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Hartmut Jaensch

Börsen-Phasen entschlüsseln

Das sind die Erfolgsfaktoren für Ihre Anlagestrategie

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WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA

 

 

 

 

Für Dorothee, Tim und Florian

Vorwort: Was bedeutet das für mich als Anleger, wenn …

… ich das Geschehen an der Börse nicht durchschaue, bereits mehrfach den richtigen Zeitpunkt für Kauf oder Verkauf verpasst habe und dadurch Geld verloren habe? Ist das Geschehen an der Börse einfach zu komplex, um es als einzelner Anleger zu verstehen? Sollte ich nicht lieber die Finger davonlassen und mit meiner Geldanlage warten, bis die Zinsen wieder steigen?

Tatsächlich scheint es mitunter so zu sein, dass selbst die Fachleute die Börsenwelt nicht durchschauen. »Das ist alles nicht mehr kalkulierbar«, äußerte ein bekannter Börsenexperte im Sommer 2012, als die Börsen das Desaster der Finanzkrise ignorierten und ihren nun mehr schon fast ein Jahrzehnt andauernden Aufschwung scheinbar unbeirrt und allen Warnungen zum Trotz fortsetzten.

Lässt sich das bunte und bis heute unvorhersehbare Börsengeschehen überhaupt irgendwie einfangen? Gab es nicht schon unzählige Versuche, dem schier unbändigen Zufall, dem das Auf und Ab der Finanzmärkte zu unterliegen scheint, mit allen nur erdenklichen Methoden auf die Schliche zu kommen?

Ereignisse wie Kriege, Katastrophen und Kursstürze sowie gigantische Gewinne, große Geldvermögen und Geldströme, die die Geschäfte rund um den Erdball begleiten: Seit es Börsen gibt, liefern sie den Stoff für die scheinbar so undurchdringliche Aura, mit der sich die Finanzmärkte bis in unsere Zeit umgeben. Sie sind denen Argument, die die Finanzmärkte als chaotisches System ansehen, in dem nichts sicher oder im Voraus bestimmbar sei, und die irgendwann die Weltwirtschaft am Abgrund sehen. Genauso wie denjenigen, die ständig darauf verweisen, welch wunderbare Renditen in der Vergangenheit am Aktienmarkt zu erzielen waren – wenn, ja wenn ein Anleger doch nur lange genug und ausdauernd durchgehalten hätte.

Viele Finanzmarktexperten beklagen das geringe Interesse, das normale Bürger der Börse entgegenbringen. Aber nicht nur in Deutschland, sondern in allen führenden Industrienationen begegnet eine Mehrheit der Bevölkerung dem Geschehen an den Börsen mit großer Skepsis. Und es sind keinesfalls nur die Linken, die kritische Bemerkungen zum globalen Wirtschafts- und Finanzsystem, zur Geldpolitik der Notenbanken oder über geldgierige Aktienspekulanten machen und dafür vom breiten Publikum Beifall erhalten. Selbst im Börsenwunderland USA führen Mainstreet, also die überwiegend bürgerliche Gesellschaft, und Wall Street, Synonym für die Finanzeliten, einen unerbittlichen Kampf gegeneinander, der im Herbst 2011 im Schlachtruf »Occupy Wall Street« (Besetzt die Wall Street) gipfelte und von da um die Welt ging.

Bis heute wird darüber gestritten, ob die Finanzkrise von 2008 hätte vorhergesehen und verhindert werden können. Und genauso uneinig sind sich Experten, ob der darauffolgende, über viele Jahre andauernde Aufschwung am Aktienmarkt, der Aktienanlegern Kursgewinne von mehreren hundert Prozent beschert hat, absehbar war oder nicht (und wie lange er sich noch weiter fortsetzen kann). An dem Versuch, wiederholbar die richtige Diagnose über die künftige Entwicklung an den Finanzmärkten zu stellen, sind schon Nobelpreisträger gescheitert.

Vor dreißig Jahren habe ich, einer großen Leidenschaft folgend, begonnen, mich mit den Finanzmärkten zu befassen. Ich stellte mir die Frage, ob man das Börsengeschehen nicht in eine logische Formel fassen kann, nach der ein Anleger seine Anlageentscheidungen treffen könnte. Um zu verstehen, was an der Börse funktioniert und was nicht, bin ich in die Tiefe gegangen. Ich komme aus der Welt der Zahlen, der Daten, der Formeln und der Algorithmen. Von Anfang an habe ich alle mir zugänglichen Methoden und das Vorgehen bei der Aktienanlage auf Plausibilität, auf die Anwendbarkeit und die Ergebnisse hin überprüft. Ich nahm Einblick in das Finanz- und Wertpapiergeschäft einer Bank, den Handel an der Münchener Börse und in das Redaktionsgeschehen eines großen deutschen Anlegermagazins, für das ich während meines Studiums Unternehmen analysierte und Artikel verfasste. Doch schnell merkte ich, dass ich an diesen Orten keine befriedigende Antwort auf meine Frage finden würde, weil dort andere Interessen und Ziele verfolgt werden (müssen) als die des durchschnittlichen Anlegers. Das brachte mich zu der Überlegung, die Welt der Finanzmärkte einmal mit klaren Regeln und schlüssigen Fakten beschreiben zu wollen, die sich logisch nachvollziehen ließen.

Um meinem Ziel näher zu kommen, trug ich umfangreiches Material zusammen. Ich analysierte akribisch insbesondere Daten aus über 100 Jahren Börsengeschichte. Dazu suchte ich in Archiven und Datenbanken unter anderem in Deutschland und den USA nach Zeitreihen und Methoden, mit denen ich in der Lage war, zunächst die weit verbreiteten Standardratschläge zu überprüfen, die seit jeher unverändert von Generation zu Generation weitergegeben werden und die bis heute von vielen als allgemeingültig dargestellt werden: breit streuen, langfristig anlegen, in Schwächephasen zukaufen, in je ein Drittel Gold, Aktien und Anleihen investieren … – und was dergleichen mehr an scheinbar goldenen Regeln kursiert.

Doch je mehr dieser Regeln ich in Formeln fasste, um sie auf ihre Zuverlässigkeit hin zu überprüfen, umso mehr Überraschungen erlebte ich. Sie funktionierten nicht, widersprachen sich zum Teil fundamental und brachten oft sogar weit unterdurchschnittliche Ergebnisse. Und so verwundert es mich heute nicht mehr, wenn die Widersprüchlichkeit oder auch Nicht-Fassbarkeit weit verbreiteter Börsenregeln viele Anleger resignieren lässt.

Das trägt mit dazu bei, dass die meisten Marktteilnehmer die immer gleichen Fehler wiederholen und es nur eine Minderheit schafft, tatsächlich an der Börse Überrenditen zu erzielen. In einer sich vermeintlich immer schneller drehenden Welt lebt es sich nun einmal bequemer, wenn man aufgrund vorgefasster Meinungen handelt und lediglich Bestätigungen für diese akzeptiert, statt das eigene Handeln zu hinterfragen und einen neuen Standpunkt einzunehmen.

Ich werde Ihnen in diesem Buch zeigen, wie Sie diesen Kreislauf durchbrechen – und wie Sie es schaffen, zu denen zu gehören, die tatsächlich besser abschneiden als die Masse der Anleger.

Um es gleich vorwegzunehmen: Dieses Buch bietet Ihnen eben keinen der simplen, oben zitierten Standardratschläge. Davon sind die Regale in den Buchhandlungen bereits übervoll. Und das Leben verläuft eben nicht so, wie es die Finanzsimulationen gerne glaubhaft machen.

Ich biete Ihnen stattdessen einen Einblick in schlüssige Zusammenhänge, die sich logisch nachvollziehen lassen. Mein Ansatz hat klare Indizes, die zeigen, wann ich risikoarm in Aktien investieren kann, ob ein Abschwung bevorsteht, wie die konjunkturelle Gesamtsituation auf die Finanzmärkte wirkt und vieles mehr. Das Tagesgeschehen an den Finanzmärkten interessiert mich hingegen nur am Rande: Fernab vom Trubel lege ich entspannt an, weil ich mich auf ganz bestimmte, immer gleiche Faktoren konzentriere, deren Entwicklung ich aufmerksam und konsequent verfolge.

In diesem Buch gehe ich Kapitel für Kapitel die wichtigen Faktoren an den Finanzmärkten durch und zeige ihre Einflüsse auf die Aktienmärkte. Wenn Sie die Kräfte und deren immer gleiche Auswirkung auf die Finanzmärkte im Laufe der Weltgeschichte bis heute kennen, sind Sie nicht nur gegen die ständig wechselnden Stimmungen und Ereignisse immunisiert. Mit diesem Wissen schaffen Sie sich die für eine neue Perspektive notwendige Distanz, von der aus Sie objektiv einschätzen können, welchen Folgen Inflation, Arbeitslosenquoten, Kriege oder Naturkatastrophen tatsächlich auf die Aktienmärkte haben.

Um an der Börse erfolgreich zu sein, braucht es auch keine Vorhersagen über den künftigen Verlauf – eine solche Vorstellung wäre grundlegend falsch. Und selbst das umfangreichste System wird niemals die Wirklichkeit vollständig erfassen und abbilden, geschweige denn prognostizieren können. Wichtig ist nur, dass Sie erkennen und unterscheiden können, wann es an der Börse wirklich gefährlich wird und wann Sie risikoarm investieren können.

Ihr Erfolg wird dabei zuletzt immer auch zu einem Teil Ihrer Intuition geschuldet bleiben. Daher ist es wichtig, dass Sie zuvor zu einer klaren Überzeugung kommen, anhand derer Sie Ihre Entscheidungen fällen. Wenn dieses Buch es schafft, Ihre Kritikfähigkeit gegenüber den Standardratschlägen zu schärfen, und Sie mit einer neuen, unabhängigen Perspektive an Ihre Anlageentscheidungen gehen lässt, dann sind Sie gut gerüstet für Ihre ganz persönliche Börsenzukunft.

Als ich mit meinen Forschungen begann, war ich nicht von dem Willen getrieben, Geld zu verdienen, sondern ich war von der Faszination des Themas gepackt. Meine jahrelange Suche wurde schließlich von Erfolg gekrönt. Da aber niemand jemals etwas hervorgebracht hat, ohne zuvor von anderen Menschen profitiert zu haben, die bereit waren, ihr Wissen, ihre Erkenntnisse und Ideen bereitwillig weiterzugeben, ist es mir auch ein Bedürfnis, mein Wissen mit Ihnen, meinen Lesern, zu teilen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie mit Hilfe dieses Buches Ihr Geld in Zukunft gelassen, unabhängig, eigenständig und mit größerem Erfolg anlegen können! Und ich kann Ihnen versichern: Mit dem richtigen Durchblick ist es eine große Freude, Anlageentscheidungen an der Börse selbst zu treffen.

Teil I:
UNSICHERHEIT

1. Kapitel: Wenn ich immer den richtigen Zeitpunkt verpasse

»Die Rente ist sicher.« Mit diesem Satz wehrte sich der damalige Arbeitsminister Norbert Blüm am 10. Oktober 1997 im deutschen Bundestag gegen eine Kampagne der Bild-Zeitung. Die hatte damals gegen die umlagebasierte Rentenversicherung gestichelt und so eine Steilvorlage für die Finanzbranche geliefert, die immer schon die Überlegenheit einer kapitalgebundenen Altersvorsorge, zum Beispiel in Form von Aktienanlagen, predigte. Die 1980er- und die 1990er-Jahre waren ein Börsen-Eldorado und schlicht die Jahrzehnte für amerikanische und europäische Anleger gewesen. Und hatten nicht gerade diese Jahre gezeigt, welch gewaltige Renditen an der Börse zu erzielen sind? Fast 14 Prozent jährlich hatten deutsche Aktien inklusive Dividenden – gemessen am DAX – zwischen Anfang 1980 bis Ende 1997 im Durchschnitt zugelegt. Umgerechnet wären aus 50 000 Euro in diesem Zeitraum über 425 000 Euro und damit selbst ein Eigenheim in München erschwinglich geworden. Vergleichsweise kärglich waren dagegen die jährlichen Rentensteigerungen und die Renditen der schon damals mager verzinsten Sparbücher.

Elf Jahre und zwei Krisen später fiel wieder ein denkwürdiger Satz. »Die Spareinlagen sind sicher.« Diesmal nicht aus dem Mund eines Ministers, der Maßnahmen seines Ressorts verteidigte, sondern ausgesprochen von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die im Winter 2008 die Weltuntergangsängste der Sparer während der Finanzkrise beruhigen musste. Viel schlimmer als die Sparer hatte es jedoch die Aktienbesitzer getroffen, die zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrzehntes miterleben mussten, wie sich auf dem Tiefpunkt einer Börsenkrise über 50 Prozent ihres Aktienvermögens wieder in Luft aufgelöst hatten.

Wer bereits 1997, auf hohe Rendite hoffend, sein Geld langfristig dem deutschen Aktienmarkt anvertraut hatte, der hatte zwar, bezogen auf den DAX, Ende 2008 noch eine Mini-Rendite von umgerechnet einem Prozent pro Jahr erzielt. Aber das konnte dabei weder mit den in der Zwischenzeit mit Zinsanlagen erzielten Erträgen Schritt halten, noch annähernd eine Kompensation für die nervenaufreibende Achterbahnfahrt an den Aktienmärkten bieten. Hinzu kam die Angst vor einer neuen Weltwirtschaftskrise, in der auch noch das letzte verbliebene Aktienvermögen Gefahr lief, aufgezehrt zu werden. Dann also künftig doch lieber wieder brav sparen?

Nach weiteren zehn Jahren und im Umfeld historisch tiefer Zinsen sowie nach wie vor niedriger Reallöhne scheint aber auch das Sparen gar keine so sichere Angelegenheit zu sein. Die Sparer werden durch Geldentwertung kalt enteignet und zahlen, gemeinsam mit den Steuerzahlern, die Zeche für die Eskapaden an den Finanzmärkten. Und mit dieser Ansicht sind sich die Stammtische und ausnahmsweise auch Politiker jeder Couleur einig wie sonst nie.

Also wohl dem, der Immobilien hat? In Zeiten niedriger Zinsen und unberechenbarer Aktienmärkte erscheint das für viele eine beruhigende Alternative. Und die meisten, die den Traum von den dauerhaft gesicherten Mieteinnahmen, verbunden mit der Aussicht auf hohe Wertsteigerungen des Objekts träumen, haben schon wieder vergessen, dass die Immobilienpreise in der Finanzkrise ebenfalls einbrachen. Selbst in Deutschland sind manche Hausbesitzer durch säumige Mieter, die ihre Arbeitsplätze verloren hatten, in Existenznöte geraten, weil sie mangels Mieteinnahmen Darlehen nicht bedienen konnten.

Wie man es macht, macht man es verkehrt

Trotz der bitteren Erfahrung der Finanzkrise steht die Anlagestrategie »langfristig anlegen und breit streuen« bei vielen Anlageberatern weiter hoch im Kurs. Und in der Tat: Die Betrachtung von Charts des Dow Jones, DAX & Co. scheint ja zu belegen, dass an den Aktienmärkten im Durchschnitt und bis heute eine attraktive Rendite erzielt wird. In den vergangenen 50 Jahren betrug der jährliche Zuwachs in Deutschland beispielsweise etwa 6,6 Prozent pro Jahr (DAX Januar 1968 bis Januar 2018). Ähnlich war es in den USA. Kapitalmarktexperten werden dabei auch nicht müde, die vergleichsweise hohe Rendite einer Aktienanlage auf relativ wenige Tage mit hohen Kurssteigerungen zurückzuführen, in denen es wichtig sei, investiert zu sein. Da aber niemand in der Lage sei, diese Tage vorherzusagen, bleibe es wichtig, durch die Marktzyklen hindurch dauerhaft investiert zu bleiben. Zeit sei daher wichtiger als der Zeitpunkt, wobei das Auf und Ab an der Börse dann der Preis sei, den der Anleger für eine höhere Rendite zu zahlen bereit sein müsste.

Diese Ansicht teile ich ganz und gar nicht, denn ein in Aktien investiertes Vermögen unterliegt bei dieser Strategie sehr starken Schwankungen. Besonders erstaunlich ist dabei, dass der Dow-Jones-Index über den langen Zeitraum der vergangenen 50 Jahre nur in knapp sechs Prozent des Anlagezeitraums überhaupt zulegen konnte, also neue Höchststände erreichte – und die sind ja Voraussetzung für einen Zuwachs beim zuvor eingesetzten Kapital.

In der übrigen Zeit wurden die zuvor erzielten Gewinne zum großen Teil wieder abgegeben. Statistisch gesehen betrug die Gesamtzeit, in der Kursgewinne erzielt wurden, nur drei Jahre, hingegen sind es 47 Jahre, in denen diese zum Teil wieder verloren gingen. Die Enttäuschung, die schönen Gewinne nicht behalten zu dürfen, und das Gefühl, ständig wieder im Verlust zu liegen, lösen bei vielen Menschen zu Recht Unbehagen und Unzufriedenheit aus.

Ein Anleger, der in der Finanzkrise von 2007 bis 2009 zeitweise über 50 Prozent seines vorher so mühsam erwirtschafteten Vermögens verlor, musste anschließend fast sechs Jahre abwarten, bis die Aktienverluste endlich wieder aufgeholt waren und der alte Stand überhaupt erst wieder erreicht war.

Die Rendite eines Vermögens, das Anfang 1961 in Aktien von DAX-Unternehmen angelegt wurde, betrug im Sommer 2007 auf dem damaligen Index-Höchststand ungefähr sechs Prozent. Nach dem tiefen Fall der Kurse lag diese im März 2009 bei nur noch vier Prozent. Die häufig propagierte Überlegenheit der Aktienanlage gegenüber anderen Anlageformen ist also keinesfalls ein Dauerzustand.

Hohe Gewinnrenditen werden nämlich nur durch rechtzeitiges Verkaufen gesichert. Sonst geht es Ihnen wie den Kandidaten bei Günter Jauchs »Wer wird Millionär«: Gewinne kann nur der mit nach Hause nehmen, der rechtzeitig aussteigt.

Das Dilemma lässt sich anhand der Grafik in Abbildung 1.1 am besten verdeutlichen. Der untere Chart zeigt Ihnen den Verlauf des Dow-Jones-Indizes. Er steigt langfristig und unter Schwankungen an, solche Charts finden Sie auch in den Verkaufsprospekten von Fondsprodukten. Aber der Langfristchart zeigt nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit unterliegt ein so dauerhaft in Aktien angelegtes Vermögen gigantischen Schwankungen – und genau das zeigt Ihnen der obere Graph. Da sind zum einen die relativ kurzen Zeiträume, in denen die Aktien tatsächlich neue Höchstkurse erreichen; der Graph liegt dann über der 100-Prozent-Marke und leicht in der Vermögenszuwachszone. Doch dieser Vermögensstand bleibt so nicht lange erhalten. So grenzt es schon fast an Wahnsinn, wenn ein Anleger, der sich gerade noch über Kursgewinne und ein hohes Vermögen gefreut hat, das über mehrere Jahrzehnte entstanden ist, anschließend innerhalb von wenigen Monaten zwischen 30 und 50 Prozent genau dieses Einsatzes wieder verliert. Und jetzt die Geduld aufbringen und weitere Jahre warten, bis dieser Verlust überhaupt erst wieder aufgeholt ist? Ich kann es niemandem verdenken, wenn er nach solch bitteren Erfahrungen dem Aktienmarkt den Rücken gekehrt hat.

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Abb. 1.1: In über 90 Prozent des Anlagezeitraums erodiert das Aktienvermögen (wieder), Datenbasis: US-Federal Reserve Bank (bis 1999) und Lenz & Partner, VWD-Group (ab 2000)

Die richtige Zeit für den Ein- und Ausstieg

Anleger laufen aber nicht nur Gefahr, in einen tiefen Abschwung zu geraten und Geld zu verlieren, sondern auch, zu früh auszusteigen und weitere Kursgewinne zu versäumen. Viele Anleger, private wie institutionelle, haben zum Beispiel den langjährigen Börsenaufschwung, der im März 2009 seinen Anfang nahm, verpasst – zumindest zu einem großen Teil. Unter Finanzexperten gilt dieser langjährige Anstieg daher als die »am meisten gehasste Hausse« aller Zeiten.

Immer wieder finden sich auch heute Experten, die verlauten lassen, es sei doch glasklar erkennbar gewesen, dass die Aktienkurse im Sommer 2007 übertrieben hoch standen, dass es also höchste Zeit gewesen sei, zu verkaufen – und dass im Vergleich dazu die Aktien im Frühjahr 2009 spottbillig gewesen seien. Wer also damals mutig war und gekauft hat, der würde demnach heute auf hohen Kursgewinnen sitzen.

Wer so argumentiert, unterliegt dabei in aller Regel dem sogenannten Rückschaufehler. Im Nachhinein und mit dem heutigen Wissen erscheint alles Geschehen logisch und einleuchtend. Da lassen sich leicht Faktoren finden, mit denen dann alles passend gemacht werden kann. Aber in der Gegenwart, in der die Zukunft ja noch unbekannt ist, ist es viel schwerer, die richtigen Entscheidungen zum richtigen Zeitpunkt zu treffen. Lassen Sie mich Ihnen als Beispiel dafür eine Geschichte erzählen, bei der ich Ihnen zunächst erst einmal nicht verrate, in welcher Zeit sie spielt:

Solche Ereignisse zeigen, dass es sowohl den Profis als auch den meisten Anlegern schwerfällt, in der Praxis die richtige Entscheidung zu treffen. Darüber hinaus werfen solche Vorkommnisse auch im Nachhinein noch viele Fragen auf.

Warum hat das niemand kommen sehen?

Nach dem Börsencrash machte der spätere Nobelpreisträger Robert Shiller zusammen mit Studenten der Yale University eine Umfrage unter Anlegern und verblüffte mit den Ergebnissen nicht nur die Fachwelt: Die meisten Anleger gaben an, dass sie schon im Vorfeld gewusst hätten, dass die Aktienkurse übertrieben hoch standen. Aber nur sehr wenige hatten rechtzeitig verkauft; es überwog die Annahme, dass es schon nach kurzer Korrektur mit den Kursen weiter aufwärts gehen würde.

Jahre später und als die Stimmung an den Aktienmärkten gerade gut war, bezeichnete ein Fondsmanager den Börsencrash von 1987 einmal spöttisch als »Treppenwitz«, über den schnell wieder hinweg zur Tagesordnung gegangen werden könne. Denn die Geschichte habe ja bewiesen, dass es an der Börse langfristig immer nach oben geht.

Doch der Schein trügt hier gewaltig: Nachträglich ist es immer leicht, über so eine Episode in wenigen Minuten hinwegzugehen. Wenn sich aber das über mehrere Jahre am Aktienmarkt angesparte Vermögen plötzlich zu großen Teilen in Luft auflöst, ist das Erleben einer solchen Crash-Situation in Wahrheit schier unerträglich. Schließlich zerplatzen dabei auch Träume und Vorhaben, die mit dem so zuvor erstandenen Geld in die Tat umgesetzt werden sollten. Hinzu kommen endlose Zweifel darüber, ob es noch weiter nach unten geht, und die Ungewissheit, wann der alte Vermögensstand (wenn überhaupt) wieder erreicht werden kann. Das lässt die Geldanlage in Aktien dann zu einer emotionalen Achterbahnfahrt werden, bei der die meisten aus der Kurve fliegen und entnervt zu Tiefstkursen verkaufen. Es ist ja schließlich auch ein riesiger Unterschied, ob Sie beim Skispringen selber die Schanze heruntersausen oder den Sprung bequem vor dem Fernseher verfolgen.

»Langfristig anlegen, breit streuen und in Schwächephasen zukaufen«. Nicht nur der Crash von 1987 hat gezeigt, dass diese Strategie wenig Orientierung bietet und der dritte Aspekt sogar ein großer Selbstbetrug ist. Woher soll denn der, der bereits langfristig im Markt investiert ist und sein Kapital breit gestreut hat, in großen Schwächephasen noch Kapital für Zukäufe nehmen?

Aktiensparen ist ein Irrweg

Anlageverkäufer sind da schnell mit einer Antwort zur Hand: sogenannte Fondssparpläne, bei denen Sie Monat für Monat einen festen Betrag einzahlen. Diese suggerieren, dass etwas angespart wird. In Schwächephasen werden so für das gleiche Geld mehr Aktien gekauft als in Boomzeiten, wenn die Kurse hoch stehen. Dadurch soll gewährleistet werden, dass Verluste durch kontinuierliche Zukäufe schneller wieder aufgeholt werden. Aber auch das ist ein Trugschluss, wie nachfolgendes Beispiel verdeutlicht:

Wenn Sie zwanzig Jahre lang 100 Euro monatlich in einen Fondssparplan einzahlen, dann sind das zunächst einmal 24 000 Euro, die Sie in Aktien investiert haben. Unterstellt, dass Sie auf jede dieser Einzahlungen eine durchschnittliche jährliche Rendite von sieben Prozent erzielen, dann besäßen Sie nach 20 Jahren die stolze Summe von rund 52 000 Euro. Wenn Sie nun in einem Crash beispielsweise 40 Prozent verlieren, hätten Sie rund 21 000 Euro eingebüßt und besäßen noch etwa 31 000 Euro.

Nehmen wir an, dass Sie nun weiter brav 100 Euro monatlich einzahlen und sowohl auf diese neuen Zahlungen als auch auf die Ihnen noch verbliebenen 31 000 Euro tatsächlich eine jährliche Rendite von sieben Prozent erzielen. Dann bedeutet dies, dass Sie etwas mehr als weitere fünf Jahre durchhalten müssten, um überhaupt erst wieder auf die ursprünglichen 52 000 Euro zu kommen. Aber dann ist Ihre Gesamtrendite immer noch negativ, denn wenn Sie die Neu-Einzahlungen von rund 6 000 Euro abziehen, liegen Sie mit 46 000 Euro ja noch immer unter dem Stand von vor fünf Jahren. Dass bei dieser Rechnung kein weiterer Crash dazwischenkommen darf, sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

Mein Fazit also: Aktiensparen ist ein Irrtum. Denn je länger Sie am Aktienmarkt investiert bleiben, umso größer wird die Gefahr, dass Sie irgendwann in einen Crash geraten.

Selber in Aktien anlegen?

Bis heute besteht eine weit verbreitete Ansicht: »Unfälle« gehören zur Börse und Anleger können sich darauf auch nicht einstellen. Dass die meisten Privatanleger daher oft zu Unzeiten Aktien kaufen und verkaufen und dabei bestenfalls Minirenditen erzielen, haben schließlich zahlreiche Studien in der Vergangenheit wiederholt bestätigt. Die Wirtschaftswissenschaftler Andreas Hackethal und Steffen Meyer untersuchten zum Beispiel für den Zeitraum zwischen Januar 2005 und Dezember 2015 rund 40 000 private Wertpapierdepots von Direktbank-Kunden mit einem durchschnittlichen Aktienanteil von 80 Prozent sowie 20 Prozent in Anleihen und veröffentlichten die Ergebnisse in der Zeitschrift Finanztest Nr. 4/2017. Danach betrug die Durchschnittsrendite der Privatanleger etwa 3,1 Prozent und lag damit unter dem Vergleichsmaßstab eines aus marktbreiten Aktien- und Rentenindizes bestehenden Musterdepots, das mit 8,7 Prozent pro Jahr rentierte, als auch leicht unter dem MSCI World Kursindex (Euro), der in dieser Zeit durchschnittlich 3,6 Prozent pro Jahr zulegte.

Solche Studien werden gerne als Beleg dafür gewertet, dass Anleger den Markt nicht schlagen können und es besser wäre, das Geld langfristig in Fonds oder ETFs anzulegen. Dieses Argument lasse ich so nicht gelten. Denn die Studie hat ja, wie andere zuvor, nur gezeigt, dass die Mehrheit es nicht schafft, den Markt zu schlagen. Wie jedoch die erfolgreichere Minderheit vorgeht, wird dabei genauso wenig beleuchtet wie die Tatsache, dass den Anlegern die weit verbreiteten Standard-Anlagestrategien, wie gerade gezeigt, an der Börse nicht helfen können.

Wenn Sie jetzt angesichts dieser Erkenntnisse ein ungutes Gefühl haben, dann verstehe ich das sehr gut. Wenn aber die hier erwähnte Standard-Aktienstrategie nicht zufriedenstellend funktioniert, weshalb ist sie bis heute in aller Munde?

Ich verrate es Ihnen: Das ist in Wahrheit gar keine Strategie, sondern ein aus dem Zusammenhang gerissener Aspekt. Der Bereich der Finanzindustrie nutzt ihn als Verkaufsargument, der helfen soll, bei Anlegern kontinuierlich Geld einzusammeln, um dauerhaft Gebühren kassieren zu können – für eine Leistung, die jeder Schuljunge erbringen könnte. Richtig ist vielmehr, dass Sie sich als Anleger langfristig an eine solide Strategie halten und festen Prinzipien folgen, aber eben keine Daueranlage betreiben sollten.

Übrigens handelt auch in der Praxis kaum jemand nach diesem Daueranlageprinzip. Warum sonst beschäftigt sich ein Heer von Analysten fortwährend mit den Bilanzen und Geschäftsberichten von Unternehmen, wieso forschen Ökonomen ununterbrochen nach neuen Erkenntnissen über wirtschaftliche Zusammenhänge, und wofür gibt es eine fast unüberschaubar große Zahl an technischen Indikatoren, die Profis für ihre Handelsgeschäfte an der Börse nutzen?

Alle verfolgen nämlich genau ein Ziel: zu der Minderheit zu gehören, die aufgrund ihrer Methoden und ihres Vorgehens gegenüber der Mehrheit der Anleger einen Vorteil erringt.