär eine Anleitung zum Sehen, Denken und Verstehen sein.

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Der gemauerte Bogen

2.1 Form und Konstruktion historischer Bogentragwerke

Die Analyse des Tragverhaltens von Bögen und Gewölben hat die Baumeister und Ingenieure seit der Renaissance intensiver und anhaltender beschäftigt als wohl nahezu jedes andere Thema. Dennoch stellen gewölbte Strukturen auch heute noch für jeden Tragwerksplaner eine besondere Herausforderung dar: Zum einen ist es schwierig, sich in dem schier unübersehbaren Dickicht älterer und neuerer Publikationen zum Thema der Gewölbe zurechtzufinden; zum anderen sind gemauerte Gewölbe dem heutigen Tragwerksplaner wenig vertraut, da Gewölbe nur noch selten ausgeführt werden und die modernen Vorschriften zum Mauerwerksbau kaum auf die Bedürfnisse der Beurteilung historischer Gewölbebauten abgestimmt sind. Daher kommt es nicht selten vor, dass historische Gewölbe falsch beurteilt werden. Insbesondere werden Risse oft unnötigerweise als Alarmzeichen interpretiert. Um das Tragverhalten gewölbter Mauerwerksstrukturen zu verstehen, ist es sinnvoll, sich zunächst dem relativ übersichtlichen Fall des ebenen Bogens zuzuwenden.

Das Grundelement aller gewölbten Strukturen ist der aus Keilsteinen gefügte Bogen (Bilder 2.1 und 2.2). Der Bogen setzt in der Regel über einer senkrecht gemauerten Wand, einem Pfeiler oder einer Säule an. Der Bogen selbst besteht aus radial ausgerichteten, häufig auch keilförmig ausgebildeten Steinen. Sind die Steine selbst nicht keilförmig, so wird die Krümmung dadurch erzielt, dass die Mörtelfugen nach außen hin keilförmig verdickt sind.

Bild 2.1 Römischer Rundbogen aus mörtellos gefügtem Werkstein (römisches Theater Férento, Latium).

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Bild 2.2 Bogenformen. Markiert ist jeweils die Lage der Kreismittelpunkte. Die Lichtweite aller dargestellten Bögen ist gleich groß.

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Der Ansatzpunkt des Bogens (Kämpfer) wird häufig durch ein profiliertes Gesims hervorgehoben. In der Regel liegen beide Kämpfer des Bogens auf gleicher Höhe, können also gedanklich durch eine horizontal verlaufende Bogensehne verbunden werden. Die horizontal gemessene Entfernung zwischen den Kämpfern wird als Lichtweite oder Spannweite bezeichnet. Die in historischen Bauwerken üblicherweise auftretenden Bögen unterscheiden sich in der Bogenform und im Pfeilverhältnis. Das Pfeilverhältnis ist definiert als das Verhältnis zwischen dem Bogenstich und der Länge der Bogensehne zwischen den Kämpfern. Der Bogenstich ist definiert als vertikaler Abstand zwischen dem höchsten Punkt des Bogens (Bogenscheitel) und der Kämpfersehne. Je nach Bogenform (vergleiche die Übersicht in Bild 2.2) ergeben sich unterschiedliche Pfeilverhältnisse:

Rundbogen

Bogen in Form eines Halbkreises. Der Rundbogen ist die häufigste Bogenform an römischen Monumentalbauten (Amphitheater, Brücken, Aquädukte; Bild 2.1) und dominierte auch die Baukunst des frühen und hohen Mittelalters (Romanik). Nach dem Zwischenspiel der den Spitzbogen bevorzugenden Gotik (12.–15. Jh.) wurde der Rundbogen auch in der Baukunst der Frühen Neuzeit wieder häufig eingesetzt (15.–19. Jh.). Beim Rundbogen sind Spannweite und Stichhöhe strikt aneinander gekoppelt, das Pfeilverhältnis ist 1:2. Je größer die Spannweite, desto höher steigt der Bogen auf. Römische und hochmittelalterliche Brücken weisen daher oft eine zur Flussmitte hin ansteigende Fahrbahn auf, weil man sich bemühte, den mittleren Bereich des Flusses – die Zone der stärksten Strömung – mit besonders weitgespannten Bögen zu überbrücken, und andererseits an der Rundbogenform festhalten wollte.

Spitzbogen

Bogen, der sich aus zwei Kreissegmenten zusammensetzt, die im Scheitel nicht tangential aneinanderstoßen, sondern einen Knick ausbilden. Wenn die Mittelpunkte der beiden Kreissegmente auf der horizontalen Verbindungsgeraden der Bogenansätze liegen, weist der Spitzbogen am Ansatz eine vertikale Tangente auf. Liegen die beiden Mittelpunkte jeweils genau auf dem Ansatz des gegenüberliegenden Bogenschenkels, so ist dem Bogen ein gleichseitiges Dreieck einbeschrieben. Diese optisch ausgewogene Bogenform (frz. „arc en tiers-point“ genannt) begegnet häufig bei gotischen Bauten. Liegen die Mittelpunkte der beiden Schenkel im Inneren der Spannweite, so entsteht ein nur mäßig zugespitzter Bogen. Liegen die Mittelpunkte der beiden Bogenschenkel hingegen außerhalb der Spannweite, so entsteht ein stark zugespitzter Bogen („Lanzettbogen“). Brückenbögen der Gotik weisen häufig die Spitzbogenform auf. Im Gegensatz zum Rundbogen sind beim Spitzbogen Spannweite und Stichhöhe nicht starr gekoppelt. Typischerweise ist beim Spitzbogen das Pfeilverhältnis größer als 1:2. Gelegentlich treten allerdings auch korbbogige Spitzbögen auf, deren Pfeilverhältnis kleiner als 1:2 sein kann.

Korbbogen

Ein symmetrischer Korbbogen setzt sich aus mindestens drei Bogensegmenten unterschiedlicher Radien zusammen. Die einzelnen Bogensegmente sind beim Korbbogen tangential aneinander gestückelt. In der Regel setzt ein Korbbogen am Bogenanfang mit einer starken Krümmung an, während im Scheitelbereich die Krümmung geringer ist. So entsteht ein „gedrückter“ Bogen, der optisch einer liegenden Ellipse ähnelt, jedoch viel einfacher zu zeichnen und zu konstruieren ist als ein tatsächlich elliptischer Bogen. Der Korbbogen hat typischerweise ein Pfeilverhältnis unter 1:2. Man kann auch zwei korbbogig gekrümmte Bogenschenkel zu einem Spitzbogen zusammensetzen und so einen gedrückten Spitzbogen erzeugen (üblich in der englischen Spätgotik). Der Korbbogen ist in Antike und Mittelalter weitgehend unbekannt und tritt erst seit der Frühen Neuzeit häufiger auf, vor allem in der Architektur des 16.–19. Jhs. So spielten im französischen Brückenbau des 17. und 18. Jhs. gedrückte korbbogige Gewölbe – bestehend aus bis zu einundzwanzig Bogensegmenten – eine herausragende Rolle. Durch die Verwendung des Korbbogens ließ sich auch bei großer Spannweite eine geringe Stichhöhe erzielen, so dass – unabhängig von den gewählten Pfeilerabständen – bei Brücken eine horizontal verlaufende Fahrbahn möglich wurde. Neben „gedrückten“ Korbbögen kommen auch „gestreckte“ oder „überhöhte“ Korbbögen vor (Pfeilverhältnis über 1:2). Bei derartigen Korbbögen ist der Bogen im Scheitel stärker gekrümmt als am Bogenanfang.

Segmentbogen

Ein Segmentbogen besteht nur aus einem einzigen Kreissegment, weist jedoch nicht wie der Rundbogen einen Öffnungswinkel von 180° auf, sondern einen geringeren Öffnungswinkel. Somit eignet sich auch der Segmentbogen zur Konstruktion flachgespannter Brückengewölbe; das Pfeilverhältnis ist geringer als 1:2. Allerdings wurde die Tatsache, dass der Bogen bei der Wahl der Segmentbogenform nicht mit einer vertikalen Tangente ansetzt, lange Zeit als architektonisch unschön empfunden. Daher wurde gegenüber dem Segmentbogen häufig der Korbbogen bevorzugt. Weitgespannte Segmentbögen finden sich dennoch schon im Mittelalter häufig, so z. B. an der im 13. Jh. entstandenen Brücke über die Rhone in Pont-Saint-Esprit (Frankreich). Noch wesentlich flachere Segmentbögen kamen, nach Vorbild des Florentiner Ponte Vecchio (vollendet 1345), vor allem ab dem 16. Jh. in Gebrauch, zum Beispiel an der Rialto-Brücke in Venedig und an der Fleischbrücke in Nürnberg (1596–98). Auch im 18. und 19. Jh. wurden häufig segmentbogige Brücken erbaut. Im Extremfall der im II. Weltkrieg zerstörten Brücke von Saint-Dié (François Michel Lecreulx, 1803–13) erreichte das Pfeilverhältnis 1:18 (Bild 2.3).

Bild 2.3 Extremfall eines flach gespannten Segmentbogens: Grand Pont von Saint-Dié, Frankreich (Postkarte, vor 1905).

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Einhüftiger Bogen

Als einhüftige Bögen werden unsymmetrische Bögen bezeichnet. Ein derartiger Bogen kann beispielsweise die Form eines halbierten Rundbogens (Viertelkreis) aufweisen. Einhüftige Bögen treten vor allem als Strebebögen (Bild 2.4) und als Tragkonstruktion von Treppenläufen auf.

Scheitrechter Bogen

Im Extremfall des flach gespannten Bogens geht das Pfeilverhältnis gegen null. Ein derartiger Bogen hat die Form eines horizontal auf die Kämpfer gelegten Steinbalkens. Der scheitrechte Bogen wird jedoch wie ein normaler Bogen aus Keilsteinen gebildet (Bild 2.5). Er ist die einzige historische Bogenform, bei der die Lagerfugen nicht senkrecht zur Achse des Bogens stehen und auch die Innen- oder Außenfläche nicht im rechten Winkel schneiden. Neuzeitliche scheitrechte Bögen größerer Spannweite enthalten häufig Eiseneinlagen.

Weitere Bogenformen – parabelförmige Bögen, elliptische Bögen und Bögen in Form der Kettenlinie – sind in der historischen Baukunst extrem selten anzutreffen. Dies hängt nicht nur damit zusammen, dass diese Kurven unter baupraktischen Bedingungen kaum mit ausreichender Genauigkeit geometrisch zu konstruieren sind, sondern vor allem damit, dass ein Bogen konstanter Dicke, dessen Mittelachse eine Parabel, Ellipse oder Kettenlinie ist, eine Innen- und Außenfläche aufweist, die einer anderen, differentialgeometrisch nur schwierig zu bestimmenden Gleichung gehorcht (Offset-Kurve). Überdies können nur bei abschnittsweise kreisförmig gekrümmten Bögen konstanter Dicke die Lagerfugen gleichzeitig auf Innenfläche und Bogenachse senkrecht stehen, wie es die unumstößliche Regel der traditionellen Maurer- und Steinmetzkunst fordert.

Bild 2.4 Freistehende gemauerte gotische Strebebögen unterschiedlicher Geometrie (links: Kathedrale von Ely, England; rechts: Münster von Straßburg, Elsass).

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Bild 2.5 Scheitrechter Bogen (Louvre, Paris).

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Bild 2.6 Bezeichnungen am Bogen.

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Die innere Fläche des Bogens, die von unten sichtbar ist, wird als Bogenlaibung (Intrados) bezeichnet (Bilder 2.6 und 2.7). Die optische Erscheinung des Bogens wird durch die Form des Intrados bestimmt. Optisches Erscheinungsbild und tatsächliche Konstruktion entsprechen sich jedoch häufig nicht. Viele Bögen haben einen Bogenrücken (Extrados), der nicht parallel zum Intrados verläuft. Die Bogenoberseite kann eine flachere Form als die Bogeninnenseite aufweisen; auch abgestufte Dickenänderungen des Bogens vom Bogenkämpfer bis zum Scheitel sind häufig. Strebebögen haben meist einen geradlinig verlaufenden Bogenrücken (Bild 2.4).

Bild 2.7 Intrados-Ansicht am Eisenbahnviadukt von Chaumont (Haute-Marne/Frankreich, 1856). Das Kleinquadermauerwerk der Bögen wird an der Kante zur Ansichtsseite durch große Keilsteinquader eingefasst. Die wahre Bogendicke kann an der Ansichtsfläche nicht abgelesen werden.

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Die statisch wirksame Bogenweite ist typischerweise nicht identisch mit der optisch wirksamen Lichtweite. Der Bogen setzt meist über einem Anfänger an, einem speziellen Stein, der noch im Verband mit dem normalen aufgehenden Mauerwerk steht, also auf der Unterseite eine horizontale Lagerfuge aufweist und nur auf der Oberseite abgeschrägt ist (Bild 2.1). Dieser sogenannte Bogenanfänger (oder, frz., „tas-de-charge“) kann sich auch aus mehreren horizontal vorkragenden oder radial angeordneten Steinschichten zusammensetzen. Da der Bogenanfänger im Verband mit dem aufgehenden Mauerwerk steht, nimmt er keinen Anteil an der eigentlichen Bogentragwirkung. Statisch beginnt der Bogen erst an der Oberkante des Anfängers. Auch ein Halbkreisbogen hat daher statisch meist einen Öffnungswinkel unter 180° bzw. eine Stützweite (statisch wirksame Bogenweite), die kleiner ist als die optisch wirksame Lichtweite. Typischerweise liegt das statisch wirksame Bogenauflager bei einem Winkel von 20–30° gegenüber der Horizontalen.

Auf der Bogenoberseite wird der Bogenrücken häufig nur im Mittelbereich sichtbar; seitlich sind die Zwickel üblicherweise bis zu einer gewissen Höhe mit losem Material aufgefüllt oder sogar regelmäßig ausgemauert. Bei Brücken ist eine Hinterfüllung bis zum Bogenscheitel selbstverständlich nötig, um die Brückenfahrbahn anlegen zu können. Die Hintermauerung oder Hinterfüllung hat oft einen wesentlichen stabilisierenden Einfluss, der die Standsicherheit des Bogens gewährleistet.

Bei Brückenbögen und bei Bögen im Wandverband ist von der Ansichtsseite her der Bogenzwickel nicht einsehbar, sondern durch eine Zwickelwand („Spandrille“, Stirnwand) geschlossen. Der auf der Ansichtsseite in Erscheinung tretende Bogen kann insbesondere bei Brückenbögen anders konstruiert sein als das eigentliche Bogentragwerk: Die Steine des auf der Ansichtsseite sichtbaren Bogenlaufes sind manchmal mit der Stirnwand verzahnt, oder es ist ein architektonisch gestalteter Bogenlauf ausgebildet, dessen Stärke größer oder kleiner als die des eigentlichen Tragwerks sein kann. Selbst das Material des auf der Ansichtsseite in Erscheinung tretenden Bogens weicht oft von jenem des eigentlichen Bogentragwerks ab: Bruchstein- oder Backsteinbögen sind auf der Ansichtsseite oft mit Werkstein verkleidet, kleinsteiniges Bogenmauerwerk ist meist auf der Ansichtsseite durch Großquadermauerwerk verblendet (Bild 2.7).

Als Baumaterial für Bögen und Gewölbe kamen Werkstein, Bruchstein und Backstein zur Anwendung. Werkstein war insbesondere in Frankreich das bevorzugte Material (Verfügbarkeit leicht zu bearbeitenden Kalksteins), während historische Gewölbe in Deutschland häufig aus Backstein, sonst auch oft aus Bruchstein hergestellt worden sind. Die Lagerfugen des Bogens zwischen den Keilsteinen stehen senkrecht auf der Innenlaibung (Bilder 2.1, 2.2, 2.8). Bei Werksteinbögen ist die Anzahl der Keilsteine stets ungerade, so dass ein einzelner Stein den Bogenscheitel einnimmt („Schlussstein“). Werksteinbögen bestehen aus präzise nach den Regeln des Steinschnittes („Stereotomie“) zugerichteten Einzelsteinen, die ein fast mörtelloses Fügen erlauben; Werksteinbögen sind auch in völlig mörtelloser Bauweise anzutreffen (römische Bauwerke). Werksteinbögen bestehen meist nur aus einer einzigen Steinschicht in Bogendickenrichtung.

Bild 2.8 Römischer Rundbogen aus Ziegelmauerwerk mit dicken keilförmigen Mörtelfugen und scheitrechter Bogen in mörtelloser Werksteinkonstruktion (römisches Theater, Ferento, Latium).

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Bruchsteinbögen wurden aus hammerrecht mehr oder weniger quaderartig zugerichteten Natursteinen gebaut, die in der Regel mit einem relativ hohen Mörtelanteil versetzt wurden. Die Abgrenzung zwischen Bruchstein und Werkstein ist schwierig. Insbesondere in Frankreich wird auch Mauerwerk aus sorgfältig hergestellten Kleinquadern als „Bruchsteinmauerwerk“ bezeichnet, wenn der Mörtelanteil hoch ist. Bei Verwendung historischer Kalkmörtel waren die Schwind- und Kriechverformungen regellosen Bruchsteinmauerwerks so groß, dass weitgespannte Tragwerke mit dieser Technik nicht ausführbar waren. Die römischen Bruchstein- und „Beton“-Gewölbe wurden mit Mörtel auf Grundlage weniger schwindanfälliger, zementähnlicher natürlicher hydraulischer Kalke erbaut und weisen überdies große Wandstärken auf. An kleinen, ländlichen Brücken und Durchlässen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit findet man in ganz Europa häufig Bruchsteinmauerwerk mit Kalkmörtel. Weitgespannte und schlanke Bogenkonstruktionen aus betonähnlichem, regellosem Bruchsteinmauerwerk wurden hingegen erst möglich, als die historischen Kalkmörtel im Laufe des 19. Jhs. durch künstliche Zemente verdrängt wurden.

Keilförmige Formziegel für Bögen sind im Sichtbacksteinbau (Oberitalien, Deutschland im 19. Jh.) häufig anzutreffen. Bei Backsteinbögen wird die Bogenform jedoch auch oft durch keilförmig nach außen zunehmende Mörtelfugen erreicht (Bild 2.8). Die Stärke gewölbter Strukturen aus Backstein orientiert sich am Steinformat. Historische Backsteine sind in der Regel 1 Fuß lang und 1/2 Fuß breit. „Halbsteinstarke“ Bögen sind also rund 15 cm dick, „steinstarke“ Bögen rund 30 cm. Bei noch dickeren Backsteinbögen wird der Bogen in Dickenrichtung in einem regulären Verband gemauert. Backsteinbögen, die mehr als zwei Steine stark sind, kommen selten vor. Bei sehr dicken Gewölben, wie sie z. B. bei Tunnelauskleidungen, im Festungsbau oder bei Eisenbahnbrücken auftreten, wird die radiale, mörtelgefüllte Lagerfuge nach außen hin sehr stark. In solchen Fällen findet man gelegentlich auch Backsteinbögen, die in mehreren konzentrischen Ringen gewölbt sind. Auch bei gotischen und neugotischen Bauwerken tritt diese Konstruktion gelegentlich auf (Bild 2.9). Diese Ausführungsart galt allerdings in Frankreich und Deutschland mindestens bei weitgespannten Bögen bis weit ins 19. Jh. hinein als regelwidrig (z. B. [Dejardin 1860, S. 261]: „Unumstößliche Regel ist es, ein Gewölbe niemals in Ringen vom Intrados aus oder in unabhängigen Schichten über die Dicke hinweg herzustellen.“). Erst um die Mitte des 19. Jhs. wich der Widerstand gegen diese Bauweise langsam [Breymann 1856, S. 59].

Bild 2.9 Wölbung mit Backsteinen in mehreren konzentrischen Ringen und mit Bogen-Deckschicht (typische Konstruktion der Mitte des 19. Jhs.; Pfarrkirche St. Johann Baptist, München-Haidhausen).

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Beim Bau eines Bogens wird die Bogenform durch Lehrbögen definiert (Bilder 2.10 und 2.11). Sie bestehen aus entsprechend zugeschnittenen, in mehreren Lagen miteinander vernagelten Formbrettern („Bügen“). Bei den üblichen Spannweiten von Bögen des Hochbaus reichten relativ einfache Stützgerüste (Lehrgerüste) aus (Bild 2.11