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Oliver Wegner

Die Wachstumsformel

Wie Unternehmen florieren statt einfach nur größer zu werden

Wiley Logo

WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA

Dieses Buch ist allen Menschen gewidmet, die mir als Familie, Freunde, Mentoren, Vorgesetzte und Coaches in den letzten vier Jahrzehnten Wege persönlichen Wachstums ermöglicht haben, allen voran meinen Eltern Edith und Hartmut Wegner, die immer ihr Bestes gegeben haben, um mich zu fördern.

Ab ins Wachstums.CAMP

Liebe Leserin, lieber Leser,

schön, dass Sie das Thema Wachstum interessiert. Gleich zu Beginn möchte ich Ihnen sagen, was dieses Buch nicht ist. Sie halten kein weiteres Lehrbuch über Wachstum mit schnöden BWL- oder VWL-Theorien in der Hand. Sie haben stattdessen – Ihr Interesse vorausgesetzt – die Eintrittskarte in ein Wachstums.CAMP gelöst. Dieses spezielle Format richtet sich an Unternehmer, Führungskräfte und Wachstumsinteressierte. Im Wachstums.CAMP geht es um Sie und Ihr Unternehmen. Tauchen Sie also ein, um ungestört und entspannt Schritt für Schritt die Zusammenhänge für gesundes Wachstum kennenzulernen und Antworten auf aktuelle Fragen zu bekommen, die Sie sofort in Ihr eigenes Geschäft umsetzen können.

Im Fokus steht die Wachstumsformel:

Wachstum = Menschen (Organisation + Führungskultur)Unternehmer

Sie basiert auf unzähligen Gesprächen mit Top-Entscheidern und Mitarbeitern von nationalen und internationalen Unternehmen, auf langjährigen Beobachtungen, Analysen und Reflektionen, immer angetrieben durch den starken persönlichen Wunsch, Wachstum besser zu verstehen. Bei der Erzeugung von Wachstum sind die Menschen der wesentliche Faktor. Bedeutend ist dabei allerdings der Einfluss zwei weiterer Faktoren und einem Exponenten, die entscheidend dafür sind, wie Wachstum tatsächlich verläuft.

Genauso individuell wie das Wachstum in Unternehmen unterschiedlicher Größen und Branchen abläuft, können Sie mit diesem Buch arbeiten. Insgesamt gibt es elf Weg.WEISER, die wertvolle Abkürzungen bedeuten können. Das Gute an dem Wachstums.CAMP: Es ist jeder Zeit für Sie da! Sie können also direkt einsteigen, und zwar in das Thema, das Sie am ehesten anspricht. Anschließend gehen Sie vor zum nächsten Weg.WEISER – oder zurück in Ihren Alltag und überprüfen, wie Sie die ersten Wachstumsimpulse konkret umsetzen können.

Über die Wachstums.DIALOGE bekommen Sie Einblicke in Unternehmen und lernen Persönlichkeiten kennen, die offen und unzensiert ihre Erfahrungen und Praxisempfehlungen für gesundes Wachstum mit Ihnen teilen. Diese Interviews finden Sie auf der Website zum Buch: www.oliverwegner.com/buch-die-wachstumsformel

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Das Buch ist in drei Teile gegliedert:

Bevor es losgeht, möchte ich betonen, dass Wachstum jedem und jeder Organisation gut tut und es ohne nicht geht. Bedauerlicherweise sorgen Unternehmen und Regierungen regelmäßig dafür, dass persönliches Wachstum unterdrückt wird. Deshalb ist es entscheidend, sich diesen Fakt bewusst zu machen und im eigenen Rahmen zu handeln.

Also, sind Sie bereit für das Abenteuer Wachstum? Dann ab ins Wachstums.CAMP!

Teil 1:
ENTSCHEIDENDE TATSACHEN ÜBER WACHSTUM

Im ersten Teil erfahren Sie im Wachstums.CAMP,

Weg.WEISER 1: Wachstum unterliegt keinem Wahlrecht – Wachstums-Bewusstsein entwickeln

Aber wir haben doch Wachstum vereinbart …

»Das Wachstum hat die Menschheit endlich davon erlöst, den Kampf um die Erhaltung der Art als oberstes Ziel zu betrachten. Es eröffnet dem Menschen zum ersten Mal die Chance der Freiheit.« Wenn Sie dieses Zitat des britischen Ökonomen und Politikers John Maynard Keynes lesen: Was geht Ihnen dabei durch den Kopf? Fühlen Sie sich mit dem, was Sie als Unternehmer oder Führungskraft machen, bereits so RICHTIG frei? Falls nicht, dann ist es für Sie – wie für viele Menschen – bisher bei der Chance geblieben, sich wirklich frei zu fühlen. Aber das können Sie jetzt ändern. Denn gutes und gesundes Wachstum hat nichts mit Getrieben-Sein oder Überlebenskampf zu tun – und dennoch unterliegt es keinem Wahlrecht.

Die folgende Situation zeigt uns sehr anschaulich, wie es häufig in Unternehmen zugeht:

Es war einer dieser kalten und nassen Wintertage im Februar 2012, als die Führungskräfte aus zehn europäischen Ländern eines Unternehmens der Automatisierungstechnik in Deutschland zum Quartals-Review zusammenkamen. Der CEO hatte ihnen heute etwas Entscheidendes mitzuteilen: »Meine Herren, wir wachsen seit geraumer Zeit – allerdings deutlich unter dem Markt. Und wir laufen auch aktuell schon wieder unseren Zielen hinterher. Es reicht! Wir müssen endlich anfangen, unsere Stärken als Systemlösungsanbieter im Wettbewerb besser auszuspielen. Wir haben das doch vor neun Monaten klar besprochen. Ich erwarte, dass Sie das mit Ihren Mitarbeitern umgesetzt bekommen und die gesteckten Ziele ernst nehmen.« Es war sehr still im Raum, man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Keiner der Anwesenden widersprach, und natürlich hörten alle Führungskräfte ihrem Chef aufmerksam zu. Manche nickten sogar mit dem Kopf und schienen zumindest körpersprachlich zuzustimmen. Aber für einen erfahrenen Beobachter war klar, dass die Führungskräfte insgeheim bereits die Entscheidung getroffen hatten, die Reaktion ihres CEOs nicht überzubewerten. »Der kühlt sich schon wieder ab«, so der gedankliche Tenor. Aus ihrer Sicht taten sie doch seit Monaten alles, um seine Erwartungen zu erfüllen, und zwar so, wie sie es immer taten. Man geht eben seiner Arbeit nach, gibt sein Bestes, in der Hoffnung, dass es reichen wird, um die gesteckten Wachstumsziele zu erreichen.

Jeden Monat, jeden Tag, an vielen Orten der Welt, ob national oder international, finden Tausende solcher Auftritte statt. Sie haben eines gemeinsam: Sie bleiben in der Regel wirkungslos. Und das ist frustrierend. Vor allem, wenn Unternehmenslenker selbst zumeist genau wissen, was die Führungskräfte und Mitarbeiter zu tun hätten, um das geplante und nötige Wachstum sicherzustellen. Mit anzusehen, dass es nicht gelingt, schmerzt. »Aber wir haben doch Wachstum vereinbart!«, mag dann der eine oder andere Unternehmer hilflos denken.

Warum Wachstum so oft nicht gelingt

Wenn solche Hilfeschreie mein Team und mich erreichen, dann münden sie als Erstes in einem Gespräch über Wachstum. Oft zeigt sich, dass jenes Nicht-Wachstum deshalb zustande kommt, weil sich die Mitarbeiter mit den Wachstumszielen nicht identifizieren können, die Führungskräfte Zeit in Meetings und Konferenzen verschwenden, statt ihren Mitarbeitern Wachstumsimpulse zu geben – oder weil der Unternehmer nicht klar genug gemacht hat und nicht vermitteln konnte, wie die angestrebten Wachstumsziele realisiert werden sollen. Es genügt halt nicht, Wachstum festzuschreiben und zu fordern. Es genügt auch nicht, als Unternehmer zu wissen, wie sich Wachstum generieren lässt. Entscheidend ist, dass auch die Führungskräfte und Mitarbeiter eine wachstumsorientierte Einstellung an den Tag legen und das Unternehmen insgesamt getragen wird von dem Willen und der Bereitschaft, wachsen zu wollen. Und zwar »richtig« und »gesund«, sodass es dem Unternehmen wirklich weiterhilft.

Vor einigen Jahren saß ich mit zwei Vorständen eines Unternehmens mit 130 Mitarbeitern im Rhein-Main-Gebiet zusammen. Ich fragte sie: »Warum wollen Sie wachsen?« Der eine antwortete: »Wir wollen international stärker werden, da wir gesehen haben, dass unsere Branchenlösungen bereits bei vielen ausländischen Kunden Anklang gefunden haben und so viel Potenzial einfach brachliegt.« Sie ahnen, welche Funktion dieser Mann innehat: »Vorstand Vertrieb«. Ich schaute anschließend zum Technik-Vorstand hinüber, der seine Arme verschränkte und mit gefasster Stimme aussprach: »Wir sind zum Wachstum verdammt!« Beide waren sich in der Frage nach Wachstum also scheinbar grundsätzlich einig, auch wenn unterschiedliche Motive zugrunde lagen. Der »Vorstand Technik« schien dabei etwas mehr Schmerz zu verspüren. Ich fragte nach und erfuhr, dass hohe Wartungs- und Serviceverpflichtungen gegenüber bestehenden Kunden und die Notwendigkeit für Innovationen die primären Treiber sind. Das Gespräch erreichte seinen Höhepunkt bei der Aussage: »Wir wissen ziemlich genau, was zu tun ist, um weiter zu wachsen. Das Problem ist, die dazu notwendigen Schritte zügig und vor allem nachhaltig umzusetzen.«

Egal, wo wir in der Wirtschaft hinschauen: Bei nahezu allen Unternehmen ist Wachstum ein zentrales Thema. Die Frage ist allerdings: Woran liegt es, dass Wachstum so oft nicht gelingt? Regelmäßig finden sich Unternehmer und Unternehmen an irgendeinem wachstumsfernen Ort wieder, zu dem sie niemals wollten, und das, obwohl doch alles gut überlegt zu sein schien. Wachstum ist doch steuerbar, oder nicht? Oder ist es ganz und gar dem Zufall überlassen, ob es gelingt? Fest steht: Wachstum hat manchmal auch etwas Bedrohliches und bringt Unbehagen hervor; oftmals fällt es schwer, geschieht unter viel Druck und mit großer Anstrengung. Dann auch wieder hat es etwas spielerisch Leichtes und macht Spaß, denn im Grunde ist es ja etwas Positives, das »Lust auf mehr« machen sollte. Es gibt Unternehmen, die tatsächlich von solcher Leichtigkeit getragen sind und mühelos von einem Erfolg zum nächsten steuern, die gesund und wachstumsfreudig sind und die anscheinend »problemlos« vorankommen. Worin liegt das »Geheimnis« des mühelosen und erfolgreichen Wachsens? Genau das wollen wir uns jetzt in diesem Buch anschauen. Denn wachsen tut gut!

Allerdings ist dieses Buch nicht ungefährlich: Es könnte sein, dass Ihnen Dinge bewusst werden, die Sie bisher anders gesehen haben, plötzlich aber nicht mehr weiter akzeptieren möchten. Wenn das passiert, sind Sie auf einem guten Weg und können daraus – Ihren Wunsch vorausgesetzt – sofort die nächsten Schritte für Ihr Unternehmen wie auch für Sie persönlich einleiten.

Überleben erfordert Bewegung

Wodurch entsteht die Notwendigkeit, wachsen zu müssen? Ganz einfach: Als Unternehmen zu wachsen ist wie ein Spiel, und deshalb gibt es auch ein Spielfeld mit Akteuren. Und es ist wie in jedem Spiel, ich kann es dem Zufall überlassen, dass ich in Führung gehe und gewinne – oder ich verstehe die Regeln und forme daraus meine Strategie.

Universum und Multiversum

Zunächst einmal tauchen natürlich Sie mit Ihren einzigartigen Produkten, Lösungen und Services auf. Sollten Sie als Unternehmen schon einige Jahre oder Jahrzehnte am Markt tätig sein, dann haben Sie Kunden und Multiplikatoren – also Geschäftspartner – aufgebaut. Diese Welt, sprich Ihre Welt, bezeichne ich als Universum. Zum Ende eines Geschäftsjahres und spätestens zu Beginn des neuen heißt es dann: »Wie wollen wir in den nächsten zwölf Monaten weiter wachsen?« Einige Unternehmer geben auch die Devise ins Team: »Wir wollen so wachsen wie im letzten Jahr.« Oder einfach: »Zehn Prozent mehr gehen immer.« Gut. Unter vereinfachten Bedingungen und wenn die folgenden Annahmen zuträfen, wäre das auch kein Problem:

  1. Es gibt Märkte mit potenziellen (Neu-)Kunden.
  2. Ihre Produkte, Lösungen und Service sind weiterhin marktfähig.
  3. Ihre Bestandskunden kaufen bis dato noch nicht alle angebotenen Leistungen.
  4. Und: Es gibt keinen nennenswerten Wettbewerb.

Sobald ernstzunehmender Wettbewerb auf Ihrem Spielfeld auftaucht, kommt Bewegung in das Spiel hinein. Das dürfte auf die meisten von Ihnen zutreffen – und zwar zu Ihrem Vorteil. Denn sobald Wettbewerber aufkreuzen, ist die wichtigste Frage positiv beantwortet: Gibt es einen Markt für Ihre Produkte, Lösungen und Services? Start-up-Unternehmen haben genau diese Hürde regelmäßig zu nehmen. Eine meiner Aufgaben besteht darin, für interessante Geschäftskonzepte Venture Capital zu besorgen. Dadurch komme ich regelmäßig mit Start-up-Vorhaben in Kontakt, vorwiegend aus den Branchen IT, Hightech und Land- und Energiewirtschaft. Obwohl die meisten Gründer, mit deren Konzepten ich mich eingehender beschäftige, schon einiges an Erfahrung mitbringen und zum Teil schon graue Haare haben, stelle ich beim ersten Kennenlernen zum Einstieg zwei grundlegende Schlüsselfragen:

  1. Welche Kunden haben Sie schon gewonnen?
  2. Mit wem stehen Sie im Wettbewerb?

Die meisten antworten dann: »Am ersten Kunden arbeiten wir noch, und einen direkten Wettbewerb für dieses Produkt oder diesen Service haben wir noch nicht entdeckt.« Es ist zum Teil bedauerlich, dass viele von diesen enthusiastischen Unternehmern und Erfindern auf einem niedrigen Erfolgsniveau bleiben und manchmal sogar nach sechs bis neun Monaten nicht mehr auftauchen, da sie unternehmerisch nicht überlebt haben. Das heißt, ihre Ideen konnten sich nicht durchsetzen. Das ist schade, weil es ja durchaus möglich ist, auf diesem Weg dem nächsten Steve Jobs oder Mark Zuckerberg zu begegnen. Allerdings: Würde es sich um einen Unternehmer mit der Persönlichkeit dieser zwei Topunternehmer handeln, hätte er die zwei Schlüsselfragen wohl anders beantwortet. Meiner Erfahrung nach verstehen es erfolgreiche Unternehmer auf eine exzellente Weise, ihre Zielkunden genauestens zu beschreiben und ihre Markt- und Wettbewerbssituation exakt zu verstehen.

Wenn Sie also Wettbewerb haben, dann ist natürlich spätestens jetzt klar, dass Ihr Universum nun Gesellschaft bekommen hat und Sie damit nur ein Teil eines viel größeren Bildes sind: nämlich eines Multiversums. Und da heißt es dann jedes Jahr aufs Neue: Mögen die Spiele beginnen!

Die schöne heile Welt, in der weiteres Wachstum möglich wird, gerät im Multiversum unter Druck. Denn zum gleichen Zeitpunkt, an dem Sie sich auf den Weg machen, um mit Ihren Führungskräften und Mitarbeitern über die Wachstumsziele für das kommende Geschäftsjahr zu sprechen, tun dies die anderen Unternehmen auch. Sie wissen genau, dass sie in einem Multiversum kämpfen und es zur Unternehmensrealität gehört, sich mit den Wettbewerbern auseinanderzusetzen. Ja, sie lieben das sogar, sich öffentlich zu messen. Lassen Sie uns in der Abbildung 1 die Aspekte eines Universums und eines Multiversums kurz festhalten:

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Abb. 1: Universum und Multiversum

Damit ein solides Wachstum funktioniert, geht es nicht nur darum, neue Kunden in neuen Märkten und mit neuen Produkten zu gewinnen. Es geht auch darum, die Bestandskundenbasis abzusichern und vor allem strategisch zu entwickeln. Wenn Sie sich nicht um Ihre Bestandskunden kümmern, dann wird es im Multiversum ein anderer für Sie übernehmen. Und in dieser Disziplin sind viele Unternehmen nicht gut und vernachlässigen ihre Bestandskunden sträflich, ja wissen häufig gar nicht, welche Potenziale da noch zu heben sind. In diesem Punkt erzähle ich Ihnen (wirklich) nichts Neues und dennoch sollte es angesprochen werden, da durch Sofortmaßnahmen bei Bestandskunden oftmals zehn bis fünfzehn Prozent organisches Wachstum ganz einfach zu realisieren sind. Dafür braucht es nur ein wenig Struktur, die Sie und Ihr Team über das Wachstumsinstrument einer Kunden-Portfolio-Analyse erreichen. Das ist wirklich kein Hexenwerk und es entsteht ein riesiger Datenschatz, wenn alle Informationen zusammengetragen sind. Die Kunden-Portfolio-Analyse ermöglicht es, zügig den heutigen Wert der bestehenden Kunden zu erkennen und weitere Wachstumspotenziale sichtbar zu machen.

Ein Multiversum wächst stets schneller als ein Universum, da aufgrund der Vielzahl der Anbieter die Ansprache im Markt auf die jeweiligen Zielkunden intensiver ist. In einem Multiversum sind alle Beteiligten gefordert, sich permanent weiterzuentwickeln – vorausgesetzt, sie wollen überleben. Überprüfen Sie selbst: In welchem Multiversum sind Sie unterwegs? Mit welchen Konkurrenten haben Sie zu tun?

Innovationen treiben (an)

Sobald Sie Ihr aktuelles Multiversum genau verstanden haben, können Sie sich schon auf den nächsten Höhepunkt im Spiel gefasst machen. Denn: »Jeden Tag steht jemand auf und hat eine gute Idee« – einige von diesen Ideen münden in der Firmengründung und andere in der Neuausrichtung eines Unternehmens, jeweils mit dem Anspruch, bestehende Märkte und Multiversen kräftig aufzurütteln. Digitalisierung und disruptive Geschäftsmodelle sorgen dafür, dass bestehende Unternehmen ihren kompletten Markt und damit ihre Relevanz auf dem Spielfeld verlieren können, wenn sie es nicht schaffen, zu innovieren. Einer unserer Kunden kommentiert das mit: »Aggressives Warten hilft da nicht.« An dieser Stelle fallen Ihnen bestimmt unzählige Beispiele ein, und doch möchte ich mich bewusst auf einige wenige konzentrieren. Die ausgewählten Beispiele zeigen allesamt markterprobte Vorgehensweisen für die überaus erfolgreiche Umsetzung von Innovationen und können sofort kopiert werden.

Das Beispiel »SUBITO AG«: Software und Consulting für Banken und Sparkassen

Das inhabergeführte Software- und Consulting-Unternehmen stand in seinem klar abgegrenzten Markt mit wenigen Wettbewerbern – dazu gehörten einige börsennotierte Aktiengesellschaften – vor der Frage, wie die Softwarelösungen fachlich und technisch weiterentwickelt werden können und wie die Finanzierung gelingen könnte. Die Gründer, Jens Jeskulke und Martin Nußpickel, erinnerten sich gerne daran, wie sie auf Basis einer PowerPoint-Präsentation aus dem Studium heraus ihren ersten Entwicklungsauftrag im Wert von einer Million D-Mark für ein Mahnwesen in der Branche akquirierten, und leiteten daraus frühzeitig ein Prinzip ab: den Kunden bei Innovationen immer mit einbinden und ihn einladen, diese Innovationen auch zum Großteil mit zu finanzieren. Die jährlichen Bestandskundentreffen wurden daher auch dafür genutzt, die über das Jahr von den Anwendern gesammelten Bedarfe und Wünsche in bezahlte Weiterentwicklungsaufträge umzuwandeln. Dieses Vorgehen führte zum einen dazu, dass die SUBITO AG ihre Bestandskunden absicherte, und zum anderen, dass Innovationen immer marktorientiert und finanzierbar waren, was dem Unternehmen im weiteren Wachstum half, sich bis heute und über 27 Jahre lang erfolgreich durchzusetzen.

Das Beispiel »ArcSight«1: Enterprise IT-Security Software

Als ArcSight im Jahr 2000 gegründet wurde, gab es im Markt bereits über ein Dutzend Anbieter mit vergleichbarer Technologie. Wenn ArcSight als Neuling und Herausforderer also eine valide Chance haben wollte, mussten sie technologisch besser sein und die Zielgruppen besser verstehen, als die Konkurrenz dies konnte. Daraus entwickelte sich die Strategie, in den ersten Jahren mit einem Kernteam sowohl den Fokus auf die Technologieplattform zu legen als auch in ausgewählten Industrien global Anwendungsszenarien mit den ersten Kunden einer Branche zu entwickeln. Zu den Branchen zählten Behörden, Banken, Telekommunikationsanbieter und die Industrie. Dadurch ergaben sich in Bezug auf das spätere Unternehmenswachstum zwei entscheidende Vorteile: Es wurde zum einen zentral an einer Technologieplattform gearbeitet und zum anderen parallel der präzise Bedarf von Schlüsselbranchen erhoben. Beide Faktoren haben dann die Grundlage für das rasante Wachstum von ArcSight in den darauffolgenden Jahren gelegt. Das Unternehmen wurde schnell zum Marktführer in seinem Segment, ging trotz großer Rezession in 2008 erfolgreich an die Börse und wurde im Jahre 2010 für rund 1,5 Milliarden US-Dollar an Hewlett Packard verkauft. Gratulation!

Die Digitalisierung als DER Wachstumsbeschleuniger

In Vorbereitung auf dieses Kapitel ist mir ein Buch mit dem Titel Digitales Business: Wettbewerb im Informationszeitalter in die Hände gefallen. Ein sehr guter Freund von mir hatte mir das Buch damals geschenkt. Es ist aus dem Jahr 1999, der Autor ist Bill Gates, der Gründer von Microsoft. Der Titel des Buches macht schon deutlich, dass Digitalisierung überhaupt kein neues Thema ist, und es rund 18 Jahre gebraucht hat, um in aller Munde zu sein. Ich habe überlegt, ob ich das Thema in meinem Buch überhaupt aufgreifen soll. Aber was wäre ein Buch über Unternehmenswachstum im Jahr 2017 ohne Bezug zur Digitalisierung, die aus Sicht von Wachstum eine sehr bedeutende Rolle einnimmt. Aus diesem Grunde greife ich es auf, um zu beleuchten, warum die Digitalisierung DER Wachstumsbeschleuniger schlechthin ist.

Dabei erinnere ich mich gut an Digitale Geschäftsmodelle 0.1 (kein Zahlendreher). Im Jahr 1996 (kurz vor meinem 18. Geburtstag) hatten mein damaliger Geschäftspartner und ich die Idee, kleine Unternehmen mit einem Full-Service ins Internet zu bringen. Wir probierten verschiedene Dinge aus. Dann kam der Durchbruch, als wir 1997 einen Händler für Mercedes Benz Unimog aus dem Norden von München mit seinen gebrauchten und Neufahrzeugen sowie dem Zubehör ins Internet brachten. Über Nacht war das Angebot des Kleinstbetriebes in der Welt des E-Commerce angekommen. Es dauerte nicht lange, da kamen die ersten nicht-bayerischen E-Mails mit Anfragen. Der Händler verkaufte dann nach kurzer Zeit über das Internet – vorwiegend im Business-to-Business – mit Umsätzen, die sich zum Teil im fünf- und sechsstelligen Bereich bewegten (damals noch Deutsche Mark), und zwar in die unterschiedlichsten Länder in Asien sowie Nord- und Südamerika. So ergaben sich Marktzugänge, die ihm ansonsten komplett verschlossen geblieben wären. Denn wie hätte man ihn finden sollen. Heute ist das kaum vorstellbar, doch vor 20 Jahren waren das die ersten Schritte im E-Commerce. Das Modell wurde so erfolgreich, dass sogar Mercedes Benz mit einem Brief reagierte und gratulierte: und zwar mit einer (unrechtmäßigen) Abmahnung. Der Konzern war damals in dieser Sparte noch nicht erfolgreich im Onlinegeschäft unterwegs. Dieses Beispiel zeigt, dass es zu jeder Zeit Vorreiter gibt, die Wege finden, wie sie an neue Kunden gelangen, und damit ihr bekanntes Universum deutlich vergrößern und nicht selten in das Terrain anderer Unternehmen eindringen.

Die Digitalisierung hilft vor allem, Menschen von blockierenden Zwängen und aus hemmenden Routinen zu befreien. Deshalb begrüße ich diese Entwicklung – trotz vieler noch offener Fragen. Ich möchte kurz auf zwei weitere Unternehmensbeispiele eingehen, bevor wir uns mit dem Faktor Mensch beschäftigen.

Das Beispiel »Apple«: Markteinführung des iPhones

Zu dem Zeitpunkt, als Steve Jobs seine legendäre Keynote zur Markteinführung des iPhones mit den Worten unterstrich: »Today Apple is going to reinvent the phone« (vgl. Guglielmo 2017), war Menschen mit einer guten Vorstellungskraft und Zukunftsorientierung vermutlich rasch klar, welche Auswirkungen das in den darauffolgenden Jahren im Markt haben würde. Ich selbst gehöre nicht zu den Early Adopters, und doch wechselte ich von Nokia- und Siemens-Geräten relativ früh auf das iPhone. Mit Erschrecken musste ich täglich feststellen, welche Macken und Limitierungen meine neu erworbene Technologie (damals das iPhone 3G) hatte. Alle, die probiert haben, einen normalen Geschäftsalltag im Außendienst mit diesem Gerät zu meistern, wissen, wovon ich spreche: regelmäßige Gesprächsabbrüche und geringe Akkulaufzeit waren die Hauptkritikpunkte. Trotz erheblicher Einschränkungen in meiner täglichen Arbeit bin ich dann doch zum Botschafter für dieses Produkt geworden. Ohne Zwang und Bezahlung habe ich öffentlich Werbung gemacht und über die genialen Funktionen gesprochen, und damit auch über die Innovation an sich. Selbstkritisch habe ich einige Jahre später überlegt, warum Menschen (ich eingeschlossen) so etwas tun. Apple hat es geschafft, mit einer nicht ausgereiften Technologie Käufer emotional zu erreichen und zu Fans und Multiplikatoren, mithin zu Markenbotschaftern, zu machen, weil das Unternehmen hohe Qualität liefern konnte (zumindest im zweiten Schritt) und die Kundenbedürfnisse am besten vorausgesehen hat (vgl. SZ 2015). Der Blick auf die Marktentwicklung gibt der Unternehmensstrategie recht.

Das Beispiel »Tesla Motors«: Elektromobilität

Um einen Tesla zu konfigurieren, brauchen Sie online weniger als 15 Minuten. Wenn Sie es gewohnt sind, eine Premiummarke wie BMW, Audi, Mercedes oder Porsche zu fahren, brauchen Sie sich an einer Stelle nicht umzugewöhnen: beim Preis. Im Gegenteil: Das Flaggschiffprodukt Tesla S adressiert Käufer, die durchaus bereit sind, 100 000 Euro und mehr für ein Fahrzeug auszugeben. Das Unternehmen wurde 2003 in Palo Alto (Silicon Valley) gegründet, hat – Stand 2016 – mehr als 17 000 Mitarbeiter und macht sieben Milliarden US-Dollar Umsatz. Um Tesla zu verstehen, braucht es meines Erachtens einen Besuch im Tesla Store, eine Probefahrt sowie den Austausch mit Tesla-Kunden. Als ich vor einigen Monaten mit einem Freund in der Schweiz einen Tesla Store besuchte, um zu einem fest vereinbarten Termin von ca. drei Stunden (!) persönlich zu dieser Innnovation beraten zu werden und das Model S Probe zu fahren, wurde mir schnell klar, wie die Vermarktung funktioniert. Tesla-Fahrer der ersten Stunde und auch Kunden im Jahr 2017 sind vor allem typischerweise Käufer von Premiummarken und nehmen trotzdem wie im skizzierten Apple-Beispiel in Kauf, dass sie zum gleichen, wenn nicht sogar höheren Preis zunächst weniger Funktion und Komfort als bei den anderen Herstellern erhalten. Die Primärtreiber sind Elektromobilität, Updatefähigkeit der Fahrzeuge (das heißt, dass neue Funktionen per Softwareupdate automatisch eingespielt werden) und – perspektivisch gesehen – das autonome Fahren. Und doch steigt der Absatz stetig. Tesla verkaufte im Jahr 2016 rund 80 000 Fahrzeuge und plant, die Produktion bis 2020 auf eine Million Fahrzeuge pro Jahr zu steigern (ZEIT online 2017), das jedoch vor allem auch mit kleineren Modellen für eine breitere Käuferschicht. Im Februar 2017 teilte das Unternehmen mit, dass es kein zweites profitables Quartal in Folge schafft, was an der Börse irrwitzigerweise sogar zeitweise eine Steigerung von drei Prozent ausgelöst hatte. Seit Jahresbeginn 2017 war der Kurs bereits um 30 Prozent gestiegen (FAZ online 2017). Das Forbes Magazin wählte Tesla in den Jahren 2015 und 2016 zum innovativsten Unternehmen der Welt. 2017 wurde Tesla allerdings von dem Cloud-Softwareanbieter salesforce.com auf den zweiten Platz verdrängt (vgl. dazu Forbes online 2016 und Forbes online 2017).

In jeder Industrie gibt es Menschen, die versuchen, das Wachstum vorauszusehen. Prominent ist dabei die folgende Aussage von Gottlieb Daimler (Erfinder, 1834-1900): »Die weltweite Nachfrage nach Kraftfahrzeugen wird eine Million nicht überschreiten – allein aus Mangel an verfügbaren Chauffeuren.«

Denken wir nun noch zehn Jahre weiter, dann ist das (vermeintliche) »Problem«, dass Gottlieb Daimler damals gesehen hat, zum zweiten Mal gelöst. Die erste Antwort lautete: Selbst fahren statt fahren lassen. Und die zweite Antwortet wird lauten: Autonom fahren statt selbst fahren.

Die KfW Research hat im Dezember 2015 untersucht, was langfristig erfolgreiche Unternehmen auszeichnet (KfW-Bankengruppe 2016). Dabei kam heraus, dass gerade die schnell wachsenden Unternehmen besonders häufig Innovationen in den Bereichen Produkte und Dienstleistungen hervorbringen, und zwar mehr als doppelt so viele Innovationen wie schrumpfende Unternehmen.

Vor der Entscheidung für eine Innovation steht in jedem Unternehmen allerdings zunächst eine Grundsatzentscheidung an. Um das sehr anschaulich zu machen, setze ich Unternehmer und Führungskräfte gerne in das Bild eines Hundeschlittens, angetrieben von einem Rudel Hunde, mit einem unbändigen und ausdauernden Willen zum Rennen. Dann frage ich sie: »Wo würden Sie sich auf diesem Gefährt gerne sehen?« Die meisten antworten: »Auf dem Schlitten.«

Bei dieser Antwort schiebe ich die folgende Frage nach: »Können Sie mir beantworten, was so spannend daran ist, über Stunden auf Hundeärsche zu schauen?« Und dann werden viele nachdenklich. Ich bin wirklich erstaunt, dass die Antwort auf meine erste Frage nicht anders ausfällt und sich der Großteil nicht direkt für den Leithund entscheidet. Wohlgemerkt, ich adressiere diese Frage an Unternehmer und Führungskräfte! Und genau so verhält es sich mit Innovationen:

  • Entweder gehören Sie zu den Unternehmen, die innovieren, wenn es nötig wird – aber dann gehören Sie zu den Nachzüglern und sitzen nur auf dem Schlitten.
  • Oder Sie innovieren, weil Sie der Erste im Markt sein und sich als Leithund eine Position ganz vorne sichern wollen, und um Ihren Vorsprung weiter auszubauen.

Unternehmen, die ihr volles Potenzial ausschöpfen möchten, werden sich zügig mit dem effektiven und effizienten Einsatz von digitalen Lösungen in der Arbeitswelt beschäftigen dürfen. In größeren Organisationen wurde zu diesem Zweck schon die Rolle des Chief Digital Officers (kurz CDO) ins Leben gerufen, der die Aufgabe hat, die Risiken und Chancen, die die Digitalisierung für das Unternehmen mit sich bringt, zu bewerten und entsprechende praxistaugliche Konzepte zu entwickeln und umzusetzen.

Digitalisierung wird Menschen erlösen

Wenn wir den Blick nun in das Unternehmen werfen, um zu überprüfen, was konkret digitalisiert und vor allem automatisiert werden kann, dann sind es oft die Routinetätigkeiten, bei denen Tag ein Tag aus in schöner Monotonie die gleichen Dinge stattfinden. Diese Aufgaben sind wichtig, sorgen aber für wenig Wertschöpfung – ob es nun die Buchhaltung ist, also Belege erfasst und zur Zahlung freigegeben werden, oder Genehmigungsprozesse und -verfahren aus anderen Bereichen. Hier braucht es meines Erachtens schnell digitale Wege, die durchgängig sind, um zu vermeiden, dass beispielsweise Rechnungen von Lieferanten erzeugt werden, die dann per Post eingehen, damit sie ein anderer im System erfassen kann, um den Papierbeleg später einzuscannen und revisionssicher zu archivieren. Allein an diesem Beispiel sehen Sie das Potenzial, das in der Mehrzahl der Unternehmen zwar brachliegt, aber nicht für die Erreichung sinnvoller Wachstumsziele eingesetzt werden kann. Hinzu kommt: Dabei geht es um Menschen, die nicht persönlich wachsen können, da sie ihre wertvolle Lebenszeit mit solchen Aufgaben verschwenden müssen. Die Unternehmen, die hier zügig handeln, werden im ersten Schritt von einem internen und organischen Wachstum profitieren. Wenn sie clever sind, werden sie diesen Vorteil dann auch extern erfolgreich nutzen. Aus diesem Grunde sollte alles digitalisiert und automatisiert werden, was uns das Leben erleichtert. Dadurch entstehen geistige und auch zeitliche Freiräume, diejenigen Dinge zu tun, bei denen das Potenzial des Menschen gebraucht wird und die auch für die Unternehmen von Nutzen sind.

Darüber hinaus entsteht ein weiteres Lernfeld auf der Basis von Big Data und künstlicher Intelligenz. Wenn diese Technologien verantwortungsvoll genutzt werden, können wir auch Antworten finden, die uns in den Themen Gesundheit, Energieversorgung, Klimaschutz, Finanzen und auch den gesellschaftlichen (Neu-)Ordnungen helfen werden, tragfähige und nachhaltige Konzepte zu entwickeln.