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Sabine Dietrich

Das Anti-Druck-Buch

Wie Sie sich im Job und privat gezielt entlasten

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Vorwort: Die Druckmacher

Digitalisierung, Industrie 4.0, VUCA-Welt (VUCA = volatility, uncertainty, complexity und ambiguity), demographischer Wandel – jeden Tag tauchen neue Schlagworte in den Medien auf und fügen dem massiven Druck, unter dem die engagierten Führungskräfte und Mitarbeiter in den Unternehmen leiden, immer neue Facetten hinzu: Dem Druck, nicht nur den Alltag irgendwie zu bewältigen und die Cashcow zu optimieren, sondern auch an die Stärkung der Erfolgsfaktoren von morgen zu denken. Dem Druck, Strategie, Prozesse, Produktentwicklung und Verkauf nicht nur analog, sondern auch digital zu denken und die Chancen der neuen technischen Möglichkeiten nicht zu verpassen. Dem Druck, in einer volatilen, unsicheren, komplexen, immer schnelleren und mehrdeutigen Wirtschaftswelt stets zeitlich und räumlich flexibel und jederzeit bereit zu sein, sich neu zu orientieren. Oder eben dem Druck, in jedem Lebensalter seine Daseinsberechtigung im Wirtschaftsleben stets von Neuem beweisen zu müssen.

Ja, die Anforderungen der modernen Arbeitswelt erzeugen Druck. Und es gibt viele Menschen, die diesen Druck mit voller Wucht an uns herantragen:

Und nicht zuletzt:

Und Sie? Sie wünschen sich, all den Ansprüchen gerecht zu werden, insbesondere Ihrem eigenen Anspruch – und der ist hoch. Also stürzen Sie sich in die Arbeit, beeilen sich, gehen noch eine Extrameile, machen das Wochenende durch, reduzieren Ihre Zeit mit der Familie, Ihren Freunden und Hobbys auf ein Minimum. Doch je mehr Sie sich anstrengen, desto mehr gewinnen Sie den Eindruck, Sie müssten Superman sein, um alles zu schaffen, was von Ihnen erwartet wird.

Sie sind ein talentierter, ambitionierter, engagierter, leistungsbereiter und -fähiger Mensch – aber eben nur ein Mensch. Und die Frage ist: Wie werden Sie den übermäßigen Druck, der Sie quält und unproduktiv macht, los? Aber: Können Sie ihn überhaupt loswerden oder ist das eben so in dieser modernen Arbeitswelt?

Ich behaupte: Sie können sich befreien. Dafür müssen Sie nicht kündigen – weder innerlich noch äußerlich. Sie haben es in der Hand, Ihre Situation zu verändern – und zwar genau da, wo Sie gerade stehen.

Für Sie habe ich dieses Buch geschrieben: Ich will Ihnen zeigen, wie Sie sich mit verschiedenen Ansätzen aus Ihren Drucksituationen befreien.

Die Kapitel dieses Buches sind wie die Perlen einer Kette: Der rote Faden, auf dem sie aufgereiht sind, ist der Weg, der Sie Schritt für Schritt zu Ihrer Entlastung führt. Auch wenn Sie bei manchen der Themen zunächst stutzen werden, weil der Zusammenhang mit dem Druck, den Sie verspüren, nicht sofort sichtbar wird: Ich kann Ihnen versichern, dass jede der beschriebenen Erkenntnisse und Techniken für sich und erst recht in der Kombination mit den anderen dazu führen wird, dass Ihre Situation sich entspannt.

Eins möchte ich dabei vorwegnehmen: Sie können den Druck genauso wenig von heute auf morgen abstellen wie Sie sich in Superman oder Superwoman verwandeln können. Aber Sie können lernen, mit ihm umzugehen. Mehr noch: Sie können den Druck kontinuierlich verringern. Bis Sie nicht mehr ständig vom Druck getrieben sind, sondern in einer Position, von der aus Sie wieder aktiv gestalten können – im Job und auch im Privatleben.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine befreiende Lektüre.

Ihre Sabine Dietrich

September 2017

Teil 1
WAS SIE AN SICH TUN KÖNNEN

Kapitel 1:
So lichten Sie den Nebel

Alles zu viel

Das unangenehme Gefühl, mehr Aufgaben auf dem Zettel zu haben, als es menschenmöglich ist zu erledigen, ist nicht mehr nur Managern in der Sandwich-Position vorbehalten. Auch Mitarbeiter, die neben ihrer Linientätigkeit in Projekten arbeiten, oder Assistentinnen, die ihre Chefs organisieren müssen, wissen nicht mehr, wo ihnen der Kopf steht. Genau genommen ist jeder Mitarbeiter angesichts der wachsenden Anforderungen durch Globalisierung und Digitalisierung, durch die Vielzahl der Kommunikationskanäle, durch steigende Kundenerwartungen und sich immer schneller wandelnde Märkte sowie durch viele weitere Faktoren wesentlich mehr gefordert als vor einigen Jahren. Jeder, der im Berufsleben steht, muss sich also immer häufiger die Frage stellen: Wie soll ich das bloß alles schaffen?

»Alles« – das ist die ellenlange To-do-Liste im Job, aber auch die diversen privaten Verpflichtungen. Der Wunsch, als Vater nicht nur die Brötchen heranzuschaffen, sondern auch für die Familie da zu sein, bedeutet Zusatzaufgaben wie Einkaufen, Rasen mähen, mit den Kleinen spielen, Gute-Nacht-Geschichten vorlesen. Und der Anspruch, nicht nur die beste Mama und Ehefrau zu sein, sondern nebenbei auch noch im Job zu glänzen, erfordert fortgeschrittene Organisationskünste in Bezug auf Haushalt und Kinderversorgung.

Entspannung? Abends ein Bierchen mit Freunden trinken? Ins Fitnessstudio oder zum Yoga gehen? An solch einen Luxus ist nicht zu denken, wenn die Katze morgen nichts mehr zu fressen hat, der Chef die Zahlen heute Abend braucht und morgen Hochzeitstag ist.

Und für immer mehr Berufstätige sind die Tage zu voll. Viel zu voll.

Ob es der junge Ingenieur ist, der frisch in die Führungsrolle geschlüpft ist und damit eine Latte an neuen Aufgaben hat, oder die Wiedereinsteigerin, die sich nach zehn Jahren Jobabstinenz als wertvolle Arbeitskraft verdient machen will, oder der Berufswechsler, der nach 20 Jahren in ein und derselben Firma in ganz neue Netzwerke, Aufgaben, Regeln und Formen der Kommunikation eintaucht, oder der Abteilungsleiter, der sich jetzt schon für die Nachfolge des bald pensionsberechtigten Chefs in Stellung bringen will. Wenn Sie heute all den beruflichen Anforderungen und Zielen gerecht werden wollen, werden Sie früher oder später mit der Überforderung konfrontiert sein.

Das Tückische ist: In dem Moment, in dem Sie merken, dass Sie mehr Aufgaben angenommen haben, als Sie erledigen können, befinden Sie sich bereits in einer Abwärtsspirale.

Ein wichtiger Kunde ist unzufrieden, zwei Mitarbeiter haben einen Konflikt, der den Arbeitsfortschritt aufhält, ein weiteres Projekt ist in den roten Bereich gekommen oder Ihr Chef hat noch eine dringende Aufgabe für Sie – und Sie sind derjenige, der einspringt, »Ja« sagt und all diese Brände löscht. Klar, Sie werden gebraucht, Sie werden um Hilfe gebeten. Und natürlich müssen diese Probleme gelöst werden. Wenn sie in Ihren Verantwortungsbereich fallen, müssen sie auch durch Sie gelöst werden. Alles richtig.

Doch indem Sie solche »Spontaneinsätze« übernehmen, rutschen Ihre eigentlichen Aufgaben in den Hintergrund. Im Klartext: Sie verschieben sie. Erst auf morgen. Dann auf übermorgen. Dann auf über-übermorgen. Sie können sich ausrechnen, wie viel Chancen Sie haben, mit dieser Arbeitsweise Ihre Aufgaben jemals in der nötigen Zeit und Qualität zu erledigen.

So werden Sie mit der Zeit immer getriebener. Und das zehrt an Ihrer Energie.

Diese Abwärtsspirale können Sie nur unterbrechen, wenn Sie sie durchschaut haben.

Wie bemerken Sie überhaupt, dass Sie getrieben sind anstatt selbst zu treiben?

Vernebelt

Wenn Sie nur einige dieser Phänomene an sich beobachten, spricht vieles dafür, dass Sie sich im Nebel befinden. Was das genau bedeutet, möchte ich Ihnen anhand des Beispiels eines Bereichsleiters zeigen, den ich im Rahmen eines Coachings kennengelernt habe und den ich nie vergessen werde.

Ja, das war ein besonders krasser Fall. Die äußere Unordnung war nur ein Spiegel der inneren Unordnung. Und so hatten wir im Coaching reichlich zu tun.

Auch wenn Ihr Schreibtisch, Ihr Ordnersystem und Ihr Büro ganz anders aussehen – was ich stark annehme –, gibt es ein Phänomen, das Sie womöglich auch kennen: die fehlende Übersicht.

Bei Herrn Finkensieper war sie physisch sichtbar. Für viele andere Menschen, die Druck verspüren, ist er aber nur fühlbar. Auch wenn es tatsächlich das gleiche Phänomen ist. Und dahinter steckt auch die gleiche Ursache: die fehlende Übersicht.

Selbst wenn Sie ein funktionierendes Ablagesystem haben, selbst wenn Sie eine klare Ordnerstruktur definiert haben, selbst wenn die Dateien in Ihrem Computer aufgeräumt sind: In all diese Systeme und Strukturen strömt täglich neuer Input, den Sie nicht auf Anhieb »wegschaffen« können. Sprich: Zumindest zeitweise ist Ihr Schreibtisch – ob physisch oder gedanklich – übervoll.

Ursache dafür ist nicht, dass Sie schlecht organisiert sind, sondern weil verschiedene Menschen und Aufgaben auf das gleiche Zeitfenster zugreifen: Meetings und feste Termine konkurrieren mit spontanen Aufträgen, Telefonanrufen, E-Mails oder Kollegen, Chefs und Mitarbeitern, die etwas brauchen. Es ist aber nicht möglich, zwei oder mehr Aufgaben effizient auf einmal abzuarbeiten. Nicht einmal Superman kann das. Warum das so ist, darauf gehe ich in Kapitel 5 näher ein.

Je mehr Aufgaben miteinander konkurrieren, desto größer ist die Gefahr, dass Sie den Überblick verlieren. Mit jeder Aufgabe, die dazu kommt, wird der Nebel dichter und versperrt Ihnen die Sicht.

Doch um zu entscheiden, wie Sie mit den konkurrierenden Anfragen umgehen, brauchen Sie Klarheit über Ihre Kapazitäten, Ihre Prioritäten und Ihre verplante Zeit. Sie müssen wissen, was bei Ihnen gerade alles ansteht, was Sie zugesagt haben, was verschiebbar ist und wie viele freie Vakanzen Sie haben. Beziehungsweise ob Sie überhaupt welche haben.

Fehlt Ihnen dieser Überblick, können Sie die nächsten Anfragen nicht bearbeiten. Tun Sie es doch und sagen einfach mal »Ja«, dann entsteht Druck. Und mit jedem neuen »Ja«, von dem nicht klar ist, wie und wann es überhaupt weiterverarbeitet wird, wächst sowohl der Druck als auch die Nebeldichte.

Sie wissen nicht mehr, was wichtig und was weniger wichtig ist. Welche Aufgaben heute dran sind und welche nicht. Was Sie besser gleich machen, was Sie verschieben oder delegieren sollten und was Sie eventuell gleich absagen. Und alles Zusätzliche, das tagtäglich mit rasender Geschwindigkeit auf Sie einprasselt, kriegen Sie ohnehin nicht mehr sortiert. Denn Ihre gedankliche Grundordnung ist mit dem Überblick flöten gegangen.

Im Nebel bearbeiten Sie die Aufgabe, die gerade als letzte an Sie herangetragen wurde – weil Sie sich nicht mehr erinnern können, ob es eine andere Aufgabe gibt, die vorher bearbeitet werden sollte. Oder weil die Aussicht auf eine schnelle Erledigung und auf rasches Feedback angenehmer ist als die Aussicht auf eine Planung, für die nur Sie selbst sich erstmal loben können. Dieser Drang, schnell Erfolgserlebnisse zu generieren, führt jedoch dazu, dass Sie die strategisch wichtigen, häufig komplexen und zeitintensiven Aufgaben, die auf Ihre eigenen Ziele einzahlen, vor sich herschieben.

Wenn Sie regelmäßig die zuletzt eingetroffenen Aufgaben als Erstes anpacken, schließen Sie den Arbeitstag ab mit dem Gefühl, dass Sie …

  • … nicht wissen, was Sie heute gemacht haben,
  • … nicht stolz auf sich sind,
  • … möglicherweise einen verabredeten Termin nicht einhalten,
  • … einfach nicht fertig werden,
  • … und somit auch nicht erfolgreich waren,
  • … aber körperlich geschafft und unzufrieden sind.

Dieser Kampf im Nebel ist alles andere als befriedigend. Aber wie kommen Sie wieder zu einer befriedigenden Art und Weise, Ihr Leben im Job und im Privaten zu überblicken und zu gestalten?

Garantiert nicht, indem Sie darauf warten, dass Ihr Chef Ihnen keine neuen Aufgaben mehr gibt, Ihr Lebenspartner Sie nicht mehr einspannt, Ihre Freunde im Alleingang Ihre Freundschaft pflegen und Ihre Mitarbeiter und Kollegen keine Absprachen mehr mit Ihnen brauchen. Sondern indem Sie sich eine klare Sicht verschaffen.

Endlich klare Sicht schaffen

Mit all den Anforderungen umzugehen, die an Sie gestellt werden, ist möglich! Nicht indem Sie alle Erwartungen erfüllen, sondern indem Sie Klarheit über Ihre Prioritäten erlangen. Das befähigt Sie, zu jeder neuen Anfrage klar »Ja« oder auch »Nein« zu sagen. Und in Ihrem bisherigen Nebel aus Aufgaben, Anforderungen und To-dos aufzuräumen.

Doch wie kommen Sie zu dieser Klarheit? Indem Sie sich zunächst einen Überblick darüber verschaffen, was Ihre momentanen Aufgaben und Anforderungen sind und vor allem: Wo sie herkommen.

Wenn die Natur den Nebel loswerden will, dann schickt sie kräftigen Wind. Wenn Sie Ihren Nebel loswerden wollen und sich einen Überblick über Ihre Situation verschaffen wollen, dann tun Sie dasselbe. Sie tasten sich nicht von jedem kleinteiligen To-do zum nächsten, denn davon verzieht sich der Nebel nicht. Sie holen einmal tief Luft und pusten den ganzen Nebel weg. Dann haben Sie endlich freie Sicht auf den Ursprung der Aufgaben. Denn jede Aufgabe, die Sie übernommen haben, hängt an einer Rolle, die Sie in Ihrem Leben übernehmen.

Eine Rolle im Leben ist genau wie eine Rolle im Film. James Bond zum Beispiel ist eine der bekanntesten. Der 007-Agent trinkt Martini, hat eine tolle Figur, ist sportlich, liebt schnelle Autos, schöne Frauen liegen ihm zu Füßen und gefährliche Gegner verfolgen ihn gnadenlos. All diese Merkmale beschreiben nicht einen Menschen aus Fleisch und Blut, sondern eine Rolle. Die Rolle des risikofreudigen, verwegenen Charmeurs, der gegen das Böse kämpft, immer nah am Tod, und am Ende immer erfolgreich. Das klare und gleichbleibende Rollenprofil macht es möglich, dass die Rolle mittlerweile von sechs verschiedenen Darstellern in offiziellen Verfilmungen und von drei Darstellern in nicht autorisierten Verfilmungen gespielt wurde und dass jeder Schauspieler der Rolle bisher eine individuelle Note verliehen hat, während der Grundcharakter von James Bond immer erhalten geblieben ist.

Laut dem Psychologieprofessor Philip Zimbardo ist eine Rolle ein »sozial definiertes Verhaltensmuster, das von einer Person, die eine bestimmte Funktion in einer Gruppe hat, erwartet wird.« (Zimbardo, Psychologie 1995). Dabei stehen die erwarteten Verhaltensweisen in keinem Zusammenhang mit den Persönlichkeitsmerkmalen der Person, die die Rolle ausfüllt.

Jeder formt seine Rolle anders aus. Nehmen wir als Beispiel die Rolle der Hausfrau: Eine Frau, die ihren Fokus auf die Familie legt, verbringt mehr Zeit und mehr Energie mit der Kindererziehung, der Instandhaltung der Wohnung, als eine berufstätige Mutter, die ihren Fokus auf den Job legt. Oder die Rolle der Hausbesitzerin: Es ist ein großer Unterschied, ob jemand Hausbesitzer auf dem Papier ist oder ob er eine Verpflichtung oder sogar Spaß daran hat, persönlich für Sauberkeit, Ordnung, Vermietung etc. zu sorgen.

Schon an diesen beiden Beispielen sehen Sie, dass eine Rolle noch nicht festlegt, wie jemand diese Rolle begreift und lebt. Sie sehen daran aber auch: Jeder Mensch nimmt im Leben diverse Rollen ein. Im Gegensatz zu den Bond-Darstellern haben wir sogar mehrere gleichzeitig. Rollen im wahren Leben können zum Beispiel sein:

  • Chef eines Entwicklungsteams,
  • Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Innovation,
  • Ehemann,
  • Vater von drei Kindern,
  • Freund von vier Männern / Frauen,
  • Sportler als Fechter,
  • Hobby-Zauberer,
  • Freiwilliger bei der Feuerwehr.

All diese Rollen kann eine einzige Person bewusst übernehmen.

Darüber hinaus gibt es auch Rollen, die wir angenommen haben, obwohl wir sie gar nicht wollen oder ohne dass es uns bewusst war. »Die Verständnisvolle, bei der sich jeder ausheulen kann« ist ein solches Beispiel.

Egal, wie Sie zu einer Rolle gekommen sind: An jeder Rolle hängen diverse Aufgaben und Erwartungen, die Sie sich zusammen mit der Rolle aufladen. Das heißt, sobald Sie einen Überblick über Ihre Rollen haben, können Sie sich auch einen systematisierten Überblick über Ihre Aufgaben verschaffen. Indem Sie dann Rollen und Aufgaben mit Ihren Zielen und Wünschen in Verbindung bringen, sehen Sie schnell Potentiale, um sich von unerwünschten Aufgaben und somit vom Druck zu entlasten.

Den Überblick, die freie Sicht, verschaffen Sie sich in fünf Schritten. Damit Sie dabei ganz konkret weiterkommen, enthalten die nächsten Seiten praktische Übungen.

Nehmen Sie sich bewusst Zeit für diese fünf Schritte. Wenn Sie unter Zeitdruck stehen, wird es Ihnen schwerfallen, die nötige Konzentration aufzubringen. Aber ohne Durchblick wird es Ihnen nicht gelingen, den Nebel zu lichten. Entscheiden Sie sich also jetzt:

Reservieren Sie sich jetzt einen zweistündigen Termin mit sich selbst, der in den nächsten sieben Tagen stattfindet. Und lesen Sie erst weiter, wenn Sie den Termin verbindlich in Ihren Kalender eingetragen haben. Auf diese Art werden Sie das Gelesene tatsächlich in die Praxis umsetzen. Und in einer Woche bereits einen Schritt weiter sein.

Schritt 1: Überblick gewinnen

Zunächst verschaffen Sie sich einen Überblick über all die Rollen, die Sie aktuell ausfüllen. Lassen Sie Ihre Gedanken fließen und schreiben Sie alles auf, was Ihnen einfällt. Schauen Sie dazu am besten mit verschiedenen Filtern auf Ihr Leben: Welche Rollen übernehmen Sie im Beruf? Welche in der Familie? Welche im privaten Freundes- und Bekanntenkreis? Welche in Politik und Gesellschaft? Ein Template dafür finden Sie auf www.das-anti-druck-buch.de

Heraus kommt eine mehr oder weniger lange Liste. Ich will Ihnen an einem Beispiel einer meiner Coachees zeigen, wie so eine Liste aussehen kann:

Stellen Sie sich nun jede Ihrer Rollen als Hut vor und setzen Sie alle Ihre Hüte gleichzeitig auf. Wie sieht das an Ihnen aus? Praktisch alle Menschen, die diese Übung machen, staunen darüber, wie viele Rollen sie in ihrem Leben übernehmen und wie viele Hüte sie oft zeitgleich tragen.

Ein Hut, der übrigens häufig bei der Aufzählung vergessen wird, ist der, den Stephen Covey in seinem Business-Klassiker Die 7 Wege zur Effektivität »die Säge schärfen« nennt. Was er damit meint, ist die Rolle Ihres eigenen Wachstums. Nennen Sie diesen Hut ruhig »Ich für mich«.

So hatte auch Michaela ihre Rolle der »Coachee« anfangs nicht mit auf ihrer Liste. Für andere zeigt sich der Ich-für-mich-Hut in der Rolle des »Seminarbesuchers« oder »Übender einer neuen Fertigkeit«.

Setzen Sie sie immer mit auf Ihre Liste, auch wenn Sie sie bis heute noch nicht bewusst als Ihren Hut gesehen haben. Denn es ist Ihre wichtigste Rolle überhaupt.

Was können Sie aus dieser Übersicht schließen? Ihr Druckgefühl wird greifbarer, weil Sie wissen, wie viele Rollen Sie einnehmen.

Professor Lothar Seiwert vertritt die Meinung, dass der Mensch nur sieben Rollen ausfüllen kann, ohne unter Dauerdruck zu stehen. Ich kenne zwar durchaus Menschen, die auch mit mehr Rollen gut zurechtkommen: Die haben einen besonders klaren Plan, damit sie es schaffen, mit den zahlreichen Anforderungen umzugehen.

Schritt 2: Struktur schaffen

Ihre Liste ist sehr lang und damit unübersichtlich? Prüfen Sie nun, inwieweit Sie einzelne Rollen zusammenfassen können. Dabei geht es nicht darum, ihre Anzahl künstlich zu reduzieren, sondern darum, sie zu gruppieren. Schauen Sie sich Ihre Rollenliste auf folgende Fragen hin an:

  • Zwischen welchen Rollen bestehen Verbindungen und/oder Abhängigkeiten? (Beispiel: Hausbesitzerin und Ehefrau, weil mein Mann das Haus wollte)
  • Wo greifen zwei Rollen auf die gleiche Zeitressource zu? (Beispiel Teamleiterin, Projektleiterin, vertretende Abteilungsleiterin, vertretende Fachreferentin: passiert alles während der Arbeitszeit)

Rollen, die auf diese Weise eng miteinander verwandt sind, fassen Sie zusammen und versehen sie mit einem für Sie passenden Überbegriff. Dabei kann es sein, dass der so gesetzte Überbegriff auch für weitere Rollen sinnvoll ist, diese für Sie jedoch so zentral sind, dass sie allein stehen bleiben. Das ist absolut in Ordnung. In jedem Fall bündeln Sie auf diese Weise Rollen, lassen aber nichts weg.

Die komprimierte Liste verschafft Ihnen bereits einen sortierteren Überblick über die Verpflichtungen, die Sie haben.

Was können Sie aus dieser Übersicht schließen? Durch diese Verdichtung decken Sie mögliche Konflikte und somit Druckquellen auf: Gibt es Rollen, die Sie gleichzeitig innehaben, die sich aber eigentlich gegenseitig ausschließen? Das können Rollen sein, die alle auf die gleiche limitierte Zeitressource zugreifen, zum Beispiel Ihre Zeit im Büro.

In Schritt drei beschäftigen wir uns nun mit der nächsten Spalte: der Priorisierung der Rollen.

Schritt 3: Priorisieren

Nehmen Sie sich nun Ihre gerade erstellte Liste vor und priorisieren Sie Ihre Rollen.

Vergeben Sie dabei nicht zweimal die gleiche Zahl, sondern bilden Sie eine klare Abfolge 1, 2, 3, 4, 5 etc. Ordnen Sie also jeder Rolle eine Zahl zu und schreiben Sie sie rechts daneben.

Was können Sie aus dieser Übersicht schließen? Sie wissen, welche Rolle Ihnen wie wichtig ist. In Zeiten, in denen Sie unter Druck stehen, können Sie entscheiden, Ihre niedrig priorisierten Rollen wenig bis gar nicht auszuleben oder wahrzunehmen. Solange Sie proaktiv kommunizieren, dass Sie in den nächsten drei Monaten keine Zeit für den Karnevalsverein oder den Frauen-Stammtisch haben, wird es Ihnen niemand übel nehmen.

Schritt 4: »Adoptierte« Aufgaben aufspüren

Jetzt sollten Sie Ihre Rollen kennen und einen Überblick darüber haben, von welchen Rollen sich Ihre tagtäglichen Aufgaben ableiten. Es gibt allerdings auch Aufgaben, die nicht Ihren eigentlichen, selbstgewählten Rollen zuzuordnen sind, sondern die sich nur in deren Dunstkreis auftun und die Sie trotzdem erledigen – aus welchen Gründen auch immer.

Nehmen Sie dazu für jede Ihrer bereits identifizierten Rollen ein Blatt Papier und unterteilen es in vier Spalten. Alternativ laden Sie sich das Template auf www.das-anti-druck-buch.de. herunter. Jetzt geht es darum, die Aufgaben aufzuspüren, die Sie übernehmen, obwohl sie nicht zu einer Ihrer Rollen gehören. Konzentrieren Sie sich fürs Erste nur auf die beruflichen Aufgaben.

Im privaten Umfeld sind die Rollenbeschreibungen wesentlich unschärfer. Deshalb lässt sich meist nicht genau zwischen Aufgabe und Nicht-Aufgabe unterscheiden. Verwenden Sie aus diesem Grund dafür ein angepasstes Raster, das nach den Kategorien Kraft-, Energie-, Spaß-Spender und persönliche Wichtigkeit unterscheidet.

Was können Sie aus dieser Übersicht schließen? Aus der Aufdeckung der Nicht-Aufgaben Ihrer jeweiligen Rolle und Ihrer Energiefresser ergeben sich viele Möglichkeiten zu Ihrer Entlastung von unnötigem Druck.

Schritt 5: Zeiten ermitteln

Gleich ist Ihr Überblick vollständig! Der letzte Schritt ist es, zu dokumentieren, wie viel Zeit Sie für Ihre jeweiligen Aufgaben aufwenden. Notieren Sie in der freigelassenen zweiten und vierten Spalte, die reale Zeit, die Sie monatlich für die jeweilige Aufgabe benötigen. Nehmen Sie dazu ruhig wieder Ihren Kalender und diesmal vielleicht auch einen Taschenrechner zur Hand.

Alles heißt wirklich alles – also auch die Dinge, die scheinbar belanglos sind. Das ist wie mit einem Fahrtenbuch im Dienstwagen: Sie sind gehalten, jeden Kilometer zu notieren, egal wohin Sie gefahren sind. Nur so bekommen Sie einen Überblick und können realistisch quantifizieren.

Sie können Ihre Zeiten in Ihrem Outlook-Kalender festhalten oder in einer persönlichen Kladde. Sie können auch eine Excel-Datei dazu anlegen, die Sie nach groben Aufgabenblöcken vorstrukturieren. Wichtig ist, dass Sie alles erfassen – auch die Pause, die Terminvereinbarung beim Arzt, die informelle Abstimmung mit dem Kollegen. Also alles, was Zeit benötigt.

Falls Sie jetzt auch dieses Fazit ziehen, ist das ganz normal. Typischerweise unterschätzen wir unseren eigenen zeitlichen Aufwand deutlich: eine klassische Druck-Falle.

So, nun haben Sie sich in vier Schritten erst einmal eine klare Sicht verschafft. Davon alleine löst sich jedoch der Druck nicht auf – das ist klar. Aber jetzt können Sie Stück für Stück anfangen aufzuräumen. Denn jetzt sehen Sie endlich, was diesen Druck verursacht.