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Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur 4. Auflage

1 Wissenschaftliche Grundlagen

1.1 Grundlagen der Toxikologie

1.2 Physikalisch-chemische Grundlagen

1.3 Biologische Arbeitsstoffe

2 Gefährliche Eigenschaften, Einstufung und Kennzeichnung

2.1 Einführung in die Einstufungssysteme

2.2 Gefährliche Eigenschaften: Physikalische Eigenschaften

2.3 Eigenschaften: Gesundheitsgefahren

2.4 Gefährliche Eigenschaften: Umweltgefahren

2.5 Einstufung von Stoffen und Gemischen / Zubereitungen

2.6 Kennzeichnung gefährlicher Stoffe und Gemische bzw. Zubereitungen

3 Gefährdungsbeurteilung und Beurteilungsgrundlagen

3.1 Rechtliche Grundlagen

3.2 Durchführung der Gefährdungsbeurteilung

3.3 Luftgrenzwerte am Arbeitsplatz

3.4 Methoden der Expositionsermittlung

4 Europäische Regelungen

4.1 REACH

4.2 Das Sicherheitsdatenblatt

4.3 Das erweiterte Sicherheitsdatenblatt und Expositionsszenarien

4.4 Verbote beim Inverkehrbringen

4.5 Stoffrichtlinie

4.6 Zubereitungsrichtlinie

4.7 Agenzienrichtlinie

4.8 Krebsrichtlinie

4.9 Verordnung 689/2008/EG

4.10 Verordnung 3677/90/EWG

4.11 Verordnung 2037/2000/EG

4.12 Die POP-Verordnung

5 Deutsche Regelungen

5.1 Das Chemikaliengesetz

5.2 Die Gefahrstoffverordnung

5.3 Chemikalien-Verbotsverordnung

5.4 Die Biostoffverordnung

5.5 Mutterschutzverordnung und Jugendarbeitsschutzgesetz

5.6 Die Arbeitsmittelverordnung / Betriebssicherheitsverordnung

5.7 Das Bundes-Immissionsschutzgesetz und seine Verordnungen

5.8 Das Wasserhaushaltsgesetz

6 Persönliche Schutzausrüstungen

6.1 Augen- und Gesichtsschutz

6.2 Schutzhandschuhe

6.3 Körperschutz

6.4 Atemschutz

7 Lagerung von Gefahrstoffen und Tätigkeiten mit ortsbeweglichen Druckgasbehältern

7.1 Lagerung von Gefahrstoffen in ortsbeweglichen Behältern

7.2 Lagerung von Gefahrstoffen in ortsfesten Anlagen sowie Füll- und Entleerstellen für ortsbewegliche Behälter

7.3 Lagerung von Gasen in ortsfesten Anlagen

7.4 Tätigkeiten mit ortsbeweglichen Druckgasbehältern

8 Transportvorschriften

8.1 Internationale Transportvorschriften

8.2 Klassifizierung gefährlicher Güter

8.3 Das ADR

8.4 Nationale Vorschriften

Literatur

Glossar

Anhang: H- und P-Sätze

Stichwortverzeichnis

Beachten Sie bitte auch weitere interessante Titel zu diesem Thema

Reniers, G.L.L., Zamparini, L. (Hrsg.)

Security Aspects of Uni- and Multimodal Hazmat Transportation Systems

2012
978-3-527-32990-8

Kamptmann, S.

REACH Compliance – The Great Challenge for Globally Acting Enterprises

2014
978-3-527-33316-5

Richardt, A., Hülseweh, B., Niemeyer, B., Sabath, F. (Hrsg.)

CBRN Protection
Managing the Threat of Chemical, Biological, Radioactive and Nuclear Weapons

2013
978-3-527-32413-2

Bender, H. F.

Sicherer Umgang mit Gefahrstoffen
unter Berücksichtigung von REACH und GHS
Vierte, vollständig überarbeitete Auflage

2011
978-3-527-32927-4

Vohr, H. (Hrsg.)

Toxikologie (Set)
Band 1: Grundlagen der Toxikologie / Band 2: Toxikologie der Stoffe

2010
978-3-527-32386-9

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Autor

Herbert F. Bender
BASF AG, Hazardous Substances
Management, Abt. GUS/TD – M940
67056 Ludwigshafer
Deutschland

 

 

 

 

Print ISBN: 978-3-527-33397-4

 

ePDF ISBN: 978-3-527-67400-8

 

ePub ISBN: 978-3-527-67401-5

 

Mobi ISBN: 978-3-527-67402-2

 

oBook ISBN: 978-3-527-67399-5

Vorwort zur 4. Auflage

Das europäische sowie das nationale Gefahrstoffrecht haben sich in den letzten Jahren erwartungsgemäß stürmisch weiter entwickelt. Eine Überarbeitung war daher unabdingbar. Selbstverständlich konnten nicht alle Regelungen, Vorschriften oder technische Regeln mit der gleichen Ausführlichkeit dargestellt werden Die Auswahl gibt naturgemäß die Schwerpunkte basierend auf den Erfahrungen des Autors wieder.

Auf Grund der großen Bedeutung stehen die europäischen Verordnungen REACH und die CLP-Verordnung im Mittelpunkt der gesetzlichen Regelungen.

Die Inhalte des bisherigen Kapitels 1 „Stoffrecht“ wird in Kapitel 4 bzw. 5 besprochen, auf Grund der limitierten Bedeutung wird ein eigenes Kapitel nicht mehr benötigt. Als Konsequenz enthält Kapitel 1 jetzt die wissenschaftlichen Grundlagen, aktualisiert und angepasst an die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse.

In Kapitel 2 werden sowohl die Einstufung- und Kennzeichnungssysteme der europäischen CLP-Verordnung als auch die bisherige Stoffrichtlinie 67/548/EWG beschrieben, da letztere für die Einstufung von Inhaltsstoffen von Zubereitungen noch bis zum 1.6.2015 herangezogen werden kann. In jedem Abschnitt werden zuerst die Einstufungsgrundsätze der CLP-VO behandelt, anschließend die Kriterien der Stoffrichtlinie. Desgleichen werden die Einstufungsprinzipien von Gemischen nach der CLP-VO ausführlicher als die der Zubereitungsrichtlinie erläutert.

Die Gefährdungsbeurteilung nimmt im Arbeitsschutz die zentrale Rolle ein. In einem eigenen Kapitel werden die grundlegenden Elemente für die praktische Durchführung beschrieben. Der Hilfestellung zur Durchführung der Substitutionsprüfung wird ein breiter Raum eingeräumt, zur Vermeidung einer vermeintlichen Reduzierung der Risiken bei tatsächlicher Gefährdungserhöhung. Als wesentlicher Beurteilungsmaßstab werden sowohl die inhalativen als auch die biologischen Grenzwerte vorgestellt. Neben den staatlichen Grenzwerten wird auch die grundlegende Vorgehensweise zur Ableitung der DNEL und der DMEL nach der REACH-VO behandelt. Die neuen Akzeptanz- und Toleranzkonzentrationen des neuen Risikokonzeptes finden sich ebenfalls bei den nationalen Arbeitsplatzgrenzwerten. Die Methoden der Expositionsermittlung wurden deutlich gestrafft und aktualisiert.

Im Zentrum der europäischen Vorschriften wird die REACH-Verordnung besprochen, ergänzt um die neueren Vorschriften, die Kandidatenliste sowie das Zulassungsverfahren. Ergänzend werden die Besonderheiten für Zwischenprodukte kurz diskutiert. Die Anforderungen an Sicherheitsdatenblätter werden ausführlich unter Berücksichtigung der neuen ECHA-Leitlinie beschrieben. Die umfassenden Beschränkungen bei Herstellung und Verwendung nach Anhang XVII finden sich ebenfalls in Kapitel 4, neben einer kurzen Besprechung weiterer europäischer Vorschriften, u.a. die PIC- und POP-Verordnung.

Die Vorschriften zur Zulassung von Bioziden werden im Rahmen des Chemikaliengesetzes beschrieben. Das neue Konzept der Gefahrstoffverordnung nach „Abschaffung“ des Schutzstufenkonzeptes steht im Mittelpunkt von Kapitel 5. Ausführlich werden Betriebsanweisung, betriebliche Unterweisung und innerbetriebliche Kennzeichnung erläutert. Die Regelungen der Chemikalien-Verbotsverordnung beim Inverkehrbringen bestimmter Gefahrstoffe ergänzen die Beschränkungen von Anhang XVII REACH-Verordnung, ergänzt um die besonderen nationalen Vorschriften. Die Ausführungen zur Biostoffverordnung berücksichtigen weitgehend die zur Jahresmitte verabschiedete Novellierung, des gleichen wurden die wesentlichen Änderungen der Anlagen- und Betriebsmittelsicherheitsverordnung berücksichtigt. Im Rahmen der Störfallverordnung steht die neue Seveso Richtlinie der EU im Mittelpunkt.

Nur wenige grundlegende Änderungen hat Kapitel 6 „Persönliche Schutzausrüstung“ erfahren, ganz im Gegenteil zu den Vorschriften zur Lagerung von Gefahrstoffen in Kapitel 7, das vollkommen neu formuliert werden musste. Die Lagerung von Gefahrstoffen in ortsbeweglichen Behältern nach TRGS 510 berücksichtigt bereits die im Juni im Ministerialblatt veröffentlichte Fassung und beschreibt ausführlich sowohl die Grundanforderungen als auch die zusätzlichen Vorschriften spezieller Gefahrstoffe. Die für die Praxis wichtigen Zusammenlagerungsvorschriften werden ausführlich beschrieben. Die Vorschriften zur Lagerung von Gefahrstoffen in stationären Anlagen einschließlich der Regelungen für Füll- und Entleerstellen für ortsbewegliche Behälter nach der neuen TRGS 509 sind zwar noch nicht verabschiedet, größere Änderungen sind allerdings an der in Fachkreisen intensiv diskutierten Fassung nicht zu erwarten. Die neuen technischen Regeln für Gase, „Tätigkeiten mit Gasen – Gefährdungsbeurteilung“ sowie „Ortsbewegliche Druckgasbehälter – Füllen, Bereithalten, innerbetriebliche Beförderung, Entleeren“, wurden bereits vom AGS verabschiedet, die Veröffentlichung stand zu Redaktionsschluss allerdings noch aus. Die Regelungen zu Lagerung von Gasen in stationären Anlagen sind auf Basis der in den Fachkreisen zirkulierten Fassung kurz beschrieben.

Die Transportvorschriften von Kapitel 8 berücksichtigen die aktuelle Fassung, insbesondere des ADR. Aufgrund der zum Teil umfassenden Änderungen der letzten Jahre war eine komplette Überarbeitung unvermeidbar.

Bedingt durch die zahlreichen Änderungen, insbesondere europäischer aber auch nationaler Vorschriften, wurden viele neue Begriffe neu eingeführt. In einem ausführlichen Glossar werden diese sowie bereits existierende Fachtermini kurz und prägnant erklärt.

Die neue Auflage möchte in aktualisierter Fassung den Praktikern in Industrie, Gewerbe, Handel sowie in den Aufsichtsbehörden eine praxisgerechte Zusammenstellung der relevanten Vorschriften und Schutzmaßnahmen beim Umgang mit Gefahrstoffen bieten.

Einen besonderen Dank gebührt meinen Kolleginnen und Kollegen der BASF. Ohne unsere intensiven Diskussionen und ihre Anregungen wären viele praxisrelevante Themen nicht in der gebührenden Form berücksichtigt worden. Desgleichen möchte ich mich bei Kolleginnen und Kollegen im AGS und insbesondere in den unterschiedlichen Arbeitskreisen bedanken. Nur durch das gemeinsame Bestreben nach praxisgerechten Lösungen können anwendungstaugliche Vorschriften entstehen.

Nicht zuletzt gebührt meiner Frau ein ausdrücklicher Dank für ihr Verständnis für unzählige Abende, Wochenende und Feiertage, in denen ich mich hartnäckig ins Arbeitszimmer zurückgezogen habe.

Ein umfassendes Buch über Gefahrstoffe muss zeitnah geschrieben werden, um sowohl der dynamischen Weiterentwicklung des Gefahrstoffrechtes als auch der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse gerecht werden zu können. Dies führt zwangsläufig zu einem hohen Zeitdruck; hierdurch begründete Unstimmig- und Unzulänglichkeiten bitte ich daher zu entschuldigen. Über zweckdienliche Korrekturen bin ich selbstverständlich sehr dankbar.

Böhl-Iggelheim, im Juni 2013

Herbert F. Bender

1

Wissenschaftliche Grundlagen

1.1 Grundlagen der Toxikologie

Im Abschnitt Grundlagen der Toxikologie können nur die zum Verständnis der wichtigsten Stoffeigenschaften benötigten toxikologischen Prinzipien dargestellt werden. Für ein intensiveres Studium wird auf die zahlreichen Lehrbücher verwiesen, z. B. auf die grundlegenden Ausführungen von Eisenbrand und Metzler [1], Dekant und Vamvakas [2], Birgersson et al. [3], Klaassen [4] oder Vohr [5]. Nicht dargestellt werden im Rahmen dieses Handbuches die Abbaureaktionen der unterschiedlichen Chemikalien; diese können der einschlägigen Fachliteratur entnommen werden.

Zum Verständnis der Wirkung von Chemikalien auf den Organismus werden toxikologische Grundkenntnisse benötigt. Die Toxikologie ist die Lehre von den Giften, der Begriff leitet sich vom griechischen Wort „toxon“ = Gift ab. Neben der klassischen Lehre von der Wirkung von Giften (der Toxikodynamik) beschäftigt sich die moderne Toxikologie auch mit der Stoffumwandlung durch den Organismus (der Toxikokinetik) und den unterschiedlichen Wirkmechanismen. Zur Festlegung der geeigneten Schutzmaßnahmen sind Kenntnisse des toxikologischen Profils notwendig.

Eine lokale Wirkung liegt vor, wenn sich die Wirkung der Stoffe auf den Einwirkungsort beschränkt. Verätzungen oder Reizungen sind typische Beispiele lokaler Stoffwirkungen. Neben der Haut als primär betroffenes Körperorgan sind lokale Effekte am Atemtrakt, am Auge oder im Magen-Darm-Trakt bekannt. Vertreter primär lokal wirkender Stoffe sind bei

Die meisten Chemikalien werden jedoch über das Blutsystem im ganzen Körper verteilt. Von diesen systemisch wirkenden Stoffen können grundsätzlich alle Organe erreicht werden. Typischerweise wirken Stoffe an spezifischen Organen, densogenannten Zielorganen. Abbildung 1.1 zeigt bekannte Zielorgane wichtiger Chemikalien.

Abb. 1.1 Bekannte Zielorgane einiger Stoffe

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Zur Beschreibung der Giftigkeit ist die akute Toxizität von großer Bedeutung. Die akute Toxizität beschreibt die Wirkung bei einmaliger Einwirkung. In der Regel stellt sich die toxikologische Wirkung kurzfristig nach Exposition innerhalb weniger Minuten bis einiger Stunden ein. In sehr seltenen Fällen ist die Stoffwirkung durch Spätschäden erst nach Wochen oder Monaten erkennbar.

1.1.1 Aufnahmewege

Typischerweise können Stoffe auf drei verschiedenen Wegen in den Körper gelangen:

Abbildung 1.2 zeigt schematisch die verschiedenen Aufnahmewege sowie wichtige Zielorgane.

Abb. 1.2 Aufnahmewege für Stoffe in den Körper

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1.1.1.1 Orale Aufnahme

In Abhängigkeit vom Aufnahmeweg können sich die Wirkungen von Stoffen deutlich unterscheiden. Durch das saure Milieu im Magentrakt (pH = 1 bis 5) können bei oraler Aufnahme hydrolyseempfindliche Stoffe gespalten werden. Chemische Umwandlungen sowohl zu giftigeren (Giftung) als auch zu ungiftigeren Stoffen (Entgiftung) sind möglich. Im Magen-Darm-Trakt werden vor allem basische und lipophile Stoffe resorbiert. Chemikalien, die weder im Magen noch im Darm resorbiert werden, scheidet der Körper wieder aus. Ein möglicherweise vorhandenes toxisches Potenzial kann dadurch nicht wirksam werden, wie beispielsweise bei Cadmiumsulfid oder Bariumsulfat. Ein weiteres Beispiel ist metallisches Quecksilber. Im Magen-Darm-Trakt ist es oral aufgenommen unlöslich und nicht bioverfügbar; es wird in Form kleiner Tröpfchen wieder vollständig ausgeschieden. Quecksilberdampf wird im Gegensatz hierzu sehr gut über die Lunge aufgenommen und wirkt stark toxisch. Sowohl organische als auch eine Vielzahl anorganischer Quecksilberverbindungen (z. B. Methylquecksilberchlorid) sind im Magen-Darm-Trakt ausreichend löslich und wirken entsprechend auch bei oraler Aufnahme sehr toxisch.

1.1.1.2 Dermale Aufnahme

Eine wesentliche Aufgabe der Haut besteht im Schutz des Körpers gegen Einwirkung von außen. Diese Schutzfunktion ist gegenüber ionischen, wasserlöslichen Stoffen oder Makromolekülen sehr effektiv. Fettlösliche (lipophile) Stoffe werden demgegenüber meist gut über die Haut aufgenommen und resorbiert.

In Abhängigkeit von der chemischen Struktur ist die dermale Aufnahme von Chemikalien sehr unterschiedlich. Während lipophile Stoffe mit einem Molekulargewicht unter 200 Dalton im Allgemeinen gut über die Haut aufgenommen werden, sind größere Moleküle in der Regel nicht mehr hautgängig. Bipolare Moleküle mit lipophilen und hydrophilen Gruppen werden äußerst effektiv resorbiert.

Bei Verwendung organischer Lösemittel muss deren gute Aufnahme über die Haut durch die Wahl geeigneter Schutzmaßnahmen Rechnung getragen werden. Die entfettende Wirkung der Lösemittel verstärkt durch Schädigung des Schutzmantels ihre dermale Aufnahme. Stoffe mit sowohl hautresorptiver als auch ätzender Wirkung werden äußerst schnell und wirkungsvoll über die Haut aufgenommen. Die ätzende Wirkung zerstört den Schutzmantel der Haut, infolgedessen können innerhalb kurzer Zeitspanne große Stoffmengen aufgenommen werden. Tödliche Unfälle durch Phenol oder Flusssäure sind hierfür bekannte Beispiele.

Die Bedeutung des dermalen Aufnahmeweges für Intoxikationen (Vergiftungen) wird in der Praxis häufig stark unterschätzt. Organische Lösemittel können gelöste Stoffe, die selbst nicht hautgängig sind, im Sinne eines „Carrier-Effektes“ durch die Haut transportieren. In der Medizin (Dermatologie) wird diese Tatsache ausgenutzt, um schlecht resorbierbare pharmakologische Wirkstoffe in tiefere Hautschichten zu transportieren.

Die Effektivität der dermalen Aufnahme ist am folgenden Beispiel gut erkennbar: Vom sehr gut hautresorptiven Dimethylformamid (DMF, Formel siehe Abbildung 1.3), wird 1 g, ca. 20 Tropfen, innerhalb weniger Minuten vollständig über die intakte Haut aufgenommen. Beim versehentlichen Verschütten können auch im Labormaßstab sehr viel größere Mengen aufgenommen werden. Um die gleiche Menge DMF über die Atemwege aufzunehmen, muss bei der maximal am Arbeitsplatz zulässigen Konzentration (bei täglich achtstündiger Exposition, AGW = 30 mg/m3, 10 ppm, siehe Abschnitt 3.3.1) mehrere Tage gearbeitet werden. Aufgrund der schnellen Metabolisierung von DMF (Halbwertszeit wenige Stunden) beträgt die im Körper zu einem beliebigen Zeitpunkt vorhandene Menge nur ein Bruchteil der Konzentration im Vergleich zur dermalen Aufnahme.

Abb. 1.3 Gut hautresorbierbare Stoffe

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dermale Aufnahme:     in Minuten
inhalative Aufnahme:   in Tagen

Geschwindigkeit und Menge der über die Haut aufgenommenen Stoffe hängt wesentlich von der Lipophilie, Molekülgröße und Polarität ab. Abbildung 1.3 zeigt einige Beispiele gut hautresorbierbarer Chemikalien. Viele Stoffe werden nicht nur durch die Haut resorbiert, sondern können sie auch direkt schädigen.

Wird durch den Stoffkontakt eine unmittelbare, lokale Schädigung der Haut ausgelöst, liegt keine systemische, sondern eine irritative oder ätzende Wirkung vor.

1.1.1.3 Inhalative Aufnahme

Gut wasserlösliche Stoffe, z. B. Ammoniak oder Chlorwasserstoff, werden beim Einatmen i. A. bereits im oberen Atemtrakt von der Schleimhaut absorbiert und gelangen infolgedessen allenfalls teilweise in die tieferen Bereiche der Lunge. Da sich im oberen Bereich der Luftröhre sehr viele Rezeptoren befinden, werden Reizreaktionen wie Husten und Niesen ausgelöst. Die Reizgase

sowie Dämpfe von

sind bekannte Vertreter dieses Wirkprinzips.

Weniger gut wasserlösliche Verbindungen können bis in die Bronchien vordringen. Da in diesem Bereich der Lunge eine dünne Schleimschicht mit wenigen Rezeptoren vorherrscht, ist die Reizwirkung hier deutlich weniger ausgeprägt. Eine teilweise Diffusion durch das dünne Bronchiengewebe ist möglich. Die folgenden industriell bedeutsamen Chemikalien gehören zu diesem Typ:

Lipophile Verbindungen können über die Bronchien bis zu den Lungenbläschen (Alveolen) vordringen (siehe Abschnitt 1.2). Dort findet der Gasaustausch zwischen Blut (Kohlendioxid) und Atemluft (Sauerstoff) statt. Die Alveolen liegen am Ende der Lungenäste und sind traubenförmig angeordnet. Ihre Oberflächen sind mit Blutkapillaren überzogen. Zwischen Blutgefäß und Gasraum befindet sich lediglich eine ein tausendstel Millimeter dicke Membran, die von nur zwei Zellschichten gebildet wird. Eine Diffusion von Fremdstoffen aus der Atemluft in die Blutbahn ist leicht möglich. Die gesamte Oberfläche der Millionen von Alveolen eines Erwachsenen beträgt ca. 100 m2.

Dringen ätzende Stoffe bis in die Alveolen vor, sind lebensgefährliche Verätzungen des Lungengewebes die Folge. Stoffe mit ätzender und cytotoxischer (zellschädigender) Eigenschaft bewirken eine deutliche Wirkungsverstärkung. Dringt durch eine lokale Verätzung Flüssigkeit in die Alveolen ein, kann es zur Ausbildung eines Lungenödems kommen. Hierbei wird der lebensnotwendige Sauerstoffaustausch stark reduziert. Wenn die Bildung eines Lungenödems erst Stunden bis Tage nach der Exposition einsetzt, liegt eine latente Wirkung vor. Die Latenzzeit verläuft häufiger nahezu beschwerdefrei. Nur durch frühzeitiges ärztliches Eingreifen ist eine erfolgreiche Behandlung möglich. Große Bedeutung für die Bildung von Lungenödemen haben

1.1.2 Metabolismus

In Abhängigkeit des Aufnahmeweges durchlaufen Stoffe verschiedene Umwandlungsprozesse zwischen Aufnahme und Ausscheidung. Die Verweildauer im Organismus beträgt in Abhängigkeit von Löslichkeit, Dampfdruck, Polarität, Lipophilie, chemischer Struktur, Toxikokinetik und Toxikodynamik einige Minuten (z.B. Cyanide) bis hin zu mehreren Jahren (z. B. Schwermetalle, halogenierte Verbindungen). Neben den vorgenannten Eigenschaften beeinflussen sowohl die aufgenommene Menge als auch die physikalische Form die Metabolisierung. Die wichtigsten an Abbau und Umwandlung von Stoffen beteiligten Organe sind Leber, Galle, Niere und Magen. Die Verteilung im Körper in Abhängigkeit vom Aufnahmeweg kann Abbildung 1.4 entnommen werden.

Die Leber spielt beim Abbau körpereigener wie körperfremder Stoffe eine große Rolle. Primärreaktionen sind Hydrolyse, Oxidations- und Reduktionsreaktionen. Durch Konjugations- und Adduktbildung an Eiweiße oder Enzyme wird eine Wasserlöslichkeit erreicht oder erhöht. Häufig bewirkt die Metabolisierung eine Reduzierung des toxischen Profils, die Entgiftung. Gelegentlich führen Konjugations- oder Additionsaddukte erst zur eigentlichen toxischen Verbindung, was als Giftung bezeichnet wird.

Neben Leber und Niere sind zahlreiche weitere Zielorgane von Chemikalien bekannt, Tabelle 1.1 listet einige Zielorgane auf. Durch Bildung spezifischer Donor-Akzeptor-Komplexe an der Vielzahl von Rezeptoren in den Zellen können sehr unterschiedlich Schädigungen hervorgerufen werden. Für die Extrapolation der Stoffwirkung vom Tier (meist Ratte oder Maus) auf den Menschen ist wesentlich, dass sich die Zielorgane in der Regel nicht unterscheiden.

Abb. 1.4 Aufnahme, Verteilung und Ausscheidung von Stoffen

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Tabelle 1.1 Zielorgane ausgewählter Chemikalien.

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Von besonderer Bedeutung für das toxikologische Profil sind Reaktionen mit Bestandteilen im Zellinneren, insbesondere mit dem Zellkern. Addukte mit der DNS (Desoxyribonukleinsäure), dem Träger der Erbinformation, können prinzipiell die Ursache für eine krebserzeugende Wirkung sein, siehe Abschnitt 1.1.8.

Da beim metabolischen Abbau oxidative Prozesse eine besondere Rolle spielen, werden häufig reaktive Zwischenstufen durch Reaktion mit aktiviertem Sauerstoff gebildet. Beispielhaft seien die Bildung von Ethylenoxid aus Ethylen, von Aldehyden und Ketonen aus Alkoholen sowie oxidative Demethylierungen und Desulfierungsreaktionen genannt.

1.1.3 Akute Wirkung

Eine akute Wirkung von Stoffen beschreibt das Verhalten nach einmaliger Aufnahme eines Stoffes. Die toxische Wirkung kann innerhalb weniger Minuten bis Stunden nach der Stoffaufnahme einsetzen, bei Stoffen mit latenter Wirkung können sogar mehrere Stunden bis zu einigen Tagen vergehen.

Zur Beschreibung der akuten Giftigkeit von Stoffen wird die mittlere letale Dosis benutzt. Dies ist die Stoffmenge, bei der die Hälfte der untersuchten Tiere bei einmaliger Stoffgabe infolge der Stoffeinwirkung sterben. In Abhängigkeit des Aufnahmeweges werden die folgenden experimentellen Methoden zur Ermittlung der akuten Toxizität benutzt:

• oral: einmalige Applikation der gesamten Menge in den Magen,
• dermal: einmaliges Auftragen der gesamten Substanzmenge auf die Haut, Einwirkungsdauer 24 Stunden,
• inhalativ: Exposition über die Atemluft für vier Stunden.

Durch Division der mittleren tödlichen Stoffmenge bei oraler oder dermaler Applikation durch das Körpergewicht der Tiere (= Dosis) erhält man den LD50- Wert. Die mittlere letale Dosis LD50 ist eine stoffspezifische Größe und unterscheidet sich innerhalb einer Spezies, z. B. bei Vertretern der Säugetiere, nicht signifikant. Als Einheit der letalen Dosis wird üblicherweise die Stoffmenge in Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht [mg/kg] gewählt. Bei inhalativer Prüfung wird im Gegensatz hierzu die Konzentration des Stoffes in Milligramm pro Liter Atemluft bei in der Regel vierstündiger Exposition angegeben. Da das Atemvolumen unterschiedlicher Tierarten sehr gut mit dem Körpergewicht korreliert, muss für die stoffspezifische Giftigkeit nicht durch das Körpergewicht dividiert werden. Abbildung 1.5 fasst die Definitionen der mittleren tödlichen Wirkung zusammen.

Abb. 1.5 Definition mittlere letale Dosis

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Das häufig als Supergift bezeichnete 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin, abgekürzt TCDD, besitzt eine um den Faktor 10.000 niedrigere letale Dosis als Kaliumcyanid (Zyankali). Der giftigste bislang bekannte Stoff, das vom Bakterium Botulinus produzierte Gift Botulinustoxin, ist zum Vergleich in etwa um den gleichen Faktor giftiger als TCDD. Eine Auswahl natürlich vorkommender Toxine in Pflanzen ist in Tabelle 1.2 zusammengefasst. Wie der Tabelle entnommen werden kann, besitzen natürliche Gifte (Toxine) die höchste Akuttoxizität. Die Einstufung von Stoffen in Abhängigkeit der mittleren letalen Dosis wird in Abschnitt 2.3.1 beschrieben.

Tabelle 1.2 Sehr giftige Naturstoffe.

Sehr giftiger StoffLD50 [mg/kg]Vorkommen
Botulinustoxin0,000 000 03Fleisch, Wurst, Konserven
Tetanustoxin0,000 000 1Wundstarrkrampf
Crotalustoxin0,000 02Kobra
Diphtherietoxin0,000 3Krankheitserreger
Crototoxin0,000 2Fischgift
Amantanin0,000 1Knollenblätterpilz
„Dioxin“0,001Zigarettenrauch
Ricin, Abrin0,005Paternostererbse, Rizinus
Tetrodotoxin0,01Fischgift
Aflatoxin B10,01Schimmelpilz
Muscarin0,1Fliegenpilz
Saxitoxin0,2Miesmuschel
Oleandrin0,3Oleander
Strychnin0,5Brechnuss
Nikotin1Tabak
Aconitin0,2Eisenhut
Orellanin3Pilze
Natriumcyanid10Bittermandel
Atropin10Tollkirsche, Stechapfel

1.1.4 Wirkung bei wiederholter Applikation

Die toxische Wirkung von Stoffen in Abhängigkeit der aufgenommenen Menge folgt einer mehr oder weniger steilen Dosis-Wirkungs-Kurve. Allen Stoffen ist ein weitgehend ähnliches Verhalten bei niedrigen Dosen gemeinsam: Mit abnehmender Stoffmenge werden kleinere Effekte im Körper beobachtet. Bei einer für jeden Stoff charakteristischen Dosis sind keine Gesundheitsschädigungen mehr vorhanden. Bei doppeltlogarithmischer Auftragung der Dosis gegenüber der ausgelösten Stoffwirkung erhält man die charakteristischen S-Kurven mit linearem Kurvenverlauf im mittleren Dosisbereich (siehe Abbildung 1.6).

Abb. 1.6 Dosis-Wirkungs-Kurven unterschiedlicher Stoffe

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Die Dosis, bei der gerade keine biologisch relevante Wirkung mehr festgestellt werden kann, wird als Wirkschwelle bezeichnet. In der Fachliteratur hat sich der Begriff „No Adverse Effect Level“, abgekürzt NOAEL, eingebürgert. Als Wirkung gelten alle bedeutsamen biologischen Wirkungen mit gesundheitlicher Relevanz. Die Steilheit (S) der Kurve gibt an, ob bei Überschreitung der Wirkschwelle mit leichteren oder bereits sehr schnell mit ernsthaften Gesundheitsgefahren zu rechnen ist. Bei Ersteren verläuft die Kurve flach (Kurve 2), bei Letzteren ausgesprochen steil (Kurve 1). Findet bei Stoffen mit flacher Dosis-Wirkungs-Kurve über einen längeren Zeitraum eine Stoffaufnahme oberhalb der Wirkschwelle statt, können trotzdem schwerwiegende Gesundheitsgefahren resultieren.

Analog den für einige Stoffgruppen charakteristischen Unterschieden in den letalen Dosen bei unterschiedlichen Aufnahmewegen zeigen auch die Dosis-Wirkungs-Kurven unterschiedliche NOAEL-Werte und Kurvensteigungen.

Bekannte Stoffe mit sehr steilem Kurvenverlauf sind Ethylenchlorhydrin, Phosgen, Blausäure, Stickoxide oder Schwefelwasserstoff. Bereits bei kleiner Überschreitung der Wirkschwelle muss bei diesen Stoffen mit schwerwiegenden Gesundheitsgefährdungen gerechnet werden, in einigen Fällen wurden bei nur zehnfacher Überschreitung der Wirkschwelle schwere Gesundheitsschäden beobachtet.

Viele Stoffe wirken bei einmaliger Verabreichung in niedrigen Konzentrationen nicht schädlich auf den Organismus, jedoch bei Einwirkung über einen längeren Zeitraum. Da in der Praxis akute Wirkungen praktisch nur bei Unfällen vorkommen, ist die Kenntnis der Stoffwirkung bei Aufnahme über einen längeren Zeitraum zur Festlegung der notwendigen Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz von erheblich größerer Bedeutung. Zur Ermittlung der Wirkung bei wiederholter Stoffaufnahme sind nach OECD-Guidelines die in Tabelle 1.3 aufgeführten Versuchsdauern zu verwenden. Zur Ermittlung der Wirkschwelle werden idealerweise chronische oder subchronische Studien benutzt.

Tabelle 1.3 Versuchsdauern unterschiedlicher Studientypen (Ratte).

Versuchstyp Dauer
akut einmalig
subakut 28 Tage
subchronisch 90 Tage
chronisch > 6 Monate bis 2 Jahre
kanzerogen 2 Jahre

Die Langzeituntersuchungen werden üblicherweise an Ratten oder Mäusen durchgeführt. Die Zeitdauer zwischen Expositionsbeginn und Wirkungseintritt (Latenzzeit) ist bei unterschiedlichen Tierarten proportional zur mittleren Lebenserwartung. Daher entspricht die zweijährige Tierstudie bei der Ratte in guter Näherung einer lebenslänglichen Exposition beim Menschen.

Als LOAEL (Lowest Observable Adverse Effect Level) wird die niedrigste Dosis bezeichnet, bei der im Tierversuch die ersten gesundheitlich relevanten Effekte beobachtet werden. Trägt man als Wirkung in einem Dosis-Wirkungs-Diagramm die Anzahl der gestorbenen Tiere auf, so kann der LD50-Wert abgelesen werden (siehe Abbildung 1.6).

1.1.5 Sensibilisierende (allergisierende) Wirkung

Sensibilisierungen sind individuelle Fehlreaktionen des Immunsystems auf Fremdstoffe, die unter dem klinischen Bild einer Allergie verlaufen. Hierbei werden zunächst Antikörper gegen strukturelle Merkmale eines Stoffes gebildet, bei niedermolekularen Stoffen nach vorheriger Bindung an ein Protein, welches dem Immunsystem als „fremd“ erscheint. Bei Allergien werden Stoffe vom Immunsystem als Krankheitserreger fehlinterpretiert und die körperüblichen Immunreaktionen aktiviert.

Sensibilisierungen verlaufen typischerweise in zwei Stufen: In der Initiierungsphase werden durch Kontakt mit dem sensibilisierenden Agens die Antikörper vom Immunsystem gebildet. Dies kann nach mehrjährigem Kontakt mit dem sensibilisierenden Stoff plötzlich ohne vorherige Anzeichen erfolgen. Die für die Induktion verantwortlichen Ursachen sind nur in wenigen Fällen bekannt. Hohe Dosen, u. U. auch einmalig hohe Dosen, können hierbei eine bahnende Rolle spielen. Nach Induktion, in der die Antikörper gebildet werden, kann bei erneutem Kontakt die Sensibilisierungsreaktion ausgelöst werden, wofür bereits sehr geringe Mengen ausreichen können.

Grundsätzlich wird zwischen allergischen Reaktionen

unterschieden.

Als typische atemwegsallergische Reaktionen gelten allergischer Schnupfen (Rhinitis allergica) mit Nasenjucken, Niesreiz, Niessalven, Fließschnupfen und Nasenverstopfung oder das allergische Asthma bronchiale mit anfallartiger Luftnot und pfeifenden Atemgeräuschen. Häufig werden diese allergischen Erscheinungen von Augenbindehautentzündung (Blepharokonjunktivitis) begleitet. Seltener sind fieberhafte Lungenerkrankungen (allergische Alveolitis, z. B. Farmerlunge). Allergischer Schnupfen und allergisches Asthma durch pflanzliche und tierische Allergene werden gehäuft bei Personen mit anlagebedingter Bereitschaft zu Überempfindlichkeitsreaktionen (Atopie) beobachtet. Das Auftreten allergischer Atemwegsbeschwerden ist abhängig vom Grad der Sensibilisierung sowie von Art, Konzentration und sensibilisierender Potenz des an den Atemwegen sensibilisierend wirkenden Stoffes. Bei bestehender Allergie genügen meist sehr geringe Mengen des Allergens, um Beschwerden auszulösen.

Niedermolekulare Stoffe, wie z. B. Metallionen, organische Carbonsäureanhydride oder Acrylate, sensibilisieren überwiegend durch Hautkontakt. Hierbei führt die Reaktion dieser Stoffe mit körpereigenen Eiweißen zur Bildung spezifisch sensibilisierter Immunzellen. Nach wiederholtem Hautkontakt kann mit zeitlicher Verzögerung am Einwirkort, gelegentlich mit Streureaktionen an anderen Stellen, ein allergisches Kontaktekzem auftreten. Die Sensibilisierung ist abhängig von der Intensität des Kontakts und der sensibilisierenden Potenz des Stoffes.

Aufgrund zahlreicher Untersuchungen kann als gesichert angesehen werden, dass eine erbliche Disposition für die Allergieauslösung von großer Bedeutung ist. Personen mit entsprechend häufigem Auftreten von Allergien in der Verwandtschaft sollten deshalb besondere Vorsicht gegenüber allergieauslösenden Ursachen walten lassen. Andererseits sind Stoffe bekannt, die aufgrund ihres hohen sensibilisierenden Potenzials unabhängig von der individuellen Disposition bei jedem Menschen eine Sensibilisierung herbeiführen.

Sensibilisierungen nehmen in der Allgemeinbevölkerung seit mehreren Jahren bzw. Jahrzehnten stetig zu. Korrelationen mit der Höhe der Umweltverschmutzung sind nicht nachweisbar.

Ebenfalls sehr häufige Ursachen für Allergien sind Hausstaub, Blütenpollen, Tierhaare, Lebensmittel sowie Lebensmittelzusatzstoffe und Pflanzen. Erfahrungsgemäß ist die Bestimmung des allergieauslösenden Agens in der Praxis oft schwierig.

Bei berufsbedingten Allergien dominieren andere Stoffe im Vergleich zu den Allergien in der Allgemeinbevölkerung. Die häufigste Ursache allergischer Berufskrankheiten ist Mehl. Jährlich werden in der Bundesrepublik Deutschland deswegen hohe Millionenbeträge an Rentenzahlungen aufgewendet. An zweiter Stelle stehen Allergien im Bausektor, ausgelöst durch Chromat im Zement. Durch das Verbot von allergieauslösenden Chromatkonzentrationen in Zementen bei händi-scher Anwendung durch Anhang XVII REACH-Verordnung (siehe Abschnitt 4.3) ist mit einer deutlichen Abnahme der sogenannten Maurerkrätze zu rechnen. An dritter Stelle berufsbedingter Allergien stehen durch Desinfektionsmittel ausgelöste Kontaktekzeme im Krankenhaus- und Reinigungsbereich. Die klassischen chemischen Allergene nehmen im Berufskrankheitsgeschehen nur eine untergeordnete Rolle ein.

Während zur Prüfung auf atemwegsensibilisierende Wirkung keine tierexperimentellen Untersuchungsmethoden zur Verfügung stehen, können zur Prüfung auf Hautsensibilisierung zwei verschiedene Testmethoden mit unterschiedlicher Empfindlichkeit benutzt werden. Zur Prüfung von Industriechemikalien ist üblicherweise der sogenannte Patchtest ausreichend empfindlich. Hierbei wird die Prüfsubstanz unmittelbar auf die Haut applizieren, ähnlich wie bei Allergietests bei Menschen.

Im Maximierungstest, auch Magnusson-Kligmann-Test genannt, wird die zu prüfende Substanz in einer nicht reizenden Konzentration in die Haut von Meerschweinchen injiziert und zur Verstärkung mit einem bekannten Allergen eine Körperreaktion ausgelöst. Nach einer Induktionszeit von 14 Tagen wird die Testsubstanz epikutan aufgetragen. Eine positive Reaktion liegt vor, wenn bei einem größeren Anteil der Tiere nach der Ruhephase eine Sensibilisierung ausgelöst wurde (siehe Abbildung 1.7).

Abb. 1.7 Maximierungstest zur Ermittlung der sensibilisierenden Wirkung

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Als weiterer Routinetest hat sich neuerdings als in-vivo-Prüfung der lokale Test an Lymphknoten an Mäusen (LLNA) etabliert, der zusätzlich eine Differenzierung nach der allergenen Potenz erlaubt.

1.1.6 Entwicklungsschädigende Wirkung

Zum Verständnis entwicklungsschädigender Wirkungen sind Kenntnisse der Entwicklung von der befruchteten Eizelle bis zur Geburt notwendig: In den beiden ersten Wochen nach der Befruchtung beginnen die Zellteilungen bis zur Embryonalphase. Schädigungen in dieser Phase der Schwangerschaft, der sogenannten Blastogenese, sind in aller Regel so gravierend, dass es zum Absterben des Embryos kommt. Da die Schwangerschaft in diesem Stadium i. A. noch nicht feststellbar ist, kann auch die Fehlgeburt (Abort) nicht wahrgenommen werden. An das Stadium der Blastogenese schließt sich die Embryogenese an. Beim Menschen erstreckt sich diese Phase von der dritten bis zur achten Schwangerschaftswoche. In dieser Entwicklungsphase werden die Organe und die Extremitäten (Gliedmaßen wie Arme und Beine) ausgebildet und äußere Einflüsse können zu morphologischen Veränderungen führen. Diese anatomischen Missbildungen werden als teratogene Effekte bezeichnet. In Abbildung 1.8 ist die Schädigung der verschiedenen Organe in Abhängigkeit von der Zeit dargestellt.

Abb. 1.8 Die sensiblen Phasen der Schwangerschaft beim Menschen

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An die Embryogenese schließt sich die Fetalperiode an, während der sich das zentrale Nervensystem ausbildet und das weitere Wachstum der Organe stattfindet. Zur Ausbildung embryotoxischer Wirkung (Schädigung des Embryos) müssen Chemikalien vom mütterlichen in den kindlichen Organismus übertreten und dafür die Plazentaschranke überwinden. In Abhängigkeit von der chemischen Struktur stellt die Plazentaschranke eine mehr oder weniger wirkungsvolle Barriere dar; insbesondere lipophile Stoffe können sie gut überwinden.

Wird die embryotoxische Wirkung ohne Schädigung des mütterlichen Organismus (maternaltoxischer Effekt) hervorgerufen, sind besondere zusätzliche Maßnahmen am Arbeitsplatz notwendig, da die potenzielle Gefährdung von der schwangeren Frau selbst nicht wahrgenommen wird. Während teratogene Effekte anatomische Missbildungen ausdrücken, ist der Begriff Fruchtschädigung weiter gefasst. Hierzu zählen alle durch die Stoffexposition ausgelösten Veränderungen, die bei der Geburt erkennbar sind, wie z. B. verringertes Geburtsgewicht oder Organschäden.

Der Begriff Entwicklungsschädigung (nach EU-Definition) umfasst darüber hinaus alle schädlichen Wirkungen auf die Entwicklung der Nachkommen, die während der Schwangerschaft verursacht werden und sich prä- oder postnatal (vor oder nach der Geburt) bis zur Pubertät manifestieren. Dies schließt im Gegensatz zur Fruchtschädigung geistige und physische Entwicklungsstörungen ein, die sich ggf. erst im Vorschulalter bzw. in der Schule zeigen.

Zu den Entwicklungsschädigungen zählen

Schädigungen des Embryos können durch eine Vielzahl von Faktoren ausgelöst werden. Aus dem alltäglichen Leben sind physische (schweres Heben, mechanische Schädigungen des Fötus, extreme Temperaturen etc.) und psychische (eventuell hormonell bedingt) Faktoren bekannt, Sauerstoffmangel oder ernährungsbedingte Mangelerscheinungen durch das Fehlen essenzieller Vitamine und Spurenelemente.

Im Rahmen der weiteren Diskussion werden nur die vom Arbeitsplatz ausgehenden embryotoxischen Effekte betrachtet. Wichtige Faktoren sind

Alle ausreichend energiereiche ionisierende Strahlen können Entwicklungsschädigungen auslösen. Gravierende Schädigungen können Gammastrahlen, die beim radioaktiven Zerfall entstehen, hervorrufen. Desgleichen sind auch Schädigungen durch Röntgenstrahlen bekannt.

Virale oder bakterielle Erkrankungen können ebenfalls eine große Gefahr für den heranreifenden Embryo sein. Die durch den Rötelvirus ausgelösten schweren Schädigungen (Augen-, Ohrenschäden, Herzfehler) haben zu einer routinemäßigen Untersuchung von Schwangeren geführt mit ggf. nachfolgender Impfung bei nicht ausreichenden Antikörpern.

Neben einigen wichtigen Industriechemikalien können Entwicklungsschädigungen durch viele alltägliche Stoffe oder auch Arzneimittel ausgelöst werden, z. B.

Die häufigsten Ursachen in der westlichen Welt sind jedoch die leicht vermeidbaren zivilisatorischen Ursachen Rauchen, Alkohol und Drogen. Die entwicklungsschädigende Wirkung von Alkohol (Ethanol) ist zweifelsfrei nachgewiesen. Neben anatomischen Missbildungen treten vor allem Entwicklungs- und Verhaltensstörungen sowie geistige Defizite auf.

Entwicklungsschädigende Stoffe besitzen nachgewiesenermaßen im Tierversuch als auch beim Menschen eindeutig Wirkschwellen, unterhalb derer keine Schädigungen auftreten. Bei rein inhalativer Aufnahme von Ethanol am Arbeitsplatz in Konzentrationen bis zum MAK-Wert wird die Wirkschwelle mit Sicherheit unterschritten, erkennbar an der Zuordnung zur Schwangerschaftsgruppe C (siehe Abschnitt 2.3.4.7). Schädigungen durch Alkohol sind ausschließlich bei oraler Aufnahme möglich.

Durch (unter anderem) Mangelversorgung der Zellen mit Sauerstoff besitzt Kohlenmonoxid auch im Tierversuch eindeutig entwicklungsschädigende Wirkung. Kohlenmonoxid ist wesentliche Ursache für die entwicklungsschädigende Wirkung des Rauchens.

Vitamin A, ein essenzielles Vitamin, ist in höheren Mengen eindeutig auch beim Menschen entwicklungsschädigend. Die Existenz einer Wirkschwelle entwicklungsschädigender Stoffe wird hier besonders deutlich; Vitaminmangel während der Schwangerschaft löst Mangelerscheinungen von Mutter und Kind aus. Die in Lebensmitteln enthaltenen Vitamin-A-Mengen liegen deutlich unter der entwicklungsschädigenden Schwelle, nicht jedoch die in manchen Arzneimitteln!

1.1.7 Fruchtbarkeitsgefährdende Wirkung

Fruchtbarkeitsschädigende Wirkung liegt vor, wenn nachteilige Auswirkungen bestehen auf

Eine fruchtbarkeitsschädigende Wirkung in Tierversuchen setzt voraus, dass keine sekundären Effekte während der Versuchsdurchführung vorhanden sind. So kann z. B. erhöhter Stress zu einem geänderten Paarungsverhalten führen oder toxische Effekte an anderen Organen eine Sekundärwirkung auslösen. Nur wenn eine eindeutige Wirkung auf das Reproduktionssystem belegt ist, z. B. durch einen geänderten Hormonspiegel, ist eine Einstufung in Kategorie 2 gerechtfertigt.

Dass sich natürlicherweise ein Drittel bis zur Hälfte der befruchteten Eizellen beim Menschen nicht in die Gebärmutter einnisten, ist an der hohen Rate an Spontanaborten innerhalb der ersten drei Schwangerschaftswochen erkennbar. Als Ursache kommen natürliche genetische Defekte, die eine Weiterentwicklung im Mehrzellstadium verhindern, infrage. Die körpereigenen Prüfmechanismen sondern nicht nur natürliche genetische Defekte (endogene Faktoren), sondern auch von außen ausgelöste Defekte (exogene Faktoren) aus.

Der Nachweis einer Verminderung der Fruchtbarkeit beim Menschen ist aus den vorgenannten Gründen schwierig. Im Gegensatz zur Entwicklungsschädigung sind beide Geschlechter gleichermaßen betroffen. Anzahl und Qualität der Spermien werden stark durch äußere (z. B. Stress, Stoffe) und durch innere Faktoren (z. B. psychische Schwankungen) beeinflusst. Auswirkungen auf die Spermatogenese (Heranreifen der Spermien) sind auf vielfältige Art möglich; die Wirkung von Alkohol, Rauchen oder Drogen ist eindeutig belegt, desgleichen können auch Chemikalien entsprechende Effekte auslösen. Im Gegensatz hierzu sind die Ovarien deutlich besser gegen Fremdeinflüsse geschützt, wenngleich auch hier exogene Schäden denkbar sind.

1.1.8 Krebserzeugende Wirkung

Tumore werden durch unkontrolliertes Zellwachstum ausgelöst. Durch fortschreitende Teilung der Zellen können Geschwülste entstehen. Grundsätzlich muss zwischen gutartigen (benignen) und bösartigen (malignen) Tumoren unterschieden werden.

Gutartige Tumore wachsen isoliert vom umgebenden Gewebe. Diese Gewebewucherungen wachsen normalerweise eingekapselt und expansiv, d. h. aus sich heraus. Sie werden mit dem Suffix -om bezeichnet: Ein faserbildender Tumor des Bindegewebes ist demnach als Fibrom, ein Gefäßtumor als Angiom, ein Drüsentumor als Adenom und ein gutartiger Tumor des Fettgewebes als Lipom zu bezeichnen.

Bösartige Tumore wachsen demgegenüber nicht in einer isolierten Einheit, sondern in das umliegende gesunde Gewebe hinein; man spricht von infiltrativem Wachstum. Durch Verteilung über Blut- und Lymphgefäße können sich Töchtergeschwülste an ganz anderen Organen ansiedeln und Metastasen bilden. Bösartige Tumore werden auch als „Krebs“ bezeichnet. In Abhängigkeit vom Gewebe, in dem der Krebs wächst, unterscheidet man verschiedene Krebsarten:

Karzinom: Krebs von Epithelzellen. Epithelzellen bilden die inneren und äußeren Oberflächen im Organismus. Hierzu zählen die Haut, die Atmungsorgane und der Magen-Darm-Trakt sowie zahlreiche Drüsen, wie z. B. die Brust-, Bauchspeichel- und Schilddrüse. Die meisten Krebse (ca. 90 %) gehen von Epithelzellen aus und sind somit Karzinome. Zur Charakterisierung wird das Suffix -karzinom verwendet: Ein bösartiger Tumor des Drüsengewebes wird als Adenokarzinom bezeichnet.

Sarkom: Krebs von Bindegewebszellen. Zur Unterscheidung wird ein Krebs des Bindegewebes Fibrosarkom und ein Gefäßtumor Angiosarkom genannt.

Zum Verständnis der Krebsentstehung werden Kenntnisse der Zellteilung (Proliferation) benötigt. Der Zellteilung geht stets eine Verdopplung (Replikation) der Desoxyribonukleinsäure (DNS) voraus. Die DNS als Träger der Erbinformation folgt bei allen Lebewesen dem gleichen Bauprinzip: Sie besteht aus zwei Einzelsträngen, die im Sinne einer Doppelhelixstruktur miteinander verbunden sind. Jeder Einzelstrang dieses Makromoleküls ist durch eine regelmäßige Abfolge des Zuckermoleküls Desoxyribose und der Phosphorsäure derart aufgebaut, dass je eine Desoxyribose an zwei verschiedenen Phosphorsäuremolekülen über eine DiEsterbrücke verknüpft ist. An jedes Zuckermolekül ist eine der vier Basen Adenin, Thymin, Guanin oder Cytosin kovalent gebunden. Zwei Basen stehen sich jeweils gegenüber und bilden so die „Sprossen“ der Doppelhelix durch Wasserstoffbrückenbindung. Bei allen höheren Lebewesen ist die DNS im Zellkern jeder Zelle lokalisiert. Somit ist im Zellkern jeder Zelle der Bauplan des ganzen Organismus gespeichert.

Genotoxische chemische Kanzerogene können mit den reaktiven Gruppen der DNS reagieren. Da die vier Basen Adenin, Guanin, Thymin und Cytosin freie Aminogruppen haben, reagiert die DNS bevorzugt mit Elektrophilen. Neben den Aminogruppen hat die DNS weitere funktionelle Gruppen, sowohl an den Basen als auch am Phosphat-Desoxyribose-Rückgrat. An den vielfältigen Wasserstoffbrückenbindungen, die für die „Tertiärstruktur“ mitverantwortlich sind, bieten sich zahlreiche Angriffspunkte für Chemikalien (oder deren Metabolite), die die DNS direkt verändern und krebsauslösend wirken. Jede Zellteilung wird immer durch Duplizierung der DNS eingeleitet. Eine Veränderung der DNS kann somit zu einer Veränderung der Tochterzelle führen.

Im Gegensatz zu den genotoxischen verändern nicht-genotoxische Kanzerogene, früher wurde auch der Begriff epigenetisch benutzt, nicht die DNS. Durch eine permanente Reizwirkung können sie z. B. die Zellteilungsrate erhöhen oder durch Überlastung der Reinigungsmechanismen der Lunge krebsauslösende Faktoren bilden.

1.1.8.1 Krebsauslösende Faktoren

Die Ursachen von DNS-Veränderungen sind sehr vielfältig. Folgende krebsaus- lösende Faktoren sind für das Krebsaufkommen von Bedeutung:

– endogen gebildete Kanzerogene
– Industriechemikalien
– Enzyme
– Hormone
– Viren
– ionisierende Strahlung: Röntgenstrahlung, Gammastrahlung
– ultraviolette Strahlung

Wird die Immunabwehr des Körpers herabgesetzt, wie z. B. nach Organtransplantationen, werden verstärkt Tumore beobachtet. Offensichtlich ist mit einer Reduzierung der Immunabwehr eine erhöhte Anfälligkeit gegenüber Tumoren verbunden.